Schweitzer Fachinformationen
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Städter waren in Vaters Augen eine Heimsuchung, eine Landplage, schlimmer als Rüsselkäfer und Waldbrände. «Dieses Volk» spazierte durchs Dorf wie durch einen Zoo, drang ungebeten in Ställe und Gärten, gaffte durch offenstehende Fenster und benutzte die Hochsitze als Liebesversteck. «Diese Leute» trampelten durch das Getreide und über die Wiesen, als seien es Landstraßen, rissen Pilze mit Stumpf und Stiel aus dem Boden, schlossen nie ein Koppeltor hinter sich und brachten es sogar fertig, auf einem Wildschweinwechsel zu zelten, worüber eine Bache mit Frischlingen so in Harnisch geriet, daß sie das Zelt niedertrampelte. Sie verstießen gegen jede gute Sitte, indem sie nur mit einer Badehose bekleidet ins Dorf kamen, und provozierten Mutter, die sich gern in vieles mischte, zu der Bemerkung: «Wir sind hier schließlich nicht im Busch.» Sie mäkelten an allem herum, was sie im Dorf einkauften - «Die Milch sieht ja ziemlich wässerig aus!» - «Sind die Eier auch wirklich frisch?» -, und gingen in trockenen Sommern reichlich sorglos mit Streichhölzern und Feuer im Wald um.
Trotz unserer ablehnenden Haltung waren sie von uns und dem Dorf begeistert. Dabei war es das mickrigste weit und breit. Es gab weder Wasserleitung noch elektrisches Licht, noch Telefon. Weder Kaufmann noch Gasthaus. Einmal wöchentlich kam der Krämer vom Nachbardorf mit Pferd und Wagen und hielt vor den aus Lehm zusammengepappten, mit Efeu verschnürten Fachwerkhäusern, die sich zwischen zwei Seen unter Linden und Kastanien duckten. Er brachte, was der Mensch so zum Leben braucht: Zucker und Salz, Fliegenfänger und Zwirn. Essig und Hefe. Holzpantinen und Mäusefallen. In regenreichen Wochen verwandelte sich die ungepflasterte Dorfstraße in einen trüben See, an dessen Rand man sich vorsichtig, an den Gartenzäunen Halt suchend, entlangtasten mußte, was in mondlosen Nächten, zumal mit Waldmeisterbowle oder Bockbier im Bauch, einige Schwierigkeiten machte. Die Postfrau kam nur, wenn das Wetter danach war, und statt durch das Läuten von Kirchenglocken wurden wir im Sommer von Frau Trägenapps melodischem Ruf: «Komm, Olle, komm!» geweckt, mit dem sie ihre drei Kühe zum Melken von der Koppel lockte, und im Winter vom Bersten des Eises, das wie Böllerschüsse krachte. Am Tage plagten uns die Bremsen, nachts die Mücken, und wer einmal mit den Hornissen im Baumstamm Bekanntschaft gemacht hatte, vermied es, unter Frau Trägenapps riesiger Kastanie im lauschigen Schatten zu sitzen.
Trotzdem nannten die Städter unser Dorf ein «reizendes Fleckchen Erde», ein «nettes kleines Anliegen», werteten unser Forsthaus zum «Herrenhaus» und Vaters Baumschule zum «Park» auf. Wenn sie Vater im Wald beim Aufforsten trafen, schenkten sie ihm eine Zigarre und sagten: «Schwere Arbeit, guter Mann. Wo wohnt denn hier der Graf?»
Vater tat alles, um sie sich vom Leibe zu halten. Er weigerte sich, den Weg ins Nachbardorf, der so voller Löcher war wie ein Karnickelbau voller Gänge, ausbessern zu lassen, und lächelte zufrieden, wenn er beim Kaffeetrinken auf der Veranda aus der Ferne das Aufheulen eines Motors hörte. «Schon wieder einer festgebuttert. Ja, ja, Stadt und Land Hand in Hand.»
Um so unverständlicher war es für die Familie, daß ausgerechnet er sich breitschlagen ließ, ein kleines Haus am Dorfeingang an einen Städter zu vermieten. Er war denn auch so entsetzt über seine Tat, daß er stöhnte: «Trudel, ich muß verrückt gewesen sein.»
Für Mutter war das jedoch eine hochinteressante Neuigkeit. «Was denn? Wer denn?» fragte sie aufgeregt.
«Ich glaube, der Mann ist Arzt», sagte Vater lahm, «so 'ne Art Professor.»
«Wie wundervoll!» rief Mutter. «Wenn jetzt einer von uns krank wird, haben wir sogar eine Kapazität in diesem -» Sie verschluckte das Wort Kaff noch rechtzeitig. Vater war da sehr empfindlich.
Die neuen Mieter kamen mit einem proppevollen Möbelwagen, der prompt im Sand steckenblieb. Es gab viel Geschrei und Aufregung, bis die Sachen unter Dach und Fach waren.
«Wir können gar nicht sagen, wie wir uns auf die Stille freuen und die Natur direkt vor der Haustür», dröhnte der Professor, ein schmächtiger Mann mit beginnender Glatze, aber der Stimme eines Aalverkäufers, und schwenkte den ausgestreckten Arm in einer Bewegung, die auch Frau Nirzwickis altes Gerümpel aus durchlöcherten Eimern, Kochtöpfen und zerbrochenen Tellern zwischen Disteln und Kletten einschloß. «Nur mit der Toilette, lieber Graf, da müßte man sich vielleicht etwas anderes einfallen lassen.»
«Natürlich», sagte Vater, «Sie bekommen ein Plumpsklo ins Haus.»
«Nun ja», sagte der Arzt leicht geniert, «wenn Sie es so nennen wollen.»
Eine Woche später meldete sich das Ehepaar zu einem Antrittsbesuch bei uns an. Silber und Lampen wurden geputzt, und eines der großen Tischtücher mit eingewebtem Wappen wurde aus dem Wäscheschrank geholt. Während Mutter mit Lore, unserem Hausmädchen, den Tisch auszog, entbrannte der übliche Kampf um Vaters Anzug zwischen ihr und Vater, der wie immer nur das Jackett wechseln wollte.
«Einfach unmöglich diese Hose!» rief Mutter. «Sie sieht ja mehr wie ein Kartoffelsack aus.»
«Aber man sieht bei Tisch von mir doch nur die obere Hälfte», verteidigte sich Vater.
«Man muß sich schämen, wie du herumläufst», sagte Mutter. «Im Dorf erzählt man sich schon, der Graf sei wohl pleite.»
«Wirklich?» fragte Vater interessiert. «Nur gut, dann pumpt mich wenigstens keiner an.»
«Aber auf mir bleibt es sitzen.» Mutter machte ein Gesicht voller Selbstmitleid. «Mir wird nachgesagt, ich lasse dich verkommen.»
«Nun beruhige dich mal», sagte Vater.
Er kam denn auch in einem ordentlichen Anzug zu Tisch, der allerdings noch von seinem Großvater stammte und völlig aus der Mode war. Die Frau des Arztes, Frau Stephanie, wie Vater sie in ihrer Abwesenheit nannte, trug eine mit blauen Blümchen bestickte weiße Batistbluse zu einem langen schwarzen Samtrock. Sie hatte das Schwirrend-Sirrende einer Libelle. Eben noch verharrte sie regungslos auf ihrem Stuhl, im nächsten Augenblick fuchtelte sie ungestüm mit den Armen herum, was Vater, der an Mutters ruhige Bewegungen gewöhnt war, furchtbar erschreckte. Auch hatte sie die Angewohnheit, so leise zu sprechen, daß man sich beim Zuhören anstrengen mußte, um alles mitzubekommen.
Während Lore Rehrücken und Sahnensoße servierte und die Kerzen vom Kronleuchter auf das Tischtuch kleckerten, weil ein Teil der Glasmanschetten zerbrochen war, schleppte sich die Unterhaltung so dahin. Man sprach von dem außergewöhnlich schönen Sommer, der leider außergewöhnlich viel Ungeziefer hervorbrachte, und lobte den zarten Rehrücken, der Mamsell außergewöhnlich gut geraten war. Frau Stephanie drehte den Kompotteller um und sagte: «Aha, Berliner Porzellan», nahm einen Silberlöffel genau in Augenschein und sagte: «Fadenmuster.» Zum Glück kam irgendwann das Gespräch auf Pferde, und damit war der Abend gerettet, denn der Professor entpuppte sich als passionierter Reiter, und mit Pferden kannten wir uns aus.
So unterhielten sich denn die Herren sehr ausführlich über Vollblüter, Halbblüter und Warmblüter, sprachen von Jagd- und Dressurpferden, von Pferderennen und Pferdewetten. Frau Stephanie und Mutter hörten zu, verstanden sich ohne Worte und lächelten sich an. «Männer», schienen ihre Blicke zu sagen.
Nachdem sich die Gäste endlich verabschiedet hatten, schloß Vater erleichtert hinter ihnen die Tür. «Ganz nette Leute soweit», sagte er und gähnte mit knackendem Kiefer. «Vor allem der Mann, der hat sogar mal sein Reitpferd operiert.»
«Mach keine Witze», sagte Mutter und leerte die Aschenbecher.
«Ehrenwort. Mit richtiger Narkose im Operationssaal.»
«Das ist ein Arzt!» sagte Mutter andachtsvoll.
«Muß mit seiner Klinik ein Vermögen verdienen», sagte Vater. «Aber bei dem einen Besuch wollen wir es auch belassen, denke ich. Könnte sonst schnell lästig werden, diese Menschen hier dauernd rumkrauchen zu haben.»
Mutter war da ganz anderer Meinung. Bald sprach sie nur noch von Professors, zitierte Professors und hielt sich mehr bei ihnen als bei uns auf. Sie schleppte ihnen die mit den Bildern von Tanten, Onkels, Großmüttern, Großvätern, Kusinen und Vettern gefüllten Familienalben ins Haus, und Frau Stephanie äußerte ihr Erstaunen über so viel Verwandtschaft. Sie selbst hatte nur einen Onkel aufzuweisen, und an den konnte sie sich auch nur noch recht vage erinnern. Von den Kindheitserinnerungen kam man allmählich auf vertraulichere Dinge zu sprechen. Frau Stephanie sagte zu Mutter, Kinder seien für sie das Höchste, und niemand solle denken, es liege an ihr, daß sie keine habe, und Mutter revanchierte sich mit tiefen Seufzern über Vaters Marotten. Während der Professor auf einer plüschigen braunen Stute, die bisher nur im Reitstall gegangen war und deshalb vor jedem Schatten erschrak, durch die Gegend sprengte und sie mit lautem «Ho! Ho!» zu beruhigen versuchte, wanderten die beiden Damen Arm in Arm durchs Dorf, gingen gemeinsam baden oder Pilze sammeln und fuhren sogar gelegentlich in Frau Stephanies zitronengelbem Adler nach Berlin. Vater fühlte sich vernachlässigt. «Möchte bloß wissen, was du an dieser Mücke findest», sagte er. «Die soll erst mal lernen, anständig den Mund aufzumachen. Das Gehauche kann ja keiner verstehen.»
«Nicht jeder ist so schwerhörig wie du», sagte Mutter.
«Ständig bist du auf Achse.» Vater war verärgert, daß Mutter ihn so viel allein ließ. «Um die Kinder kümmerst du dich überhaupt nicht mehr.»
«Das ist ja ganz was Neues», sagte Mutter. «Wer...
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