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Der einzige Lichtblick in dieser eierlosen Zeit war das Huhn Mathilde die Wilde, so genannt nach einer Figur aus Auerbachs Kinderkalender, einem frechen, vorlauten Kind, mit dem, wie wir fanden, Mathilde eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Zudem war sie ein wirklich außerordentliches Huhn, dem die Widrigkeit der Jahreszeiten fremd zu sein schien. So etwas wie Mauser kannte sie jedenfalls nicht, und die Misslichkeit, wie ihre Artgenossinnen halb nackt herumzulaufen, blieb ihr erspart. Sie verlor ihr schmuckes Federkleid nie und legte das ganze Jahr durch Eier. Allerdings dachte sie nicht daran, das dafür bestimmte Nest zu benutzen. Sie zog es vor, ihre eigenen wilden Wege zu gehen. Und die führten sie sonst wohin, egal, ob das frisch gelegte Ei bei 15 Grad unter Null einfror oder nicht.
Vater regte sich darüber am meisten auf, denn es ging um sein Frühstücksei, ein Privileg, das er sich einfach zugestand und auf das er pochte. Er ließ sich weder von gierigen noch vorwurfsvollen Blicken in seinem Genuss stören und gab uns nur gelegentlich einen winzigen Klecks Eigelb ab, das er mit seinem Eierlöffel auf unsere Brote strich. Für diese wirklich außerordentliche Großzügigkeit war es unsere Pflicht, Mathilde ständig im Auge zu behalten; der Ruf «Mathilde ist jetzt in der Scheune!» ließ uns sofort dorthin eilen, und die Suche nach dem Ei begann. Manchmal erwies es sich dabei als notwendig, einen schmalen Balken entlang zu balancieren, was mein Bruder mutig tat.
«Junge, sei vorsichtig!», rief Mutter, und Vater: «Pass auf, dass das Ei nicht kaputtgeht!«
Mathildes Eier waren an den unmöglichsten Stellen zu finden: in der Häckselmaschine, im geschlossenen Coupé, genannt der Affenkasten, in einer Krippe im Pferdestall. Eines Tages kam mein Onkel vom Nachbarort herüber, und wir gingen mit ihm über den Hof, als er seine kurzsichtigen Augen auf den Taubenschlag richtete. «Was ist denn das für 'ne Rasse? So 'ne merkwürdige Taube hab ich ja überhaupt noch nicht gesehen!«
«Glaub ich dir aufs Wort», sagte Vater. Denn was sich da zwischen die gurrenden Tauben gesellt hatte, war Mathilde, und als sie uns sah, gackerte sie impertinent.
Irgendwann kam sie dann von einem ihrer Ausflüge nicht mehr zurück. Niemand wusste, was mit ihr passiert war. Hatte sie der Fuchs geholt, oder war sie in den Kochtopf fahrenden Volkes geraten, das mit Beginn des Frühjahrs wieder durch die Lande zog? Im Gegensatz zu anderen Hühnern blieb sie uns in Erinnerung, und im Winter blickte Vater noch lange wehmütig auf seinen eierbecherlosen Teller.
Allmählich machte der Frühling sichtbare Fortschritte. Die Maulwürfe tummelten sich unter dem noch nicht wieder gewachsenen Rasen, Blesshühner und Enten zankten sich auf dem See um die besten Nistplätze, die Kiebitze zeigten ihre Flugkünste, und auf den vorher überschwemmten Wiesen standen nur noch einige Pfützen. Winzige Lebewesen durchpflügten das Wasser in den Regentonnen, der Kahn wurde neu geteert, die Reusen wurden instand gesetzt, und Vater sagte: «Der Frost ist raus, jetzt können wir mit Pflanzen anfangen.«
Auch das Geflügel begann sich auf seine Pflichten zu besinnen, wenn auch zunächst noch recht zaghaft. Und dann endlich gab es wieder die lange vermissten Köstlichkeiten: jede Art von Omeletts, salzig oder süß, Baisers mit Schlagsahne, Eierkuchen mit Apfelmus, Biskuitrolle, und wenn Mamsell guter Laune war, erlaubte sie uns Kindern Hoppelpoppel, ein mit Zucker kremig geschlagenes Ei. Enten- und Gänseeier durften nur gekocht verwendet werden. Man hielt sie roh für gefährlich, und zum Beweis dieses Glaubens erzählte Mamsell uns gern die Geschichte von einem Jungen namens Franz, der ein Entenei getrunken hatte. Er wurde ohnmächtig, und ein paar Tage später fielen ihm sämtliche Haare aus, die nie wieder nachwuchsen. Worauf mein Bruder mich nachdenklich ansah und meinte, er würde mich auch gern mal mit Glatze sehen.
Zu unserer Verwunderung waren viele der gelegten Eier sehr klein, manche nur noch taubeneigroß, was Mutter Rätsel aufgab, Vater weniger. Er betrachtete sich lange den überaus aktiven Zwerghahn, ein Witwer, dessen Hühnerschar abhanden gekommen war und der nun fleißig die Rodeländer Hennen bekurte, was sie sich gern gefallen ließen. Ihr eigentlicher Herr, ein farbenprächtiger, stattlicher Italiener, schien resigniert zu haben. Er kam seinen Pflichten nur noch selten nach und zog es nun vor, nach Regenwürmern und Käfern Ausschau zu halten.
«So geht das ja nun wirklich nicht», meinte Vater, und am Sonntag darauf gab es Hühnerfrikassee mit Reisrand, allerdings mehr Reisrand als Huhn. «Honni soit qui mal y pense», sagte Vater und fischte sich das größte Stück heraus.
Der Frühling zeigte sich nun von der freundlichsten Seite. Alles schien auf einmal aus dem Winterschlaf aufgewacht zu sein und blühte in allen Farben, Weidenkätzchen und Forsythien, Haselnuss, Veilchen, Anemonen, Narzissen und Tulpen. Die Stare kreisten einer schwarzen Wolke gleich über dem See und fielen in die große Pappel vor unserem Haus ein, wo sie uns morgens mit lautem Geklapper weckten.
Im ganzen Haus zog es wie Hechtsuppe, denn nun war der Hausputz dran. Überall roch es nach Spiritus, Bohnerwachs und Kernseife. Die Tüllgardinen wurden abgenommen und gewaschen, Teppiche und Polstermöbel geklopft und sämtliche Silbersachen mit einem Korken und Pariser Rot geputzt. Ein nur selten benutztes, weil sehr kostbares Porzellan wurde aus dem Esszimmer geholt und vorsichtig abgewaschen. Danach stellte Mutter alles eigenhändig wieder zurück und legte sorgfältig von uns Kindern als Weihnachtsgeschenk angefertigte, umsäumte Flanelldeckchen zwischen die Teller. Sie sollten das unersetzliche Porzellan gegen Erschütterungen durch vorbeifahrende Heuwagen schützen. Dabei kämpften die sich nur mühsam mit mahlenden Rädern durch den tiefen märkischen Sand, so dass sie selbst die kostbaren Gläser im Glasschrank nicht zum Klirren brachten. Die durften wir Kinder nie in die Hand nehmen, denn sie stammten von Kaisern und Königen und sonstigen bedeutenden Menschen und hatten unsere Familie durch Jahrhunderte begleitet. Gute fünfzehn Jahre später war ihr Ende dann weniger glanzvoll: Die Russen warfen sie nach jedem Trunk fröhlich hinter sich.
Auch unser Kinderzimmer blieb von der allgemeinen Reinigungswut nicht verschont. Wir wuschen Puppenkleider, schnitten dem flauschigen Teddybären die Haare im Gesicht kurz und säuberten das Aquarium, ein nicht leicht zu handhabendes Unternehmen, denn der Schlauch, mit dem man das Becken leerte, musste erst angesaugt werden, ehe das Wasser abfließen konnte. Wie immer gab es viel Gespucke und eine halbe Überschwemmung, während die in ein großes Weckglas evakuierten Fische uns glotzäugig zusahen. Dann reinigten meine Schwester und ich liebevoll unsere Nippesfiguren, all die wundervollen Scheußlichkeiten: mit Muscheln beklebte Schachteln, Zwerge aus Gips, Männchen machende Zelluloidhündchen, neckische Tänzerinnen und sich aufbäumende Pferde.
Wir waren nun wieder den halben Tag draußen, kletterten in der Lake auf die Bäume und kuckten in die Krähennester, ob schon Eier drin waren, spielten Versteck im Dunkeln oder «Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann» und warfen unermüdlich den Ball gegen das Scheunentor, um ihn nach genau vorgeschriebenen Regeln, mal mit der flachen Hand, mal mit gefalteten Händen, laut zählend zurückzuschlagen. War der Ball, bevor man die vorgeschriebene Zahl erreicht hatte, auf den Boden gefallen, musste man wieder von vorn beginnen. Wir taten es mit großem Ernst, wieder und immer wieder, bis wir fast in Trance verfielen. Danach liefen wir in den Schweinestall und aßen Kartoffeln aus dem Dämpfer, so dass wir zum Abendbrot nicht mehr den rechten Appetit mitbrachten, lustlos an einem Brot mit der von uns nicht sehr geliebten Blutwurst herumkauten und, wenn Vater nicht hinsah, die verbrannten Brotkanten verstohlen unter das Messer schoben.
Und dann, nach all dem Hin und Her mit den aufgerollten Teppichen, über die Vater unweigerlich stolperte, Mutters ständigen Ermahnungen, mal wieder frisches Wasser zum Wischen zu nehmen - «Mit einem Eimer Wasser wischt sie das ganze Haus, und was davon noch übrig bleibt, da kocht sie Kaffee draus», murmelten wir mit einem scheuen Seitenblick, um nicht zu riskieren, einen nassen Scheuerlappen um die Ohren zu bekommen -, nach interessanten Polkereien mit dem Taschenmesser in den breiten Dielenritzen, deren Ergebnisse, meist Liebesperlen oder Stecknadeln, sich dann aber doch als ziemlich wertlos erwiesen, verkündete Mamsell: «Nun ist die Küche dran!» Vaters Reaktion kam prompt, er müsse nach Berlin, er habe dort dringend zu tun. «Ich komme mit», sagte Mutter, was Vater nach einigem Zögern bewilligte. Mamsell war es nur recht, und wir Kinder wussten: In dieser Woche war mit vernünftigem Essen nicht zu rechnen, nur mit Zusammengekochtem und Suppen.
Die Eltern fuhren ab, und Mamsell stellte die Küche auf den Kopf. Die Stimmung im Haus war kriegerisch. Mein Bruder verzog sich mit dem Kahn auf den kleinen See, und ich lief zum Witzker See, an dessen Ufer damals noch ein Bootshaus stand, in dem unser Paddelboot untergebracht war. Ich setzte mich auf die Erde und lehnte den Rücken an die Wand des Bootshäuschens. Den Geruch von Schilf, Teer und Modder in der Nase, das Geschnatter der Wildenten, den Gesang der Lerchen und das Summen von Hummeln und Bienen, die durch die blühenden Weiden und Haselnusssträucher schwirrten, im Ohr und einen von Mamsells gekochten Sahnebonbons auf der Zunge, gab ich mich meinen Tagträumen hin, in denen mich alle Menschen zauberhaft fanden, ich schneller laufen konnte als jedes andere Kind und...
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