Schweitzer Fachinformationen
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«Buß' und Reu', Buß' und Reu' knirscht das Sündenherz entzwei.» Plötzlich habe ich Tante Agnes' kräftigen Alt wieder im Ohr. Er läßt die durcheinanderfließenden Bilder der Vergangenheit in meinem Kopf zum Stillstand kommen und nur eines davon deutlich werden. Ich sehe meine Tante in ihrer großen Gutsküche vor dem altersschwachen Herd stehen und voll verzweifelter Inbrunst diese Arie aus der Matthäuspassion singen, weil ihr mal wieder der Karpfen zu zerkochen droht. Ich sehe Onkel Peter terrierhaft in der Küche herumwuseln und schnauzen: «Fisch darf nur ziehen. Zie -hen! Lernt ihr das denn nie?«
«Aber ich hab ihn gerade erst ins Wasser gelegt», verteidigt sich Tante Agnes und versucht vorsichtig, den Fisch mit einer Schaumkelle aus dem Sud zu heben. Doch er zerfällt, kaum daß sie ihn berührt. Vielleicht wird es auch mir bald so ergehen wie in meiner Kindheit diesem Karpfen, und Buß' und Reu' kommen zu spät. Vielleicht. Der Tod schreckt mich nicht. Noch nicht. Er ist mir nah und doch unendlich fern.
Viele Wochen liege ich nun schon auf diesem zu kurzen Sofa, das man am Fußende mit einem Stuhl verlängert hat. Fieber und Schmerzen kommen und gehen wie die Erinnerungen. Die winzige Stube mit der niedrigen Decke dient uns jetzt nach der Flucht als Wohnzimmer. Es ist beruhigend, die Familie wieder um sich zu haben. Die ganze Mischpoke, wie Onkel Paul uns nennt. Die Eltern, die Schwester, die Onkel und Tanten. Ihnen zuzuhören, wie sie reden, von früher, die alten Geschichten. Ich hab sie lange entbehren müssen. Dazu ihre unbekümmerte Selbstsicherheit, die ihnen auch die schrecklichsten Erlebnisse nicht rauben konnten. Sie haben sich abgefunden und angepaßt und verbieten es sich, über Unabänderliches nachzudenken. Mein Bekenntnis, zu dem es mich immer häufiger drängt, wollen sie nicht hören. Die einzigen Zeugen haben längst ein passendes Bild von mir entworfen. Sollen sie sich nun selbst der Fälschung bezichtigen? Mein Versuch, über Viktors furchtbares Ende und darüber, was ich Flunki angetan habe, zu reden, stößt auf Unbehagen.
«Was sollen wir dazu sagen, Feli. Der arme Viktor ist ja nun tot. Und überhaupt, du hast getan, was du konntest.«
Es fällt uns nun mal schwer, über Dinge zu sprechen, die uns wirklich an die Nieren gehen. So ein Seelenmatsch könnte leicht zur Angewohnheit werden, ist die Familienmeinung. Immerhin sind sich alle in einem Punkt einig: Es war einfach zuviel für das Kind, wie sie mich trotz meiner vierzig Jahre immer noch nennen. Sie sitzen um mein Bett herum und bemühen sich, mich abzulenken.
Onkel Peter dröhnt zu mir herüber: «Tapferes Mädchen, eine echte Flottbach.«
«Meine Vorfahren», sagt Mama, die auf ihre Sippe nichts kommen läßt, «waren auch nicht von Pappe.«
Onkel Paul versucht mal wieder, mich mit einem seiner skurrilen Erlebnisse aufzuheitern. «Habe ich dir jemals die Sache mit dem Leoparden erzählt?«
Papa ist es anzusehen, daß er ihr Mitleid für leicht übertrieben hält. «Kindern» soll man nicht soviel Beachtung schenken. Er nickt mir aufmunternd zu. «Na, wenigstens bist du Glückskind ja noch heil aus dem Schlamassel herausgekommen.» Das findet Mama auch. Sie streicht fürsorglich über das schwere Oberbett. «Es wird schon werden. Was du vor allem brauchst, ist Ruhe.» Sie gehen aus dem Zimmer und überlassen mich meinen quälenden Gedanken.
Tante Käthe ist die einzige, die weiß, daß es Flunki war, der mich aus der gemächlich in ausgefahrenen Gleisen des Lebens dahinschaukelnden Familienkutsche schleuderte. Ein Sturz mit unabsehbaren Folgen. Und während die Familie ganz damit beschäftigt ist, nach der Flucht wieder Boden unter die Füße zu bekommen, bleibt mir reichlich Zeit, um darüber nachzudenken.
Heute ist ein warmer Junitag; die Sonne hat den kleinen, weißgekalkten Raum tüchtig aufgeheizt. Das Nachthemd klebt mir am Körper. Ich stoße das Oberbett zurück. Durch die Tür dringt Essensgeruch. Tante Agnes ist gerade dabei, das Abendbrot für uns zu richten: Kartoffeln, in Lebertran gebraten. Vergnügt summt sie einen Choral vor sich hin. Es riecht penetrant nach Fisch. Wie früher zu Hause, wenn der Teich zum Fischen abgelassen wurde. Bei diesem Ereignis bin ich Flunki zum erstenmal begegnet.
Ich war acht und fühlte zwischen meinen nackten Zehen den kalten Schlamm des Schloßteiches, während eine milde Oktobersonne mir den Rücken wärmte. Jedes zweite Jahr wurde der Teich zum Fischen abgelassen, und die Hofeleute zogen ein Schleppnetz voll zappelnder Karpfen durch das seichte Wasser zum Ufer, wo sich die halbe Gegend zum Zugucken versammelt hatte. Auch Onkel Peter mit seiner Familie und Onkel Paul, die beiden Brüder von Papa, waren zu diesem großen Ereignis von ihren nahe gelegenen Gütern herübergekommen und begutachteten nun kritisch die Beute.
«Bißchen mickrig, dieses Jahr.«
Der Teich erstreckte sich an der Rückfront des Schlosses weit in den Park und endete in einem Sumpfgebiet, während rechts und links des Ufers gepflegte Kieswege die Anlagen durchschnitten. In seiner Mitte befand sich eine kleine, schilfbewachsene Insel. Hier nisteten Enten, Wasserhühner und Rohrspatzen und sogar ein Schwanenpaar. Daher war es uns Kindern streng verboten, dort mit dem Kahn zu landen, so daß unsere Phantasie diese Insel mit unheimlichen, verzauberten Fabelwesen ausstattete, die sich im Winter, wenn der Teich zugefroren war, oder jetzt, wo man hinüberwaten konnte, enttäuschend als dürres Gestrüpp von Heckenrosen, Schilf und Holunderbüschen entpuppten.
Ich hatte mich von den Hofekindern entfernt und stapfte allein um die Insel herum auf der Jagd nach dem sagenhaften Karpfen Gerolin, der lang wie ein Mehltrog und schwer wie ein Ferkel sein sollte und so bemoost, daß man ihn leicht mit einem im Wasser liegenden, verfaulenden Baumstamm verwechseln konnte.
Der Südwind löste die Blätter von Bäumen und Büschen, die uns wie Zitronenfalter umflatterten und auf dem trüben Wasser schaukelten. Das auf einem Granitblock erbaute Schloß war bis unters Dach in Efeu gehüllt und sah wohlwollend aus seinen vielen Fenstern auf mich herab. Eines davon öffnete sich gerade. Die anklagende Stimme unserer Nana schallte zu mir herüber: «Feli, komm da raus! Du wirst dir den Tod holen in dem kalten Wasser!«
Ich trat auf etwas Glitschiges, das sich unter mir zu bewegen schien. «Hierher! Ich hab ihn», schrie ich und wäre fast ausgerutscht.
Ein fremder Junge, der plötzlich hinter mir stand, hielt mich fest. Ich war klein für mein Alter, und so sah er gönnerhaft auf mich herunter. «Nun mal nicht so stürmisch. Du ißt wohl noch mit dem Schieber.«
Verdutzt sah ich ihn an. Er mußte mit Onkel Peter und dessen Familie gekommen sein, die ich bisher noch nicht begrüßt hatte. «Wer bist du denn?» fragte ich. Mein Vetter Georg, Onkel Peters zweitältester Sohn, wie immer von seiner Wichtigkeit tief durchdrungen, kam mit seiner Schwester Irene quer durch den Teich gestapft.
«Warum schreist du denn so?«
«Ich habe Gerolin gesehen!«
«Quatsch mit Soße!«
Ich deutete auf den anderen Jungen: «Wer is'n das?«
«Na, Flunki, unser Vetter. Du weißt schon, der aus Berlin. Da gibt's 'ne Menge Häuser», setzte er etwas zusammenhanglos hinzu.
«Wie alt bist du eigentlich?» wollte Flunki von mir wissen.
«Acht!«
Er lachte. «Züchten deine Eltern Liliputaner?«
Neugierig musterte ich den Jungen, mit dem auch ich weitläufig verwandt war. Über Flunki, der eigentlich Heinrich hieß, kursierten in der Familie viele Geschichten. Er war der Schrecken jedes Kinderfräuleins und, wie Onkel Peter behauptete, ein rechter Satansbraten. Er gehörte zur Sippe der trutzigen Anna, ein beliebtes Gesprächsthema in der Verwandtschaft. Ein «Little Lord Fountleroy» war er gerade nicht. Das kräftige, dunkle Haar war ziemlich struppig, und für seinen mageren Körper wirkten die Füße zu groß und die Arme zu lang. Außerdem hatte seine Nase eine Delle. Angeblich war er als Baby von der Wickelkommode gefallen. Die Ohren sahen irgendwie merkwürdig aus, was wohl an ihrer unterschiedlichen Größe lag. Mit seinem durchlöcherten Filzhut im Genick glich er einer fröhlichen Vogelscheuche. Auch hatte er etwas Keckes, Verschmitztes, Unberechenbares an sich, das mich sofort für ihn einnahm. Er verdrehte seine blanken Dohlenaugen, so daß man nur noch das Weiße sah, berührte mich mit tastenden Händen und murmelte: «Blind, blind! O Gott, wo bin ich?» Ich lachte entzückt.
Georg gab ihm einen Schubs. «Laß die Faxen!«
«Schnauze, Knalli!» Flunki bückte sich und warf einen Klumpen Schlamm nach ihm, der Georg um Haaresbreite verfehlte, aber dafür Irene voll ins Gesicht traf. Ihr kreischendes «Ich sag's Mama!» ließ die Tauben zu Dutzenden aus den Platanen flattern und das Schloß umkreisen.
«Vite, vite!« Die französische Mademoiselle, von uns «die Made» genannt, stand auf der Schloßbrücke. Sie winkte uns heftig. «In zwanzig Minuten gibt's Vesper, und ihr seid noch nicht umgezogen.«
Wir wateten ans Ufer. Mit einem alten Kartoffelsack wischten wir uns den Schlamm von den Beinen, zogen Strümpfe und Schuhe an und rannten zur Brücke, wo sie uns erwartete. Vor dem Schloßportal blieb Flunki stehen, legte den Kopf zurück und las laut den dort angebrachten Spruch: «Des Hauses Ehr' ist Gastlichkeit.«
«Los, beeil dich! Rein mit dir in die gute Stube.» Georg, der Knaller, machte seinem Namen mal wieder Ehre. Er ließ hinter Flunki die schwere Eichentür krachend ins Schloß fallen, so daß seine Schwester ein zweites Mal aufkreischte.
Die Mademoiselle trieb uns vor sich her durch die Halle die Treppe hinauf....
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