Schweitzer Fachinformationen
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Es ist ein strahlender Junitag. Der Sommer '94 hat vielversprechend begonnen. Wir sitzen hinter Luzie Trägenapps Haus im Garten, von dem man einen weiten Blick über die angrenzende Wiese und über ein Stück vom Witzker See hat, und bewundern ihre Blumen. Rittersporn, Löwenmäulchen, Vergißmeinnicht und Levkojen. Luzie klagt über die Quecken mit ihren langen Wurzeln. Sie sind anscheinend sowenig auszurotten wie die Mücken, die meine Vorfahren hier schon vor sechshundert Jahren plagten, als die Bredows dem Teufel im Flug aus dem Sack purzelten und sich im Havelland verstreuten. Doch im Moment lassen sie uns in Ruh.
«Keine Mücken dieses Jahr? Ich weiß wirklich nicht, was ihr immer habt», sage ich.
«Da hättest du mal vor vier Wochen hier sein sollen», sagt Luzie. Nach anfänglichem Zögern sind '92 sie und ihr Mann Sigmund Mateke wieder von West-Berlin in das Heimatdorf Lochow zurückgekehrt. Auf dem Trägenappschen Grundstück hat sich das Ehepaar ein Häuschen gebaut. Es waren anstrengende Monate gewesen. «Erinnere mich nicht an diese Zeit», sagt Luzie. Die Großstadt vermißt sie nicht. Sie kann sich kaum noch vorstellen, daß sie es so lange in Berlin überhaupt ausgehalten hat.
«Kunststück», sage ich, «bei dieser Lage!»
Die hohen Bäume vom Nachbargrundstück, unserem ehemaligen Forstgarten, geben angenehmen Schatten. Gerade weht eine leichte Brise, so daß wir die selbstgebackenen Windbeutel und den Ausblick doppelt genießen. Leider ist ein Grasmäher dabei, der Wiesenblumenpracht den Garaus zu machen. Auch einige Rehkitze werden wohl, wie früher, in dem dichten Gras ihr Leben lassen müssen.
Außer meiner Schwester gehören zu Luzies Kaffeegästen auch ihre Schwägerin Genia Mateke, ihre Schwester Ilse und ihr Schwager Arno Mateke. Wir sind sozusagen der letzte Rest der «Eingeborenen», ein Häuflein klein, die meisten von uns inzwischen Rentner und von den üblichen Alterszipperlein geplagt. Trotz der Grenze waren wir immer in Verbindung geblieben, auch mit anderen alten Bekannten aus dieser Gegend, mal mehr, mal weniger, wie es die Lebensumstände gerade so mit sich brachten. Lochow, der früher so idyllische Ort mit seinen wenigen Häusern, hat sich im Laufe der Jahre in Richtung Luch gestreckt. Schöner ist er dadurch nicht geworden. Baracken am Ufer des kleinen Sees, ein ausgebrannter Wohnwagen, ein leerer, allmählich zusammenstürzender Kuhstall der LPG und dicht bei dicht Finnenhütten auf unserer ehemaligen Koppel hinter der Scheune.
Meine Schwester und Luzie haben begonnen, von den beschaulichen Zeiten unserer Kindheit zu reden, von den heißen Sommern, wenn uns der Sand fast die nackten Fußsohlen verbrannte, Frauen und Mädchen im Dorf nur Schlüpfer und eine Kittelschürze darüber trugen und meine Mutter auf dem Flügel das Lied vom Nöck spielte. «Komm wieder, Nöck, du singst so schön, wer singt, kann in den Himmel gehn.» Wir Kinder plärrten: «Anneliese Lohse macht sich in die Hose!» Und nach Feierabend ließ jemand am Witzker See sein Horn klagen: «Schön ist die Jugendzeit, sie kommt nicht mehr.» Das Frühjahr, das sich jedesmal Zeit ließ - «Mein Gott, dieses Jahr wird's ja wohl überhaupt nicht mehr Frühling!» -, und plötzlich, wie durch Zauberhand, waren die Wiesen voller Sumpfdotterblumen, tummelten sich die Kiebitze über der Wiese, wurde alles wieder grün, und die Waldmeisterbowle brachte uns in Schwung. «Waldeslust, Waldeslust, oh, wie einsam schlägt die Brust.» Die Männer von Luzie und Ilse, die Matekes und ihre Vettern und Kusinen hatten ähnliches erlebt. Auch sie sind auf dem Land groß geworden, erst in Wolhynien und dann im Warthegau, wohin sie nach dem Pakt zwischen Stalin und Hitler umgesiedelt worden waren.
Wir reden darüber, wie Luzies Mutter über den Gartenzaun in Richtung unserer Küche rief: «Erna, bei 'ne Weile Brot holen!» Bäcker Scheer aus Ferchesar kam mit Pferd und Wagen nur einmal in der Woche. Das Brot backte sich das Dorf selbst, im Backofen neben unserer Scheune. Den Backofen gibt es nicht mehr, und die Eiche mit den Hornissen vor Trägenapps Haus ist einem Sturm zum Opfer gefallen. Wir reden dies, wir reden das und verklären die Erinnerungen. Im Winter das Schlittschuhlaufen auf dem Witzker See und den überschwemmten Wiesen. Eine endlose Eisfläche dehnte sich und glitzerte im Mondlicht, während der kalte Ostwind uns ins Gesicht blies. Das Fischen mit Aalpuppen und Netzen, und dann der Schnee, der jedes Geräusch erstickte. An unsere Liese, die Kriegsveteranin aus dem Ersten Weltkrieg, können sich allerdings nur noch meine Schwester und ich erinnern. Vor eine Kette Rodelschlitten gespannt, stampfte sie in einem für einen Kaltblüter erstaunlichen Tempo die Waldwege entlang, angefeuert von Gerhard Karge, der auf dem letzten Schlitten die Trommel meines Bruders schlug, dafür allerdings auch in der Kurve die Balance verlor und umkippte. Gerhard Karge ist inzwischen gestorben, wie schon so viele aus meiner Generation. Dann sind wir beim Adventssingen in unserem Haus angelangt, wo man sich um den Flügel versammelte und die Transparente bewunderte, während meine Mutter Weihnachtslieder spielte.
Mir fällt mal wieder Schauriges ein. «Weißt du noch», sage ich zu meiner Schwester, «der Uhrmacher in den zwanziger Jahren? Der reizende alte Herr, der gütige Onkel, von den Kindern geliebt?»
«Keinen Schimmer», sagt meine Schwester abwehrend. Sie ahnt, was kommt, und sieht ihre Kindheit gern als eine heile Welt.
«Das weißt du nicht mehr?» frage ich ungläubig. «Er hat den Bauern die Uhren repariert und so ganz nebenbei mehrere Kinder umgebracht. Auf unseren Streifzügen im Wald haben wir uns mit dieser Geschichte gegenseitig gegruselt.»
«Typisch», sagt meine Schwester. «An so was erinnerst nur du dich. Paß auf, du kleckerst.»
Irritiert sehe ich auf das Tischtuch. «Wo denn?» Ich schiebe den Teller beiseite. Tatsächlich, ein Obstfleck.
«Macht doch nichts», sagt Luzie.
«Du warst schon immer eine Kleckerliese», sagt meine Schwester. Sie ist fast fünfundsiebzig und ich fast zweiundsiebzig, aber die geschwisterlichen Reibereien funktionieren immer noch.
«Noch jemand Kaffee?» fragt Luzie und, vorwurfsvoll: «Ihr eßt ja gar nichts. Greift doch zu!» Das Aufheulen eines Motors läßt uns zusammenzucken. Ein BMW-Fahrer mit Berliner Kennzeichen verwechselt offensichtlich den Plattenweg mit der Autobahn und gerät prompt ins Schleudern. Fast landet er in Luzies Gartenzaun. Entrüstet drehen wir uns nach ihm um. Es ist immer dasselbe mit den Städtern. Und schon fällt mir wieder ein: «Schlimmer als Rüsselkäfer und Waldbrände zusammen!» Alles wie gehabt. Auch das Elternhaus, das uns nun wieder gehört. Nikolai Kolbatsch, der Onkel von Sigmund und Arno Mateke, hat es uns zurückgegeben. Er stammte aus der Ukraine und war mit seiner Familie seit '40 bei uns. Nach der Enteignung war ihm als Siedler das Grundstück zugeteilt worden. Doch von Anfang an hatte er es nie als sein Eigentum betrachtet und auch bis zu seinem Tode keinen Hehl daraus gemacht, daß er es uns wieder überlassen würde.
«Stimmt», sagt Sigmund, Luzies Mann. «Er hat immer gesagt: Und er hat sein Versprechen gehalten.»
«Zuletzt hat er auch nicht mehr leben wollen», sagt Luzie. «Seitdem Tante Olga gestorben war, hat er sich ganz in sein Haus verkrochen. Nicht mal mehr den Garten hat er zum Schluß bestellt. Und den Hund hat er auch weggegeben.»
«Glaubst du, daß er sich nach seinem Hof in der Ukraine gesehnt hat?» frage ich.
«Zu Anfang vielleicht nicht, aber zum Schluß, glaub ich, schon.» Wir schweigen. Eine Gedenkminute für Nikolai Kolbatsch. Auch der Grasmäher schweigt. Bleierne Hitze liegt jetzt über dem Land. Für kurze Zeit herrscht Stille. Es ist die Stunde der Roggenmuhme, vor der man uns Kindern angst machte, damit wir nicht durchs Getreide liefen und alles zertrampelten. Nikolai müssen unsere spärlichen Erträge ärmlich vorgekommen sein gegen das, was er auf seinem Hof in der Ukraine geerntet hatte, der Kornkammer Rußlands, wie es hieß.
«Der Onkel Kolla war so ein Mensch», sagt Arno Mateke, Luzies Schwager, und beginnt in seiner bedächtigen Weise, den Onkel zu beschreiben, da bringt ihn ein voll aufgedrehtes Autoradio zum Verstummen, das «Katzenklo, Katzenklo macht jede Katze frisch und froh» oder so ähnlich plärrt, so daß Arnos Promenadenmischung, die heute mal nicht ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgeht, die Schwalben auf den Telefondrähten anzubellen, kläffend aus dem Hof hinter dem Auto herwetzt.
«, so was Hirnrissiges», lache ich. Aber dann fällt mir ein, daß die Schlager in meiner Kindheit auch nicht viel geistreicher waren: «Es war einmal ein Teddybär, der blies Trompete und noch mehr. Und war man zu ihm grob und barsch, dann blies er den Radetzkymarsch. Oh, Mona!»
«Dreihundert Autos haben wir an einem Wochenende gezählt», sagt Sigmund, «das kann ja noch heiter werden.» Und meine Schwester fügt hinzu: «Gott erhalte uns den Plattenweg.»
«Auf dem man nicht mal radeln kann», ergänze ich bedauernd.
«Da hättest du mal hier sein sollen, als die Russen das Luch noch als Übungsgelände für ihre Panzer benutzten», sagt Ilse Mateke und fügt ohne Übergang hinzu: «Am 24. April '45 seid ihr weggemacht. Ich weiß es noch wie heute. Vier Tage nach Adolfs Geburtstag. Dein Vater ist noch zu meiner Mutter gekommen und hat gesagt: Aber Mutter wollte nicht. Sie konnte sich nicht von uns...
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