Schweitzer Fachinformationen
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Die Autorin wollte sich im Dunkeln anschleichen, doch ihr Pferd hat sie im Nu entdeckt: »Was tust du hier«, scheint Carinjo zu fragen.
3.10 Uhr: Es ist stockdunkel, als ich mein Fahrrad vor der Stalltür abstelle.Leise, leise, er soll mich ja nicht hören. Kein Mensch weit und breit, der Parkplatz ist wie leer gefegt. Schemenhaft zeichnen sich ein paar dunkle Pferdekörper im Sand des Paddocks ab. Als ich meinen Korb auf der Bank vor dem Zaun abstelle, heben sich zwei Köpfe. Die Herde bleibt ruhig, ich scheine keine Bedrohung darzustellen. Aus der Strohhalle ertönt ein tiefes gleichmäßiges Atmen und Prusten. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann ein paar der Pferde erkennen. Unser Schimmel ist nicht zu sehen. Ich lasse mich auf der Bank nieder und schenke mir etwas Tee ein. Das Experiment kann beginnen.
Eine Nacht bei »ihm«. Das hatte ich schon ganz lange vor. Wollte schauen, was da vor sich geht, in seinem großen WG-Schlafzimmer mit den 29 Mitbewohnern. Wer liegt bei wem? Wer schlafwandelt herum? Kann man Pferden ansehen, wenn sie träumen? Vermutlich musste erst diese verrückte Pandemie kommen, bis sich die Idee etwas weniger verrückt angefühlt hat. Vieles hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert, auch mein Leben ist nicht mehr so, wie es einmal war. Umso beruhigender, dass wenigstens bei den Pferden alles beim Alten geblieben ist. Ihre Welt scheint in Ordnung. Sie machen sich keine Sorgen, fordern nichts, sie wollen einfach nur sein. Fressen, schlafen, aufeinander achtgeben - Pferde leben konsequent im Hier und Jetzt. Wir können viel von ihnen lernen.
3.25 Uhr: Ich bin enttarnt! Aus dem Nichts ist unser Schimmel aufgetaucht und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Wie kann es sein, dass er mich so schnell bemerkt hat? Ich bin mir sicher, dass ich kein Geräusch von mir gegeben, mich kaum bewegt habe. Seine Ohren sind kerzengerade aufgerichtet, erwartungsvoll beginnt er mit dem Vorderhuf zu scharren. »Was tust du hier?«, scheint er zu fragen. »Ist das ein neues Spiel?« Ich reagiere nicht. Er scharrt stärker und läuft am Zaun vor mir auf und ab. »Wie, du hast mir nichts Leckeres mitgebracht?« Kopfschütteln, leises Brummeln. Es ist ganz offensichtlich sehr irritierend für ihn, dass ich mich ganz anders verhalte als sonst.
Begrüßung über den Paddockzaun hinweg. Normalerweise folgt Carinjos Zusammensein mit seinem Frauchen festen Abläufen.
Aber genau das wollte ich: unserem Pferd einmal anders begegnen. Ihn besser kennenlernen, mehr über ihn erfahren. Dazu schien diese besondere Zeit, in der wir in vielerlei Hinsicht auf uns selbst und unsere engsten Lebenskreise zurückgeworfen wurden, prädestiniert. Sechs Jahre ist Carinjo jetzt bei uns, ein Holsteiner Wallach aus einer kleinen Familienzucht in Schleswig-Holstein. Man kann sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Der damals Fünfjährige hat uns reichlich Nerven gekostet, aber jeder Moment, jede Herausforderung, auch jeder Rückschlag war die Zeit mit ihm wert. Selbst die härteste Prüfung, die ich mit ihm bestehen musste, hat uns rückblickend enger zusammengeschweißt: Nach einem Sturz im Wald brach ich mir einen Rückenwirbel und landete mitten in den ersten Corona-Lockdown hinein im Krankenhaus. Es gibt dazu keine besonders spektakuläre Geschichte zu erzählen, Carinjo ist einfach unglücklich über einen Baumstamm gestolpert. Ich war kurz abgelenkt und schon hatte er mich aus dem Sattel katapultiert.
Eine unglückliche Landung auf dem Hinterteil, so was ist beim Reiten leider schnell passiert. Zum Glück ist er weder mit mir durchgegangen noch hat er mich mutwillig runtergebockt. Das ist wichtig zu erwähnen, denn gebrochene Knochen lassen sich in den meisten Fällen wieder richten, ein einmal erschüttertes Vertrauen zwischen Mensch und Pferd heilt nur schwer. Nach zwei Operationen wird mein Rückgrat jetzt von einem Titangerüst gestützt, der lädierte Wirbelkörper ist durch ein zusätzliches High-Tech-Implantat verstärkt worden. »Damit haben Sie die stabilste und verlässlichste Variante«, hatte mein behandelnder Chirurg gesagt, »falls Sie vorhaben sollten, wieder in den Sattel zu steigen.« Was für eine Frage!
4.00 Uhr: Die Heuraufen öffnen sich und bis auf zwei Tiefschläfer, die in der Strohhalle liegen geblieben sind, trotten alle Pferde zur ersten Mahlzeit des Tages. Alle, außer Carinjo. Er hält Wache bei mir. Reckt den Kopf über den Zaun, macht sich groß und beäugt mich von allen Seiten. Es ist offensichtlich, dass ihn mein Nichtstun ratlos macht. Normalerweise folgt unser Beisammensein im Stall festen Abläufen: Ich betrete mit Halfter in der Hand das Paddock, rufe ihn, sein Kopf schießt empor. In freudiger Erwartung seiner Begrüßungsbanane beginnt er mit dem Vorderhuf zu scharren. Dann lässt er sich für einen Moment den Schopf von mir kraulen und trottet bereitwillig hinter mir her. Kurze Pinkelpause in der Strohhalle, noch ein Belohnungsleckerli, dann beginnen wir unsere Putz- und Kraul-Prozedur. Mähne, Schweif, sämtliche Lieblingsstriegel, zum Schluss noch ein paar Streck- und Dehnübungen. Pferde lieben Rituale. Pferdemenschen auch.
Langschläfertreffen in der Strohhalle: Hier lebt Carinjo mit seiner gemischt-geschlechtlichen Herde in einer modernen Aktivstallhaltung.
Eine der größten Aufgaben ist wohl, sein Pferd Pferd sein zu lassen. Anthropomorphismus, das Vermenschlichen tierischer Gedanken ist gerade unter Reitern weit verbreitet. Ich schließe mich da explizit ein. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, dass ich Dinge dachte wie: »Heute wirkt er so übellaunig. Wahrscheinlich hat er schlecht geschlafen. Da ärgere ihn mal lieber nicht mit Dressur, sonst rächt er sich morgen beim Unterricht.« Richtig ist: Pferde haben Gefühle. Mehr noch, sie sind ausgesprochen gefühlsbetonte Geschöpfe. Das ist sicher einer der Gründe, warum gerade Frauen sich so von ihnen angezogen fühlen. Falsch hingegen ist die Annahme, dass Pferde Pläne schmieden, sich strategisch verhalten oder Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, reflektieren. Pferde sind vor allem Instinktwesen. Viele ihrer Verhaltensweisen haben wir konditioniert. Aber sie denken und fühlen anders als wir. Das Faszinierende ist, dass sich hier zwei Spezies treffen, die von Natur aus nicht dieselbe Sprache sprechen und doch den wunderbaren Wunsch nach einem innigen Kontakt entwickeln. Die Zuneigung von Pferden ist ein großes Geschenk an uns. Wenn wir uns konsequent und zuverlässig verhalten, schenken sie uns ihr Vertrauen. Deshalb ist richtig verstandene Pferdeliebe eine Lebenseinstellung. Sie besagt, dass es möglich ist, sich auch etwas vollkommen Andersartigem tief verbunden zu fühlen.
4.40 Uhr: Conrad, der Chef der Herde, nähert sich. Offenbar fragt auch er sich, was hier bei uns nicht stimmt. Normalerweise genügt eine Bewegung des Leittieres und alle anderen Pferde weichen, auch Carinjo. Aber heute bleibt unser Schimmel stehen. Als Conrad sich mit angelegten Ohren nähert, schießt Carinjo mit lautem Quieken auf ihn zu, hebt drohend den Vorderhuf und zeigt ihm die Zähne. Conrad ist sichtlich überrascht, wendet ab und stellt sich etwas abseits zu einer Gruppe Stuten. Wow! Unser Pferd hat mich gerade gegen seinen Vorgesetzten verteidigt. Sich gegen den Anführer aufzulehnen kommt einer Palastrevolution gleich. Das ist in meinem Beisein bisher noch nie vorgekommen.
Es gibt viele kleine Momente mit Pferden und manchmal ein paar ganz große. Für mich war dies einer der eindrücklichsten. Bis dahin war ich nie restlos davon überzeugt, ob mich unser Pferd eigentlich erkennt. Also so richtig, als »seinen« Menschen. Wie viele Pferdebesitzer fragte auch ich mich: Wer oder was bin ich für ihn? Futtergeber, Fellkrauler, menschliche Führmaschine? Fest steht, dass er ohne meine Tochter Mia und mich, unsere ständigen Pläne, unseren Ehrgeiz und unsere Forderungen an ihn als Sportpferd ein deutlich entspannteres Leben hätte. Und doch spielen wir offenbar eine wichtige Rolle in seinem Leben. Ob sich Pferde untereinander etwas über uns Menschen erzählen?
5.03 Uhr: Carinjo scheint sich allmählich mit der ungewohnten Situation zu arrangieren. Nach einem letzten prüfenden Blick in Richtung Conrad wendet er ab, dreht eine kleine Runde durch den Futterautomaten und kommt zu mir zurück. Er senkt seinen Kopf, kaut, leckt sich über die Lippen und atmet tief aus. Ein paar Sekunden verharrt er bewegungslos, dann schließen sich seine Augenlider. Mehrere Minuten vergehen, ich bleibe ganz still. Dann wendet er plötzlich ab, trottet gen Heuraufe und vertreibt ein rangniedrigeres Pferd mit einer einzigen Schweifbewegung. Als die Raufenzeit vorüber ist, beginnen die Pferde zu trinken und zu spielen. Einige stehen sich Schulter an Schulter gegenüber und betreiben Fellpflege, indem sie sich gegenseitig mit den Zähnen den Mähnenansatz massieren. Herdenchef Conrad führt ein größeres Grüppchen zurück in die Strohhalle, wo einige Stuten sich zu einem Nickerchen niederlassen. Es schläft sich gut, wenn der Boss einen bewacht.
Ich merke, wie auch ich müde werde, mich entspanne und tiefer atme. Es ist so friedlich hier bei den Pferden. In ihrer Gegenwart nimmt man sich selbst, ja das gesamte Menschsein, irgendwie anders wahr. Die Sonne geht auf, es wird warm werden an diesem Augusttag. Erntezeit. Unser Hof ist von Feldern umgeben, man kann das gemähte Gras riechen. Die Pferdewelt ist wie eine Insel, weit weg...
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