2. KAPITEL
Einen Monat vor dem Tod eines Mannes an der Alpspitze
Freitag, 14. Juli
Jana stieg über einen mit Latschen bewachsenen Kamm empor. Links von ihr baute sich das Massiv der Zugspitze mit dem Jubiläumsgrat auf, rechts spitzte der Kofel aus bewaldeten Hängen, und der Talboden tief unter ihr war rötlich-braun angehaucht - das Moos zwischen Ettal und Oberammergau.
Was das wohl für eine Geburtstags-Überraschung war, die Bruno ihr mit geheimnisvoller Miene angekündigt hatte? Wie er bei ihr Neugier und Vorfreude geweckt hatte, war raffiniert. Offenbar kannte er sie besser, als sie es ihm zugetraut hätte.
Es war elf Uhr vormittags, bisher war Jana keinem Menschen begegnet. Eine Brise wehte ihr das Haar aus dem Gesicht und kühlte ihre verschwitzte Stirn. Sie war teilweise gejoggt, auf der Strecke vom Ochsensitz zum Notkargipfel gab es einige etwas flachere Passagen. Seit sie nicht mehr Tag für Tag im Büro hocken musste, war sie richtig fit geworden.
Der eigene Boss zu sein, war ein herrliches Gefühl. Dass sie nun nach Lust und Laune zu Hause am Computer arbeiten konnte, ohne sich um ihr Einkommen sorgen zu müssen, war Brunos Verdienst. Er hatte ihr ein Atelier eingerichtet, wie sie es sich schon seit Langem erträumt hatte. Und er hatte ihr sein Paradies gezeigt, das Klettern draußen in der Natur. Vorher hatte sie mit viel Spaß in der Halle gebouldert, aber eine große Wand zu durchsteigen war etwas ganz anderes - ein großartiges Abenteuer. Tiefblicke in wilde Schluchten, über dem Abgrund tanzen, die plötzliche Weite in der Brust, wenn sie den Gipfel erreicht hatte .
Bruno hatte ihr geduldig das Sichern und das Legen von Klemmkeilen erklärt und ihr das Abseilen beigebracht. Immer hatte er die Gebirgs-Anfängerin beschützt - wenn auch vielleicht etwas zu sehr. Und wie viel sie in ihrem ersten gemeinsamen Bergsommer erlebt hatten! Die Urgewalt eines Gewitters an der Fiameskante . Blitze schlugen links und rechts von ihnen ein, Donner hallte von den Wänden wider. Sie hockten vor Kälte und Angst schlotternd auf einem Felskopf. Bruno gab ihr seine wasserdichte Jacke und drückte sie fest an sich . Hinterher hatten sie in einer blühenden Almwiese gelegen und einander geliebt.
Was für ein Kontrast zu ihrer Zeit im Ruhrpott und in Berlin! Und doch . Sie hätte das Zusammenleben mit Bruno eine Weile erproben sollen. Jemanden ein Jahr lang zu kennen und dann gleich zu heiraten war ein Fehler.
Viel Gefühl, spontane Entschlüsse - so war sie eben. Nun musste sie irgendwie damit zurechtkommen, dass ihr Ehemann nicht so war, wie sie es sich in der ersten Verliebtheit vorgestellt hatte.
Vor ihr tauchte ein grasbewachsener Buckel mit einem Gipfelkreuz auf, das mit einem Sonnensymbol geschmückt war. Aber was war das denn? An seinem Fuß leuchtete ein roter Fleck. Hatte jemand seine Jacke oder eine Tüte liegenlassen? Sie marschierte mit langen Schritten darauf zu.
Nein, das war kein vergessenes Kleidungsstück, sondern rote Blumen, wahrscheinlich aus Plastik. Manche Leute glaubten eben, man müsse Marterl, Kreuze und sonstige religiöse Stätten mit kitschigem Zeug aufhübschen.
Ein paar Schritte noch. Nicht zu fassen - echte Rosen! Ein prächtiger Strauß, professionell gebunden und ganz frisch.
Sie bückte sich zu ihm hinunter. An einem Bändchen hing eine Karte mit der Ziffer "30" in verschnörkeltem Golddruck, und daneben stand: "Herzlichen Glückwunsch!" Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Brunos Überraschung! Wie schön! Sie drehte die Karte um. Auf der Rückseite war kein Text, aber das war auch nicht nötig. Es gab sicher keine andere Frau auf der Notkarspitze, die heute dreißig Jahre alt wurde.
Sie hob die Blumen auf und presste sie an die Brust. In ihre Nase stieg süßer Duft. Sie sog ihn tief ein. Wie wunderbar romantisch. Einen so ungewöhnlichen Einfall hätte sie ihrem eher praktisch denkenden Ehemann nie zugetraut.
Sie hatte mitbekommen, dass er sehr früh aufgestanden war. Für ihn war das nicht ungewöhnlich, manchmal fuhr er schon um halb sieben in sein Geschäft in der Innenstadt. Aber diesmal hatte er es ihr zuliebe getan. Vermutlich hatte er den schnelleren Auf- und Abstieg über die Ettaler Mühle genommen, deshalb hatte sie sein Auto nicht gesehen und war ihm nicht begegnet.
Voller Freude hüpfte sie den Pfad Richtung Ettaler Mühle hinunter.
***
Jana eilte auf die mit Fresken in zarten Farben bemalte Fassade des "Asam-Schlössl" zu, des Gasthofs, in dem sie vor einem Vierteljahr ihre Hochzeit mit Bruno gefeiert hatte. Heute würden es nicht ganz so viele Gäste sein, und auch ihre Mutter hatte abgesagt - mit der Erklärung, sie hätte gerade wieder eine depressive Phase und keine Energie, so weit zu fahren.
Die Krankheit hatte sie zum ersten Mal gepackt, als Janas Vater durch einen Verkehrsunfall gestorben war. Und sie lastete schwer auf der verwinkelten, düsteren Wohnung, in der Jana mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Vanessa gelebt hatte. Die Tür hinter sich zuzuschlagen und auf die Straße hinauszugehen, war eine Erlösung gewesen. Statt sich daheim hinzusetzen und Hausaufgaben zu erledigen, hatte Jana sich mit einer Gruppe Jungs herumgetrieben und Fabrikgebäude und Brücken mit Graffiti besprayt.
Trotzdem war sie eine passable Schülerin gewesen. Dank der Unmengen Bücher, die sie verschlang, alles querbeet, Fantasyromane, Wissenschaftslektüre für Normalverbraucher, Krimis, Historienschinken. Die Lust am Lesen hatte sie von ihrem Vater, einem schrägen Vogel, der neben seiner Arbeit als Dachdecker Gedichte verfasst hatte, die niemand außer ihm selbst verstand.
Vorbei. Nun gehörte Jana zur Schicht der wohlhabenden Bürger, die in eleganten Lokalen feierten.
Blöderweise hatte sie keine Zeit gehabt, sich für ihren Ehrentag zu schminken. Sie hatte es gerade noch geschafft, das rote Kleid mit den Spaghettiträgern und die farblich dazu passenden Schuhe anzuziehen - ein neuer Kunde hatte darauf bestanden, dass sie ihm heute noch einen Vorschlag für die Gestaltung seiner Website zukommen ließ.
Zum Glück hatte Bruno die gesamte Organisation ihres Geburtstagsfests übernommen. Der Empfang fand auf der Terrasse statt, unter großen weißen Sonnenschirmen mit Blick in einen kleinen Park.
Jana entdeckte ihren Ehemann in einem Knäuel von Leuten; er grinste von einem Ohr zum anderen. Die dunkelbraunen Haare hatte er frisch gegelt, sodass sie keck hochstanden, und der neue Lodenjanker betonte seine breiten Schultern. Mit seinem kräftigen Kinn und der gebräunten Haut hätte er in einen Werbespot für Outdoor-Mode gepasst.
Er hob sein Glas, sie konnte nicht verstehen, was er sagte, die Menge brach in schallendes Gelächter aus. Jana schlängelte sich an verschiedenen Grüppchen vorbei, grüßte nach rechts und links, ihre Freundin Melanie mit männlichem Anhängsel, ein paar Mitglieder ihrer Alpenvereinssektion, Geschäftsfreunde von Bruno. Jetzt erblickte er sie. Er breitete die Arme aus. "Jana - endlich. Wir haben nur noch auf dich gewartet!"
Sie trat auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. "Das war eine tolle Überraschung, Bruno! Vielen, vielen Dank!"
Sie lösten sich voneinander. "Jana, wieso hast du -" Er brach ab, denn nun tauchte eine Kellnerin im rot-blauen Dirndl auf und fragte: "Dürfen wir jetzt den Sekt servieren?"
"Ja bitte, wir wollen gleich auf unser Geburtstagskind anstoßen."
Es wurde ein gelungenes Fest. Schade, dass Jana Brunos Schwestern so wenig mochte. Stimmen süß wie Marshmallows, ein Getue, als spielten sie in einer amerikanischen Komödie mit, und ständig Bruno hier, Bruno da, so als gäbe es keine anderen interessanten Menschen bei dieser Feier.
Sie hatte kaum Zeit, mit ihrem Mann zu reden, Freunde hatten Gedichte und Vorführungen vorbereitet, sie musste Geschenke auspacken. Am meisten freute sie sich über einen Anhänger mit einer winzigen, fein gearbeiteten Eidechse. Ihre Schwester Vanessa war wirklich eine hervorragende Goldschmiedin.
Zwischen Grießnockerlsuppe und Entenbrust mit Sesam-Honigkruste gelang es Jana endlich, ein paar Worte mit Bruno zu wechseln. Mit einem Augenzwinkern sagte sie zu ihm: "Es war wunderbar auf der Notkarspitze. Ab jetzt ist das mein Lieblingsgipfel!"
Tom, der Geschäftsführer von Brunos Möbelhaus, plumpste auf den Stuhl neben ihm. "Na da haste aber ne tolle Location gefunden, Bruno!"
"Klar doch. Fresken von 1730, Spätbarock. War mal ein echtes Schloss."
Das stimmte nicht ganz, es handelte sich nur um das ehemalige Wohnhaus des Malers und Bildhauers Cosmas Damian Asam, der zwar reich, aber kein adliger Schlossbesitzer gewesen war. Nun ja, solche Übertreibungen waren halt typisch Bruno.
"Und deine Jana sieht aus wie eine...