Kapitel 1
Jim Qwilleran, dessen Name zwei Jahrzehnte lang Setzer und Lektoren zur Verzweiflung getrieben hatte, kam fünfzehn Minuten zu früh zu seinem Termin mit dem Chefredakteur des Daily Fluxion.
Im Vorzimmer nahm er ein Exemplar der Morgenausgabe zur Hand und studierte die Titelseite. Er las die Wettervorhersage (ungewöhnlich warm für die Jahreszeit), die Auflagenhöhe (472.463) und den hochtrabend in Latein gedruckten Slogan des Verlags (Fiat Flux).
Er las die Titelgeschichte über einen Mordprozeß und eine zweite groß aufgemachte Story über den Gouverneurs-Wahlkampf, in der er zwei Druckfehler entdeckte. Er erfuhr, daß dem Kunstmuseum der Zuschuß von einer Million Dollar gestrichen worden war, übersprang jedoch die Einzelheiten. Einen weiteren Beitrag über ein Kätzchen, das sich in einem Abflußrohr verfangen hatte, ließ er ebenfalls aus. Sonst las er jedoch alles:
Rowdy nach Schießerei mit Polizei geschnappt. Stripper-Fehde in der Altstadt. Steuerverhandlungen: Demokraten sauer - Aktien steigen.
Hinter einer verglasten Tür konnte Qwilleran vertraute Laute hören - Schreibmaschinen klapperten, Fernschreiber ratterten, Telefone schrillten. Bei diesen Geräuschen sträubte sich sein buschiger, graumelierter Schnurrbart, und er strich ihn mit den Fingerknöcheln glatt. Er sehnte sich danach, einen Blick auf das geschäftige Treiben und das Durcheinander zu werfen, das in einer Lokalredaktion vor Redaktionsschluß herrscht, und ging zur Tür, um durch das Glas zu spähen.
Der Lärm war authentisch; der Anblick hingegen - wie er feststellen mußte - ganz und gar nicht. Die Jalousien hingen gerade. Die Schreibtische waren sauber aufgeräumt und nicht zerkratzt. Zerknülltes Papier und zerfetzte Zeitungen lagen nicht auf dem Fußboden, sondern ordentlich in Papierkörben aus Draht. Als er so dastand und bestürzt auf diese Szene blickte, drang ein fremdartiger Laut an sein Ohr, der überhaupt nicht zu den Hintergrundgeräuschen einer typischen Lokalredaktion, wie er sie kannte, paßte. Und dann entdeckte er einen Laufburschen, der gelbe Bleistifte in eine kleine, dröhnende Apparatur einspeiste. Qwilleran starrte das Ding an. Ein elektrischer Bleistiftspitzer! Nie hätte er gedacht, daß es so weit kommen würde. Jetzt merkte er erst, wie lange er fern vom Schuß gewesen war.
Ein anderer Laufbursche in Tennisschuhen kam mit schnellen Schritten aus der Lokalredaktion und sagte: »Mr. Qwilleran? Sie können jetzt hereinkommen.«
Qwilleran folgte ihm in das kleine Glasbüro, wo er von einem jungen Chefredakteur mit einem aufrichtigen Händedruck und einem aufrichtigen Lächeln erwartet wurde. »Sie sind also Jim Qwilleran! Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Qwilleran fragte sich, wieviel - und wie schlimm das gewesen sein mochte. In seinem Bewerbungsschreiben an den Daily Fluxion nahm sich der Verlauf seiner Karriere etwas fragwürdig aus: Sportreporter, Polizeireporter, Kriegsberichterstatter, Gewinner des Verlegerpreises, Autor eines Buches über Großstadtkriminalität. Danach eine Reihe von Jobs bei immer kleineren Zeitungen, immer nur für kurze Zeit, gefolgt von einer langen Periode, in der er arbeitslos gewesen war - oder Jobs gehabt hatte, die es sich nicht lohnte anzuführen.
Der Chefredakteur sagte: »Ich erinnere mich an Ihre Berichterstattung über den Prozeß, für die Sie den Verlegerpreis bekamen. Ich war damals ein junger, unerfahrener Reporter und ein großer Bewunderer von Ihnen.«
Am Alter und dem geschulten Benehmen des Mannes erkannte Qwilleran in ihm den neuen Typ des Chefredakteurs - einen Vertreter der präzisen, perfekt geschulten Generation, für die eine Zeitung eher eine Wissenschaft ist als eine heilige Sache. Qwilleran hatte immer für den anderen Typ gearbeitet - die altmodischen, ungehobelten Kreuzzügler.
Der Chefredakteur sagte: »Mit Ihrem Hintergrund sind Sie vielleicht von der Stelle, die wir anzubieten haben, enttäuscht. Wir haben nur einen Schreibtisch in der Feuilletonabteilung für Sie, aber wir würden uns freuen, wenn Sie die Stelle annehmen, bis sich in der Lokalredaktion etwas findet.«
»Und bis ich bewiesen habe, daß ich die Arbeit nicht hinschmeiße?« sagte Qwilleran und sah dem Mann in die Augen. Er hatte einiges an Erniedrigung hinter sich; jetzt kam es darauf an, den richtigen Ton - eine Mischung aus Demut und Selbstvertrauen - anzuschlagen.
»Das versteht sich von selbst. Wie läuft es denn?«
»So weit, so gut. Das Wichtigste ist, wieder bei einer Zeitung unterzukommen. In einigen Städten habe ich meinen Vertrauensvorschuß überstrapaziert, bevor ich endlich kapitulierte. Deshalb wollte ich auch hierherkommen. Eine fremde Stadt - eine dynamische Zeitung - eine neue Herausforderung. Ich glaube, ich kann es schaffen.«
»Aber sicher!« sagte der Chefredakteur und machte ein resolutes Gesicht. »Also, wir haben uns folgendes für Sie vorgestellt: Wir brauchen einen Kulturredakteur.«
»Einen Kulturredakteur!« Qwilleran zuckte zurück und verfaßte im Geist eine Schlagzeile: Gnadenbrot für abgetakelten Journalisten.
»Kennen Sie sich mit Kunst aus?«
Qwilleran war ehrlich. Er sagte: »Ich kann die Venus von Milo nicht von der Freiheitsstatue unterscheiden.«
»Dann sind Sie genau der richtige Mann für uns! Je weniger Sie wissen, umso unbefangener ist Ihre Meinung. Wir haben gerade einen Kunstboom in dieser Stadt, und wir müssen mehr darüber bringen. Unser Kunstkritiker schreibt zweimal die Woche eine Kolumne, aber wir brauchen einen erfahrenen Journalisten, der sich nach Storys über die Künstler selbst umschaut. An Material mangelt es nicht. Heutzutage gibt es, wie Sie wissen, mehr Künstler als Hunde und Katzen.«
Qwilleran strich sich mit den Knöcheln über den Schnurrbart.
Der Chefredakteur fuhr zuversichtlich fort: »Sie sind dem Feuilletonredakteur unterstellt, können sich aber aussuchen, worüber Sie schreiben wollen. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie in Ihrem Bereich herumkommen, viele Künstler kennenlernen, ein paar Hände schütteln und der Zeitung Freunde bringen.«
Qwilleran verfaßte lautlos eine weitere Schlagzeile: Abstieg eines Journalisten zum Händeschüttler. Aber er brauchte den Job. Die Not kämpfte mit dem Gewissen. »Nun«, sagte er, »ich weiß nicht.«
»Es ist ein nettes, sauberes Ressort, und Sie werden zur Abwechslung mal ein paar anständige Menschen kennenlernen. Von Verbrechern und Schwindlern haben Sie vermutlich schon die Nase voll.«
Qwillerans zuckender Schnurrbart brachte zum Ausdruck >Wer zum Teufel will schon ein nettes, sauberes Ressort<, doch sein Besitzer schaffte es, diplomatisch zu schweigen.
Der Chefredakteur sah auf die Uhr und stand auf. »Gehen Sie doch einfach hinauf und besprechen Sie alles mit Arch Riker. Er kann .«
»Arch Riker! Was macht der denn hier?«
»Er ist der Leiter der Feuilletonredaktion. Kennen Sie ihn?«
»Wir haben in Chicago zusammengearbeitet - vor Jahren.«
»Gut! Von ihm erfahren Sie alle Einzelheiten. Und ich hoffe, Sie entschließen sich, beim Flux mitzuarbeiten.« Der Chefredakteur hielt ihm die Hand hin und schenkte ihm ein maßvolles Lächeln.
Qwilleran spazierte wieder durch die Lokalredaktion hinaus - vorbei an den Reihen weißer Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln, vorbei an den Köpfen, die völlig versunken über Schreibmaschinen gebeugt waren, vorbei an der unvermeidlichen Reporterin. Sie war die einzige, die ihm einen neugierigen Blick zuwarf, und er richtete sich zu seiner vollen Länge von einem Meter achtundachtzig auf, zog die überflüssigen zehn Pfund ein, die an seiner Gürtelschnalle zerrten, und glättete mit der Hand sein Haar. Wie sein Schnurrbart hatte auch sein Kopfhaar noch drei Viertel schwarze und nur ein Viertel graue Haare aufzuweisen.
Im ersten Stock fand er Arch Riker, der über einen ganzen Saal voll Schreibtische, Schreibmaschinen und Telefone herrschte - alles im selben Erbsengrün.
»Ziemlich ausgefallen, was?« sagte Arch entschuldigend. »Sie nennen das ein augenberuhigendes Olivgrün. Heutzutage muß ein jeder gehätschelt werden. Ich persönlich finde, es sieht eher gallegrün aus.« Die Feuilletonredaktion war eine kleine Ausgabe der Lokalredaktion - ohne die Atmosphäre der Dringlichkeit. Heitere Gelassenheit erfüllte den Raum wie Nebel. Jeder hier wirkte zehn Jahre älter als die Leute in der Lokalredaktion, und Arch selbst war beleibter und kahler als früher.
»Jim, es ist toll, dich wiederzusehen«, sagte er. »Schreibst du dich noch immer mit dem lächerlichen W?«
»Es ist eine ehrbare schottische Schreibweise«, hielt ihm Qwilleran entgegen.
»Und wie ich sehe, hast du auch diesen struppigen Schnurrbart nicht abgelegt.«
»Er ist mein einziges Andenken an den Krieg.« Die Knöchel strichen ihn liebevoll glatt.
»Wie geht's deiner Frau, Jim?«
»Du meinst, meiner Ex-Frau?«
»Oh, das wußte ich nicht. Tut mir leid.«
»Lassen wir das . Was ist das für ein Job, den ihr für mich habt?«
»Ein Kinderspiel. Du kannst einen Sonntagsbeitrag für uns schreiben, wenn du gleich heute anfangen willst.«
»Ich habe noch nicht gesagt, daß ich den Job nehme.«
»Du wirst ihn nehmen«, sagte Arch. »Er ist genau das richtige für dich.«
»In Anbetracht des Rufes, den ich in letzter Zeit habe, meinst du?«
»Willst du jetzt empfindlich sein? Hör auf damit. Laß das Selbstzerfleischen.«
Qwilleran zog gedankenverloren einen Scheitel durch seinen Schnurrbart. »Ich nehme an, ich könnte es versuchen. Soll ich einen Probeartikel...