Kapitel 2
Als sich Jim Qwilleran am Montagabend zum Essen umzog, spürte er sein Alter. Zum ersten Mal in seinem Leben brauchte er jetzt eine Lesebrille; sein Schnurrbart und sein volles Haar waren schon grau meliert; und auch sein Bauchumfang erinnerte ihn daran, daß er sechsundvierzig war. Doch noch bevor der Abend um war, fühlte er sich wieder jung.
Er nahm ein Taxi zum Haus von Robert Maus in der River Road. Es lag weit draußen, und sie kamen an einem ausgedehnten Einkaufszentrum vorbei, an Joe Pikes Fischrestaurant mit dem riesigen Parkplatz, einer Rollschuhbahn und einem Holzlagerplatz. Zwischen einem Jachthafen und einem Tennisklub ragte ein monströser Steinhaufen auf. Qwilleran kannte ihn vom Sehen; er hatte ihn immer für die Versammlungsstätte irgendeines exzentrischen Kults gehalten. Das Gebäude war von der Hauptstraße zurückgesetzt; unnahbar und geheimnisvoll erhob es sich hinter einem eisernen Zaun und einem Hektar vernachlässigten Rasen. Es sah aus wie ein ägyptischer Tempel, der auf dem Transport beschädigt und ungeschickt repariert worden war.
Die Säulen an dem massiven Eingangstor waren möglicherweise am Nil ausgegraben worden, doch wies das Haus daneben architektonische Absurditäten auf, die so paßten wie die Faust aufs Auge: georgianische Schornsteine, große Fabrikfenster im ersten Stock, eine angebaute Garage auf der einen Seite und ein offener Autoeinstellplatz auf der anderen Seite, dazu zahllose Feuerleitern, Fensterbrüstungen und Dachsimse an allen möglichen und unmöglichen Stellen.
Qwilleran betätigte einen Türklopfer, der mit einem dröhnenden metallischen Laut gegen die Tür schlug. Dann wartete er gottergeben und mit knurrendem Magen, bis sich das schwere Tor knarrend öffnete.
Während der nächsten halben Stunde verstand er gar nichts mehr. Ein schlanker junger Mann mit einem frechen Blick und lächerlich langen, gelockten Koteletten begrüßte Qwilleran. Obwohl er die weiße Jacke eines Hausangestellten trug, hielt er in einer Hand ein halbvolles Champagnerglas und in der anderen eine Zigarette und grinste wie eine zufriedene Katze.
»Willkommen im Maus Haus«, sagte er. »Sie müssen der Typ von der Zeitung sein.«
Qwilleran trat in den düsteren, höhlenartigen Vorraum.
»Micky Maus ist in der Küche«, sagte der Mann, der die Gäste offiziell begrüßte. »Ich bin William.« Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, um ihm die rechte Hand geben zu können.
Qwilleran schüttelte dem freundlichen Hausdiener oder Butler, oder was immer er war, die Hand. »Nur William?«
»William Vitello.«
Der Journalist warf einen scharfen Blick auf das alterslose, koboldhafte Gesicht und sagte: »Vitello? Ich hätte schwören können, Sie sind irischer Abstammung.«
»Irische Mutter, italienischer Vater. Meine Familie ist ein richtiger Eintopf«, erklärte William, von einem Ohr zum anderen grinsend. »Kommen Sie herein. Die anderen sind alle im großen Saal und lassen sich vollaufen. Ich mache Sie mit ihnen bekannt.«
Er führte ihn in einen riesigen Saal, der in so dunklen Farben gehalten war, daß ihn Dutzende Lampen und Kerzen in schweren Ständern und Kerzenhaltern nur schwach zu erhellen vermochten, doch Qwilleran konnte eine Empore erkennen, die von ägyptischen Säulen getragen und eine breite Treppe, die von Sphinxen bewacht wurde. Boden und Wände waren mit schokoladebraunen Keramikfliesen bedeckt, und die Stimmen wurden von den glatten Oberflächen schauerlich verzerrt zurückgeworfen.
»Es ist gespenstisch hier, wenn ich das sagen darf«, meinte Qwilleran.
»Dabei kennen Sie bei weitem noch nicht alles«, teilte ihm William mit. »Es ist wirklich zum Abgewöhnen.«
In der Saalmitte, unter der hohen Decke, war ein langer Tisch für das Abendessen gedeckt, doch die Gäste tranken ihre Cocktails unter der Empore, wo es zumindest etwas gemütlicher war.
»Champagner oder Sherry?« fragte ihn William. »Der Sherry hat's in sich, ich muß Sie warnen.«
»Keinen Drink, danke«, sagte Qwilleran und griff nach Tabak und Pfeife. Er hoffte, das Rauchen würde seinen nagenden Hunger etwas dämpfen.
»Das ist nur ein kleines Essen heute abend. Die meisten Leute wohnen hier. Wollen Sie ein paar Mädels kennenlernen?« William deutete mit einer Kopfbewegung auf zwei Brünette.
»Sie wohnen hier? Was für ein Etablissement führt Maus hier eigentlich?«
Der Hausdiener wieherte vor Begeisterung. »Wußten Sie das nicht? Das hier ist eine Art verrückte Pension. Früher war es mal ein richtiges Kunstzentrum - auf dem Balkon waren die Studios und im hinteren Teil des Gebäudes eine große Töpferwerkstatt - aber das war vor Micky Maus' Zeit. Ich selbst bin ein Sozialfall. Ich besuche die Kunstschule und bekomme hier Kost und Logis gegen diverse harte, niedrige Dienste.«
»Rasenmähen gehört wohl nicht dazu«, meinte Qwilleran mit einer Kopfbewegung auf das wild wuchernde Gras vor dem Haus.
Wieder prustete William vor Lachen und schlug dem Reporter auf den Rücken. »Kommen Sie, ich stelle Ihnen Hixie und Rosemary vor. Aber nehmen Sie sich vor Hixie in acht - sie hält nach einem Ehemann Ausschau.«
Die beiden Frauen standen bei einer Anrichte, auf der sich Tabletts mit Hors d'ouvres befanden. Rosemary Whiting war eine gutaussehende, ruhige Frau unbestimmten Alters. Hixie Rice war jünger, molliger, lauter und hatte längere Wimpern.
Hixie war vollauf mit Champagnertrinken und Häppchenessen beschäftigt; dabei plapperte sie ununterbrochen mit hoher, monotoner Stimme: »Ich bin total verrückt nach Schokolade! Schokoladenpralinen, Schokoladenplätzchen, Schokoladenkuchen, Schokoladentörtchen - alles was mit Schokolade und drei Tassen Zucker und einem Pfund Butter gemacht wird.« Sie hielt inne, um eine Auster im Speckmantel in den Mund zu stecken.
Man sah es ihr an, fand Qwilleran. Ihre Figur quoll über, wo immer ihr enganliegendes orangefarbenes Kleid das zuließ, und ihr Haar bauschte sich wie ein Schokoladensoufflé über ihrem pausbäckigen Gesicht mit den Babygrübchen.
»Kaviar?« meinte Rosemary und hielt Qwilleran einen Teller hin.
Er holte tief Luft und lehnte entschlossen ab.
»Er enthält viel Vitamin D«, fügte sie hinzu.
»Nein, danke.«
»Micky Maus«, sagte William gerade, »hat eine Macke, was Butter anlangt. Ich habe nur ein einziges Mal erlebt, daß er die Beherrschung verlor, und das war, als bei einem Brunch nur noch drei Pfund Butter da waren. Er geriet richtiggehend in Panik.«
»Leider sind tierische Fette.« begann Rosemary mit sanfter Stimme, doch Hixie unterbrach sie.
»Ich esse viel, weil ich frustriert bin, aber ich bin lieber fett und fröhlich als dünn und griesgrämig. Sie müssen zugeben, daß ich ein angenehmes Wesen habe.« Sie klimperte mit den Wimpern und langte nach einem weiteren Cocktailhäppchen. »Was gibt es heute zu essen, Willie?«
»Nicht viel. Nur Brunnenkresse-Creme-Suppe, Muscheln in Aspik, überbackene gefüllte Hühnerbrüstchen, geschmorten Chicorée - ich hasse Chicorée -, gebratene Curry-Tomaten, römischen Salat und Crêpes Suzette.«
»Nur ein Häppchen, wie Charlotte sagen würde«, bemerkte Hixie.
William sagte erklärend zu Qwilleran: »Charlotte ißt niemals eine Mahlzeit. Stets nur >ein Häppchen<, wie sie es nennt. Das dort drüben, das ist Charlotte - das alte Mädel mit den weißen Haaren und den drei Kilo Schmuck.«
Die Frau mit Haaren, die aussahen wie gesponnener Zucker, unterhielt sich lebhaft mit zwei wohlbeleibten Männern, die sichtlich mehr aus Höflichkeit als aus Interesse zuhörten. Qwilleran erkannte sie: Es waren die Penniman-Brüder, Mitglieder der städtischen Kunstkommission. Mit Penniman-Geld war der Morning Rampage gegründet worden, Penniman-Geld hatte die Kunstschule und die städtischen Parks finanziert.
Ein weiterer Mann, der ihm irgendwie bekannt vorkam, ging nervös im großen Saal herum. Er hatte ein gutaussehendes, schwermütiges Gesicht, das sich jedesmal, wenn eine Frau in seine Richtung sah, zu einem strahlenden Lächeln erhellte. Das auffallendste an ihm war sein kahlgeschorener Schädel.
Qwilleran beobachtete die anderen Gäste und entdeckte eine attraktive Rothaarige in einem olivgrünen Hosenanzug. einen jungen Mann mit einem Spitzbart . und dann sah er sie. Einen Moment vergaß er regelrecht zu atmen.
Unmöglich! sagte er sich. Und doch war diese winzige Gestalt unverkennbar, dieses schwere kastanienbraune Haar, dieses provokante schiefe Lächeln.
Und in diesem Augenblick drehte sie sich in seine Richtung und starrte ihn ungläubig an. Er spürte ein Kribbeln auf seiner Oberlippe und tupfte sich auf den Schnurrbart. Sie kam über den Fliesenboden auf ihn zu - sie glitt, genau wie früher, ihr Kleid flatterte, wie früher, und ihre melodische Stimme rief: »Jim Qwilleran! Bist du es wirklich?«
»Joy! Joy Wheatley!«
»Ich kann es nicht fassen!« Sie starrte ihn an und flog dann in seine Arme.
»Laß dich ansehen, Joy. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
»O doch.«
»Wie viele Jahre ist das jetzt her?«
»Bitte, rechne nicht nach. Dein Schnurrbart gefällt mir, Jim, und du bist kräftiger als früher.«
»Du meinst dicker. Du bist sehr nett. Du warst immer nett.«
Sie machte sich los. »Nicht immer. Ich schäme mich für mein Verhalten.«
Er sah sie aus der Nähe an und fühlte, wie es ihm den Hals zuschnürte. »Ich habe nie gedacht, daß ich dich noch einmal Wiedersehen würde, Joy. Was tust du hier?«
»Wir wohnen seit Januar hier. Mein Mann und ich betreiben die Töpferei im hinteren Teil des...