Schweitzer Fachinformationen
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Berlin 2023
Berlin, ein Morgen im Frühjahr 2023. Draußen ist es kühl und grau, drinnen im Café dampfen die heißen Getränke in bunten Tassen. Aus der Ferne weht der Sound der Metropole herüber, aufgeregtes Hupen und manchmal Martinshörner. Die Nachrichten sind wieder voll von der Letzten Generation. Von ihren Protesten, von den Sitzblockaden, vom Festkleben - aber mehr noch vom Zorn der Bürger über diese Taten. Die Reaktion scheint inzwischen größer als die Aktion. Da sagt die Freundin, die ich zum Kaffee treffe, über ihr Smartphone hinweg: »Mein Opa hat schon vor fünfzig Jahren für die Umwelt demonstriert.«
Simone, die ich schon ein halbes Leben kenne, erzählt mir von ihrem Großvater Ernst aus dem Südwesten Deutschlands. Heute würde man ihn einen Aktivisten nennen. Damals kämpfte er mit Zehntausenden in seiner Heimat am Kaiserstuhl gegen die Zerstörung der Natur und den Bau eines Atomkraftwerks. Sie warfen alles in die Waagschale, was sie hatten: ihre Energie und Leidenschaft, ihren Sinn für Recht und Ordnung, ihre Furchtlosigkeit und die Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Simones Opa schrieb seinerzeit sogar Lieder, mit denen er die Demonstranten unterstützte - und die zur Folklore des Protests gehörten, so wie Plakate, Banner und gereimte Slogans, die auf Kundgebungen skandiert wurden. Auf einmal steht in diesem Café in der Hauptstadt die Frage im Raum: Sag mal, wenn wir heute dauernd von der Letzten Generation hören - gab es eigentlich auch eine »Erste Generation«, mit der die Proteste um Umwelt und Natur begannen?
Dieses Buch ist die Suche nach der Antwort. Simones Eltern - der Sohn und die Schwiegertochter des inzwischen verstorbenen Ernst Schillinger - waren die ersten Gesprächspartner bei der Recherche. Ihnen folgten Dutzende weitere: Erzieherinnen und Bäcker, Elektriker und Hausfrauen, Krankenpfleger und Diplom-Ingenieurinnen. Aus Dörfern und Städten, aus allen Himmelsrichtungen, inklusive dem Osten des einst geteilten Deutschlands. Eine grüne Revolution aus der Mitte der Gesellschaft, getragen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl den klischeebehafteten Labeln »Chaoten« und »Störer« entzogen. Die sich erstmals in ihrem Leben gegen den Staat stellten. Die Verantwortung übernahmen. Die häufig ihre Freizeit und manchmal sogar ihren Ruf opferten. Beschimpft von den Gegnern in Politik, Wirtschaft, Industrie und einigen Medien als »Radikale« und »Spinner«. Auf den Straßen des Heimatortes nicht einmal mehr gegrüßt von denen, die auf der anderen Seite standen.
Die Recherchereisen zu den Umwelt- und Naturschützerinnen führten zumeist in die deutsche Provinz. Es gibt Gemeinden, deren Vorwahl länger als die Telefonnummer ist. In ihren Wohnzimmern und Küchen und Arbeitszimmern haben sich die Aktivisten viel Zeit genommen, um ihre persönliche Geschichte und Geschichten zu erzählen. Erlebnisse, die sich zu geteilten Erfahrungen verdichteten. Gerne bei starkem Kaffee und Apfelkuchen.
50 dieser mehrstündigen Interviews habe ich im ganzen Land geführt. Und so hört man in diesem Buch vornehmlich den Originalton derer, die dabei waren. Ihre Biografien, Beweggründe und Konflikte sind der Öko-Treibstoff, der diese Erzählung voranbringt. Packendes und Persönliches bilden die höchst subjektiven Auswahlkriterien für die Hauptfiguren dieser Popgeschichte - im Gegensatz zu einer historisch-akademischen Darstellung der bundesdeutschen Umweltbewegung in Gänze, von der abgesehen wurde.
Etliche dieser Natur- und Umweltschützer entstammen (in Westdeutschland) der Generation der sogenannten »Boomer«, also den zwischen 1946 und 1965 geborenen Nachkriegsdeutschen. Ihnen wird häufig vorgeworfen, den Aktivisten der Gegenwart, die ihre Enkel sein könnten, eine Krise riesigen Ausmaßes hinterlassen zu haben. Der Autor Tillmann Prüfer hat die Anklage im Zeit Magazin pointiert so beschrieben: »Sie hätten, so der Vorwurf, in Saus und Braus gelebt, hemmungslos Ressourcen verbraucht und massenhaft Kohlendioxid fabriziert.«
Womöglich ist diese Generation eine verkannte: Denn aus ihrer Mitte kamen die Frauen und Männer, die im Kampf für die Umwelt seinerzeit Demokratie und Partizipation, Transparenz und das Recht einforderten, Widerstand gegen das drohende Unheil zu leisten. Und die am Ende vielleicht auf der richtigen Seite der Geschichte standen - ohne dass ihnen jemals dafür ein Dankeschön zuteilwurde. Sie bilden die Erste Generation, wie sie in diesem Buch durchgängig und ohne Anführungszeichen genannt wird.
Der Startpunkt der Bewegung liegt Anfang der siebziger Jahre. Ein paar Schnappschüsse aus jener Zeit: Das europäische Naturschutzjahr wird ausgerichtet, der erste »Earth Day« gefeiert, Greenpeace gegründet, der Spiegel packt das Thema »Vergiftete Umwelt« auf das Cover, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kritisiert Horst Stern bildgewaltig Wald- und Naturschäden, in Stockholm findet die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen statt, der Bericht des Club of Rome erscheint mit dem warnenden Titel Grenzen des Wachstums, und die »Gruppe Ökologie« präsentiert ihr einflussreiches Ökologisches Manifest. Überall in der Bundesrepublik engagieren sich Menschen in Bürgerinitiativen - mal gegen den Autobahnausbau, mal für saubere Luft, mal gegen ein Kraftwerk -, bis es 1972 so viele werden, dass eine Dachorganisation mit einem sehr deutschen Namen gegründet wird: Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz, kurz: BBU.
Der Begriff »Umwelt« existiert zu dieser Zeit in der heute geläufigen Bedeutung erst ein paar Jahre. Erfunden haben ihn nicht Naturfreunde, sondern ein Bürokrat namens Peter Menke-Glückert in der Hauptstadt Bonn. Nach dem US-Vorbild des environment schlägt der Mann im November 1969 dem neuen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) die deutschsprachige Bezeichnung vor - als Sammelbegriff für die im Hause gebündelten »grünen« Kompetenzen. Einen Bundesumweltminister gibt es seinerzeit nicht, das Amt wird erst 1986 in Reaktion auf die nukleare Katastrophe von Tschernobyl geschaffen.
Übrigens: Die DDR hob bereits 1972 ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft aus der Taufe. Knapp zwei Jahrzehnte später, nach den für die Öko-Bewegung prägenden Dekaden der Siebziger und Achtziger, endet mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 der Erzählzeitraum dieses Buches.
Die Frauen und Männer der Ersten Generation waren selbstverständlich nicht die allerersten, die sich auf deutschem Boden für die Natur einsetzten. Aber sie gingen in die Geschichte als Pioniere ein, die sich nicht scheuten, für ihre grünen Ziele die Autorität des Staates und die imposante Macht von Industrie und Wirtschaft herauszufordern. Vieles davon hatte man im Naturschutz in dieser Kombination so noch nicht erlebt: die Konfrontation mit der Obrigkeit; die bis dato unbekannte Vehemenz der Auseinandersetzungen; die vernetzte Organisation der Umweltschützer; die effektiv betriebene Kommunikation; das kraftvolle Narrativ von David gegen Goliath; das erworbene Wissen, um mit den offiziellen Experten mitzuhalten; die massenhafte Mobilisierung vor Ort und das Suchen nach innovativen Lösungen. Und natürlich die kreativen und zornigen und ungewöhnlichen Protestformen - von der mittelalterlichen Wagenburg über das Erklimmen von Schornsteinen bis zum gecharterten Schiff, das mit Jugendlichen und einem Labor an Bord den Rhein hochfährt.
Wenn sich auch diese Opposition nicht gegen ein totalitäres Unrechtsregime wie die Nazi-Diktatur richtete, taucht der Begriff des »Widerstands« in vielen Erzählungen der siebziger und achtziger Jahre immer wieder auf. Er ist Teil der hier vorliegenden »Oral History« und gehört zu den persönlichen Erinnerungen an die ausgefochtenen Kämpfe gegen scheinbar übermächtige Gegner. Folglich wird der Ausdruck im Sinne der Protagonisten in diesem Buch entsprechend benutzt.
Das Engagement gegen Atomkraft darf getrost zu den Aktivitäten dieser Ersten Generation gezählt werden, auch wenn die Gefahr unsichtbar war und das Risiko hypothetisch erschien. Eine Versündigung an der Schöpfung stellte sie in den Augen von Aktivisten allemal dar. Im vorliegenden Buch werden hierzu beispielhaft Geschichten von drei Schauplätzen erzählt: Wyhl, weil es am Anfang stand und den Widerstand an weiteren Standorten nachhaltig prägte. Kalkar, weil die Story des örtlichen Anführers Josef Maas zeigte, wie hoch der persönliche Preis für den Protest bisweilen ausfiel. Und Wackersdorf, weil dort im Sinne der grünen Sache ein einmaliges »deutsches Woodstock« der einheimischen Rockmusik stattfand. Vor dem Hintergrund dieser Auswahl wird auf eine weitere dezidierte Behandlung von Brokdorf, Gorleben, Grohnde und anderen bekannten Namen in eigenen Kapiteln verzichtet. Stattdessen fließen die dort gemachten Erfahrungen kontinuierlich in den Text ein.
Der Kampf der Umwelt- und Naturschützerinnen in den siebziger und achtziger Jahren ist mal Drama und Dokumentation, mal True Crime und Tragödie, mal Klamauk und Krawall, ja sogar bisweilen: Farce. Mit spektakulären Stunts, legendären Locations, rasanten Wendungen und Storys, die nicht immer gut ausgehen. Und mit einer ganz besonderen Besetzung, die niemand je für eine Hauptrolle auf der deutschen Bühne vorgesehen hatte: den Heldinnen und Helden des Alltags.
Der Ersten...
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