Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Sie war eine Außenseiterin überall: in Bremen, in Worpswede, in Paris - in der Bürgerlichkeit, in der Provinz, in der Weltstadt. Als Paula Modersohn-Becker 1907 mit einunddreißig Jahren starb, ahnte niemand, wie bahnbrechend und revolutionär ihr Werk war. Heute gilt sie als eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus, ist eine der berühmtesten Malerinnen Deutschlands.
Modersohn-Beckers unbedingtes, nicht selten rücksichtsloses Kunstwollen verbunden mit ihren Selbstzweifeln, ihr tragisch früher Tod nach der Geburt ihres Kindes, ihre fluchtartigen Reisen von Worpswede nach Paris sowie die komplizierte Ehe mit Otto Modersohn, vieles davon dokumentiert in ihren teils schwärmerischen Tagebüchern und Briefen: All das hat zu ihrem Mythos beigetragen und dabei wohl manchmal den Blick auf ihre Bilder verstellt.
Boris von Brauchitsch betrachtet Leben und Werk der Künstlerin unvoreingenommen, nah an den Quellen: persönlich, kritisch, eingebunden in die Tendenzen der Epoche zwischen Impressionismus und Expressionismus, zwischen Nietzsche und Rilke, zwischen Feminismus und Nationalismus. Einen besonderen Schwerpunkt bildet naturgemäß die Künstlerkolonie Worpswede: die Gemeinsamkeiten der Künstler, ihre Freundschaften und Rivalitäten, ihre gegenseitige Unterstützung, aber auch Geringschätzung und Missgunst. Und er stellt schließlich die ebenso spannende wie spekulative Frage: Was wäre aus ihr geworden, hätte sie noch 50 Jahre länger gelebt?
Geboren wurde Minna Hermine Paula Becker in Dresden-Friedrichstadt am 8.Februar 1876, ¾ 11 Uhr - wie es im Taufregister der Matthäuskirche heißt - als drittes von sieben Kindern. Ihre ersten zwölf Lebensjahre verbrachte sie in Dresden, zunächst in der Schäferstraße 59 über dem Kontor der Berlin-Dresdener Eisenbahn-Gesellschaft, für die ihr Vater, der Ingenieur Carl Woldemar Becker, arbeitete.4 Die zweite Eisenbahnverbindung Dresden-Berlin war im Jahr vor Paulas Geburt eröffnet worden. Carl Woldemar hatte für den sächsischen Abschnitt der Streckenführung verantwortlich gezeichnet - vom Dresdener Bahnhof in Berlin (bald schon durch den Anhalter Bahnhof als Endstation ersetzt) zum Berliner Bahnhof in Dresden. 1876 zog die Familie mit ihren ersten drei Kindern - Kurt, Bianca Emilie (genannt Milly) und Paula - in die Friedrichstraße 29 (heute 46). 1888 siedelte sie nach Bremen über.
Es heißt, Vater Becker habe einen Karriereknick erlebt, weil sein älterer Bruder ein Attentat auf den späteren Kaiser WilhelmI. verübt hatte,5 doch das geschah bereits 1861, sodass Zusammenhänge mit beruflichen Veränderungen Carl Woldemar Beckers Ende der 1880er Jahre recht spekulativ erscheinen. Oskars Kugel aus seiner Damenpistole hatte Wilhelm außerdem damals auf der Promenade in Baden-Baden nur gestreift und die Sache war längst vergessen. Wilhelm war zum König und zum Kaiser gekrönt worden, Oskar, das schwarze Schaf der Familie Becker, war tot. Hätte der geringste Verdacht bestanden, es mit einem Saboteur oder auch nur Zweifler an einer Nuance des preußischen Reglements zu tun zu haben, wäre Carl Woldemar eine solch verantwortungsvolle Aufgabe wie der Bau einer Eisenbahnstrecke kaum übertragen worden. Seine Versetzung nach Bremen erfolgte aus recht simplen Gründen. Die Arbeit in Dresden war getan. Allerdings fand sich auch in Bremen, wo der Bau des Hauptbahnhofs seiner Vollendung entgegenging, keine rechte Verwendung für ihn. Die Pionierzeit der Eisenbahn ging ihrem Ende entgegen.
Der Bremer Museumsdirektor Gustav Pauli erinnerte sich später »des gütig-stillen Mannes mit den durchfurchten Zügen, der mit einem kleinen Kreise gleichgesinnter Kunstfreunde an regelmäßigen Abenden gemeinsamer Betrachtung die Sammlungen des Bremer Kupferstichkabinetts durchzunehmen pflegte. Er sprach das Deutsch mit jenem herben Akzente, der unseren in Russland wohnenden Landsleuten gemeinsam zu sein scheint, denn er war in Odessa geboren.«6
Abb.3: Schwachhauser Chaussee in Bremen, 1899
Abb.4: Familie Becker im Garten ihres Hauses in der Schwachhauser Chaussee
Seine Existenz mag ihm auch angesichts seiner illustren Verwandtschaft etwas trüb erschienen sein. Während er es nur zum preußischen Baurat gebracht hatte, war sein Vater Adam Becker wirklicher kaiserlich-russischer Staatsrat gewesen, war geadelt worden und hatte als Direktor des Lycée Richelieu in Odessa gewirkt, sein Großvater war Hofrat und Professor für römische Geschichte gewesen, seinem Großonkel Christian Gottfried, Betreiber einer gigantischen Baumwollspinnerei mit zweieinhalbtausend Arbeitern, hatte man in Chemnitz sogar ein Denkmal gesetzt. Sein Onkel Wilhelm Gustav war Professor für Pharmakologie in Kiew und Vorsteher der medizinischen Verwaltung von Polen gewesen, und seine Halbschwester Marie Luisa (aus der zweiten Ehe seines Vaters) war mit einem Teeplantagenbesitzer verheiratet und lebte auf einem Landsitz in England.
Der Blick auf die Familie seiner Frau machte die Sache nicht besser. Mathilde von Bültzingslöwen brachte die hellen, lebenbejahenden Töne ein. Sie stammte ab von »Herrenmenschen, die niemals dazu zu bringen sind, das Überkommene einfach auf Treu und Glauben hinzunehmen, sondern für die Leben Selbstaufbauen heißt. Menschen, die ihre Uhr nach der Sonne stellen und nicht nach der Uhr des jeweiligen Rathauses«, wie Sophie Gallwitz wusste.7
Mathilde von Bültzingslöwens Vater war Stadtkommandant und Logenmeister der Freimaurer in Lübeck gewesen, Mathildes Brüder Günther und Wulf waren Plantagenbesitzer in Indonesien, Surabaya-Günther wirkte zudem als Konsul des deutschen Reichs auf Java und residierte feudal auf Schloss Biesdorf bei Berlin, als Carl Woldemar in Bremen eine Dienstwohnung in einer vergleichsweise bescheidenen Villa an der Schwachhauser Chaussee - im letzten Gebäude vor der Bahntrasse - bezog.8 Dort der waghalsige Selfmademan, hier höheres Beamtentum.
Was Vater Becker blieb, war die Aufgabe, sich um einen soliden Werdegang seiner Kinder zu kümmern. Besondere Sorgen machte ihm Paula. Äußerlich eher graues Entlein, oder wie Rainer Maria Rilke rückblickend dichtete:
Ach du warst weit von jedem Ruhm. Du warst
unscheinbar; hattest leise deine Schönheit
hineingenommen, wie man eine Fahne
einzieht am grauen Morgen eines Werktags.9
Doch innerlich auf ihre Art preußisch wie der Vater, »unerbittlich scharf eingestellte Ansprüche an sich selbst und jede Art von Leistung«.10
Als Zehnjährige wurde sie in einer Sandgrube mit anderen Kindern der Familie verschüttet. Dabei erstickte ihre gleichaltrige Kusine, Tochter von Herma von Bültzingslöwen, der jüngsten Schwester ihrer Mutter. »Dieses Kind war das erste Ereignis in meinem Leben. Sie hieß Cora [Parizot] und war auf Java groß geworden. Wir lernten uns mit neun Jahren kennen und liebten uns sehr. Sie war sehr reif und klug. Mit ihr kam der erste Schimmer von Bewußtsein in mein Leben«, schrieb Paula Jahre später an Rainer Maria Rilke.11 Auf dieses traumatische Erlebnis wurde wiederholt ihr ausgeprägter, unbedingter Wille zurückgeführt, kompromisslos ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und in (fast) allen entscheidenden Punkten keinerlei Zugeständnisse zu machen.
Abb.5: Callablüte, 1892
Nach ihrer Konfirmation im April 1892 reiste Paula im Frühsommer nach England, wo sie bei ihrer Tante Marie und deren Mann Charles ein Jahr verbringen sollte. Eine erste, längere Trennung von der Familie. Was sie erwartete, war etwas völlig anderes, als die liberalen Umgangsformen, die sie aus ihrem Elternhaus kannte, wo sie ihre Mutter als Freundin betrachtete und wo sie gewohnt war, den Ton anzugeben. Die sechzehnjährige Paula war nach eigener Aussage »ganz ans Regieren gewöhnt«, es erschien ihr eine Selbstverständlichkeit, dass sie stets bekam, was sie wollte. »Alle unterwarfen sich mir und weder sie noch ich merkten etwas davon. Ich fand es auch in der Schule selbstverständlich, daß mein Wort das durchschlagende war.«12
Nun allerdings traf sie auf ihre Tante Marie, die den Versuch unternahm, angesichts der pädagogischen Versäumnisse, die ihrem Ermessen nach auf der Hand lagen, nachzubessern. Auch ihr dürfte jedoch klar gewesen ein, dass es für Kurskorrekturen im Grunde zu spät war. Umso nachdrücklicher schritt sie zur Tat, um den Egoismus ihrer Nichte zu bändigen und ihr das zu vermitteln, was eine höhere Tochter ihrer Ansicht nach mit in eine Ehe bringen sollte, um praktisch anpacken zu können und in Gesellschaft für Kurzweil zu sorgen. Das Programm erstreckte sich auf Reiten, Klavier- und Tennisspielen, aber auch auf den Umgang mit der Nähmaschine, das Kühemelken und das Herstellen von Butter - in ihren Briefen nach zuhause berichtete Paula seitenweise über das Rühren von Streichfett, so dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, sie wollte auf diesem Weg die Absurdität dieser Tätigkeit vor Augen führen.
Dass Paula sich auch Kunstunterricht wünschte, erschien Vater wie Tante unverdächtig. Schaden konnte es nicht, auch das zur Untermalung eines zukünftigen erbaulichen Eheglücks zu beherrschen. So wurde ihr in London Malunterricht an der St.John's Wood Art School gewährt, bei dem zunächst einfache...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.