Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
März 2084
Der alte Mann trat auf seinen kleinen Balkon und genoss die gewaltigste aller optischen Täuschungen: den Sonnenuntergang. Mit geübter Leichtigkeit veränderte er seine Sicht auf die Welt. Schien die Sonne sich gerade noch sanft auf den Horizont zuzubewegen, hielt sein Verstand sie im nächsten Augenblick fest, machte sie zu dem Fixstern, der sie war, und ließ jetzt den Horizont, der seinen Blick so verlässlich gehalten hatte, ihr entgegenstreben. Und wenn der Horizont auf der einen Seite emporstieg, musste er auf der anderen Seite nach unten sinken. Die Weltbühne dazwischen wurde zum Karussell, und er sah, wie die Erde sich drehte.
Ein Zwinkern: Der Horizont stand wieder still, und es war die Sonne, die sank. Er hielt sein Gesicht in ihre letzten Strahlen. Mit ihrer wohligen Wärme durchströmte ihn zugleich ein Gefühl von Dankbarkeit, dem er sich eine Weile überließ.
Sein Leben war kein Großes oder Besonderes gewesen, aber er hätte es nicht gegen ein anderes eintauschen wollen. Wie viele seiner Generation waren er und seine Frau, die schon lange nicht mehr lebte, kinderlos geblieben. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt, die ihnen alle Energie und Lebenskraft abverlangt hatte. Schließlich waren es die um die Jahrtausendwende Geborenen, die das Licht der Zivilisation durch das dunkle 21. Jahrhundert tragen mussten. Rückblickend war er schon auch stolz auf das, was sie geleistet hatten.
Andererseits .
Der Schatten der gegenüberliegenden Häuser legte sich langsam auf sein Gesicht und ein kleines »Aber« schlich sich in seine Gedanken. Wenn er sich damals anders entschieden hätte - wer weiß?
Schon bald würden die Sterne herauskommen. Er rechnete kurz. Es lag nun fast zweiundsiebzig Jahre zurück, dass ihm seine Eltern zum zwölften Geburtstag am 5. Juni 2012 ein Teleskop geschenkt hatten, einen einfachen Refraktor mit äquatorialer Montierung und sechs Zentimeter Öffnung. Den ganzen Nachmittag hatte er mit wachsender Spannung die Anleitung gelesen und das Instrument mit der Hilfe seines Vaters aufgebaut. Dann waren sie auf die Dachterrasse gegangen und hatten sich die entfernte Landschaft herangeholt.
Wie groß war die Enttäuschung im ersten Augenblick gewesen, als er durch das Okular geschaut und Bäume und Häuser auf dem Kopf hatte stehen sehen. War das Teleskop etwa kaputt? Sein Vater schüttelte lächelnd den Kopf, erklärte ihm den Strahlengang und dass es in der Astronomie unwichtig sei, wie herum man die Dinge sehe, da es im Weltall kein Oben und Unten gebe. So richtig verstand er ihn allerdings erst nach dem Essen, als sie noch einmal ins Freie gingen, um das Teleskop auf den Mond zu richten und mit den Augen minutenlang auf ihm spazieren zu gehen.
Aber das Allerbeste sollte erst noch kommen. Am nächsten Morgen weckte ihn sein Vater schon um halb sechs in der Früh und sie gingen mit einer heißen Tasse Kakao in den Händen wieder auf die Terrasse. Die Sonne stand knapp über dem Horizont und es herrschte eine ganz besondere Stimmung, so ruhig und geordnet. Nachdem sein Vater gewissenhaft den Sonnenfilter an das Okular geschraubt, das Teleskop auf die Sonne ausgerichtet und das Bild scharf gestellt hatte, durfte er hindurchschauen.
»Was erkennst du?«, hatte sein Vater ihn gefragt.
»Eine große, gelbe Scheibe mit einigen grauen Flecken . und ziemlich nah am Rand einen ganz runden schwarzen Fleck.«
»Die grauen Flecken sind so etwas wie magnetische Wirbelstürme in der Sonnenatmosphäre. Aber was, glaubst du, ist der runde Fleck?«
»Weiß nicht.«
»Es sind keine Wolken in Sicht. Lass uns in einer Viertelstunde noch einmal nachschauen.«
Sie plauderten etwas, tranken ihren Kakao und sahen zu, wie die Sonne langsam den Himmel hinaufstieg. Als die Zeit um war, hatte er selbst das Teleskop neu ausrichten und als erster hindurchschauen dürfen. Er hatte angestrengt in das Okular gestarrt und dann aufgeregt gerufen: »Ich glaube, der runde Fleck hat sich bewegt. Er ist jetzt ganz am Rand. Was kann das sein?«
»Das ist die Venus, ein Planet, der genau wie unsere Erde um die Sonne kreist. Nur ist sie dabei der Sonne näher als wir. Ich habe sie dir schon einmal als hellen Abendstern gezeigt, weißt du noch? Wie du siehst, läuft sie aber jetzt gerade direkt vor der Sonne entlang. Bitte schau genau hin. Wir werden das nie wieder sehen können, denn das nächste Mal passiert das erst in über einhundert Jahren.«
Als wäre es gestern gewesen, spürte er erneut dies erhebende Gefühl der Einsicht, das ihn damals überkommen hatte, als sich die Worte des Vaters mit dem Bild vor seinen Augen verbanden. In seinem Kopf hatte es Klick gemacht. Bis dahin hatte er den Himmel immer wie eine riesige gewölbte Leinwand gesehen, auf der die Gestirne - von unsichtbaren Fäden gezogen - umherliefen. Doch in diesem Moment sah er plötzlich in den Weltraum hinein. Er begriff, dass alles so viel gewaltiger und großartiger war, als es schien. Die Faszination dieser neuen Perspektive hatte ihn nie mehr losgelassen.
Die Sonne war mittlerweile ganz hinter den Häusern verschwunden, und ihn fröstelte. Er drehte sich um und ging wieder in seine Wohnung zurück. In letzter Zeit fragte er sich häufiger, ob er nicht doch lieber Astrophysik studieren und sein Hobby zum Beruf hätte machen sollen. Das war das »Aber«, das ihn so manche Nacht erst spät einschlafen ließ. Andererseits wusste er: Die Zeiten waren nicht so gewesen.
Wie auch immer, nun im Alter konnte er seinem Hobby mehr denn je frönen, obwohl er inmitten einer nachthellen Stadt wohnte und sein altes Teleskop schon längst zu Bruch gegangen war. Heutzutage gab es schließlich ganz andere Möglichkeiten, um in die Weiten des Weltalls zu blicken. Die Laserteleskope, Radaranlagen, Raumsonden und sonstigen Gerätschaften der großen internationalen Institute lieferten Unmengen von Daten, von denen nur ein Bruchteil durch professionelle Wissenschaftler und KIs analysiert und visualisiert werden konnten. Der ganze Rest stand akkreditierten »Citizen-Scientists« wie ihm zur freien Verfügung.
Voller Vorfreude öffnete er die Tür zur Dunkelkammer. So nannte er sein kleines 3D-Zimmer im Stillen, weil es ihn an die Ursprünge der Fotografie erinnerte. Das Bild, das man sich damals vom Universum machte, musste den stundenlang am Teleskop belichteten Platten und Filmen erst durch chemische Prozesse abgerungen werden, die im Dunkeln stattzufinden hatten. Er fand die Vorstellung witzig, dass er in diesem Raum eigentlich dasselbe tat, nur eine Trillion mal schneller und genauer.
Manchmal benutzte er diesen Raum wie andere Leute einfach dazu, sich in interaktiven 3D-Geschichten oder Shows zu verlieren, doch meist interessierte ihn die Wirklichkeit viel brennender - alles das, was dort draußen tatsächlich geschah. Und damit meinte er nicht sein Stadtviertel oder irgendetwas anderes auf unserem Globus. Er ließ sich in seinen dreh- und schwenkbaren Sessel nieder, setzte die 3D-Brille auf und sprach die Losung, die er sich selbst ausgedacht hatte.
»Weltall an!«
Sein digitaler Gehilfe reagierte sofort und versetzte ihn in einen Bereich des Kuipergürtels, dessen Beobachtung er beim letzten Mal nicht abgeschlossen hatte.
Die meisten Citizen-Scientists interessierten sich für die großen kosmologischen Fragen und Zusammenhänge und damit auch für die ganz großen Skalen, die in Milliarden von Jahren und Lichtjahren gemessen werden. Schon weniger Forscher beschränkten ihr Interesse auf unsere Galaxie, die einhunderttausend Lichtjahre durchmessende Milchstraße, mit ihren etwa zweihundert Milliarden spiralförmig angeordneten Sternen, den Nebeln und Staubwolken und dem gigantischen schwarzen Loch in der Mitte. Noch weniger, es mochten vielleicht einige tausend Hobby-Wissenschaftler sein, widmeten sich ihrer kosmischen Heimat, dem Sonnensystem. Aber die Allerwenigsten kannten sich mit seinem Steckenpferd, dem Kuipergürtel, aus. Dieser besteht aus Millionen großer und kleiner Gesteins- und Eisbrocken, die bei der Entstehung des Sonnensystems übrig geblieben sind und die Sonne jenseits der Umlaufbahn des Neptun langsam umkreisen. Was diese Objekte für ihn so interessant machte, war die Tatsache, dass aus ihren Reihen bisweilen ein neuer Komet entspringt, um sich auf seinen langen Weg ins Innere des Sonnensystems zu machen. Insgeheim wünschte er sich, einen solchen Kometen als Erster zu entdecken und ihm dafür einen Namen geben zu dürfen.
Aber erst einmal genoss er die Aussicht. Als hellsten Stern erkannte er die Sonne in einer Entfernung von etwa dreiundvierzig Astronomischen Einheiten. Das bedeutete, dass sein jetziger virtueller Standort ungefähr dreiundvierzig Mal so weit von der Sonne entfernt war wie die Erde. Das war zwar ganz schön weit draußen, und dennoch war hier eine Menge los. Wenn er seinen Stuhl drehte und neigte, sah er um sich herum Hunderte Objekte im Raum schweben, die allerdings stark vergrößert dargestellt und künstlich erhellt werden mussten, damit er sie wahrnehmen konnte. Wann immer er eine Richtung etwas länger fixierte, erschienen dort die Bahnen der Objekte, die sie über die letzten zwei Wochen hinweg genommen hatten. Auf diese Weise hielt er eine Weile Ausschau nach ungewöhnlichen Bahnverläufen, konnte aber wie üblich nichts Auffälliges entdecken. Nun ja . ein Amateurastronom, der keine Geduld aufbrachte, war keiner.
Eine gute Stunde verging. Mit flinken, lang eingeübten Bewegungen markierte er den nächsten Bereich des Raums, den er sich genauer anschauen wollte. Es war bereits kurz vor zehn Uhr und sein Rücken schmerzte, doch...
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