Schweitzer Fachinformationen
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MENSCHEN KÖNNEN QUARK MACHEN, TIERE NICHT.
Jivan Haffner Fernández macht sich immer viele Gedanken beim Warten auf die U-Bahn.
Mit Daumen und Zeigefinger zieht Jivan behutsam ein rötliches Schamhaar vom Hemdärmel und untersucht es im Licht der Abendsonne. Das muss sich heute Morgen dort verfangen haben. Er ist ein Mann, der sehr auf Details achtet, zumindest auf solche, aber er ist auch ein Mann, der stets auf der Hut sein muss, sich nicht selbst ins Verderben zu stürzen. Für jeden Quark gibt's 'ne App, denkt er, bloß noch keine, die einen Mann vorm Ruin durch die Frau, die er liebt, beschützt. Was ihn seit Beginn seiner Ehe wirklich unter den Nägeln brennt, ist die Suche nach der Antwort auf eine einzige Frage, zu der auch keine der Schöpfungsgeschichten das fehlende Puzzleteil liefern kann: Warum werden Männer mit den Frauen allein gelassen? Warum hat die Natur ihnen keinerlei Beistand gegönnt? Er nennt sich Jivan, mit fauchendem Ch am Anfang. Sie riecht immer nach Honig und Moschus! Sie - ist Jo, seine Frau! Bereits heute Mittag entdeckte Jivan das Haar während des Meetings mit seinem alten Kontakt bei der Sécurité Suisse. Als er die linke Hand hob und sich mit Zeige- und Mittelfinger versonnen über die Stirn fahren wollte, funkelte der kupfrig schimmernde, gekräuselte Hornfaden an der Naht des Ärmels wie die Venus am Nachthimmel. Er atmet einmal tief durch und sichert das Haar tief in der Brusttasche. Er ist ein Mann, für den solche Details wertvoll sind.
Vor ihm breitet sich der Tempelhofer Airgarten aus. Eigentlich hat er es eilig, doch er schlendert über das Rollfeld, als hätte er keine wichtige Verabredung. Unter einer Laterne setzt er sich auf einen Baumstumpf und tauscht mit einem Seufzer seine uralten, bequemen Lieblingstreter aus geschmeidigem Boxcalf gegen tierleidfreies Schuhwerk aus wasserfester Mikrofaser. Er ist auf dem Weg zum Abendessen mit Jo und ihren neuen Chefs von Animal Rights.
Das Blackbird's Song ist momentan der letzte Schrei in der Stadt in Sachen veganer Küche, die Leute stehen so hartnäckig Schlange, als würde ihnen dort Absolution erteilt. Links und rechts versucht ein schnurgerades Spalier aus blühenden Hyazinthen zwischen blauen Neonlichtern eine streng überwachte Multikulti-Naturschutzpflanzenwelt daran zu hindern, sich auch den Rest des Areals einzuverleiben.
Die Ledersneakers verstaut Jivan im Beutel. Bei der Gelegenheit überprüft er Hemd und Hose. Das hat er Jo versprochen und dann noch einmal »beim Leben seines Vaters« geschworen, dass er es nicht vergisst. Sein dunkelgraues Leinenhemd geht noch als tierlieb durch. Seine Hose ist allerdings grenzwertig: Wollanteile und vor allem diese Acrylfaser, nach jedem Waschgang verrecken Meeresbewohner an den Mikroplastikteilchen, und für das Rostbraun haben Hunderttausende weibliche Cochenilleschildläuse ihr Leben gelassen. Pardon, Pardon, ich hab's eben nicht mehr nach Haus geschafft. Jivans Meeting war schneller zu Ende, als er es sich erhofft hat. Er trennt das Etikett ab. Der Zeitrahmen war zu eng, viel zu eng. Dann ging er entgegen seinen Plänen zu Ediz noch einen Döner essen. Na, ich konnte doch nicht mordshungrig hier aufkreuzen! Eigentlich wollte er vorher nach Hause, sich duschen und rasieren, aber er ließ sich noch während des Essens auf ein Online-Poker-Spiel ein. Bitte?! Mein härtester Rivale! Ein Champion, der ihn nie ernst genommen hat. Der amtierende Zwei-Kontinente-Champion hat ihn vor aller Augen herausgefordert, einer, gegen den nur wenige gewinnen. Mit Sicherheit hat er von Jivans letztem Reibach gegen den Europameister gehört. Seitdem hat Nutzer pokermon-key, wie Jivan sich im Netz nennt, fünfmal so viele Follower wie vorher. In den Kommentarfeldern konnte sich keiner pokermon-keys Sieg über den Champion erklären. Wird er doch, was die Wetteinsätze auf ihn und seine Siegpunktezahl angeht, als Null gehandelt. Sogar ein Programmierfehler in der App wurde da erwähnt, was Jivan ziemlich gekränkt hat. Mann gegen Mann stand heute! Da konnte ich nicht kneifen und sagen, Pardon, ich muss duschen, ich geh nachher Radieschen und Tofuwürste essen. Vor den Bildschirmen von fast 10 000 Followern hat er das Spiel leider verhauen. Ich hab gekämpft bis zum letzten Blatt! Blamiert hat er sich bis auf die Knochen. War trotzdem ein brillantes Spiel, Loser oder nicht, alle hatten Spaß. Vielleicht hätte er duschen sollen. Dabei hätte er gewinnen können, er hatte keine schlechten Karten. Aber er schien auch nicht ganz bei der Sache zu sein. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, Mann! Andauernd dachte ich, eigentlich wollte ich ja noch duschen, andauernd dachte ich, Mensch, bist du unernst, wenn dich Jo jetzt sehen könnte. Er hat wichtige Details im Spiel übersehen, weil er an Jos Schamhaare dachte. Außerdem hatte er vorher mit Ediz wieder über Titten und Ärsche geredet. Jivan weiß, dass solche Gespräche sein Konzentrationsvermögen um die Hälfte senken. Was soll ich machen? Immer wenn ich eine Weile mit Eddie rede, kommt die Sau aus mir raus. Er wird primitiv. Nein! Nur so unter Männern! Bei Eddie kann ich eben mal locker sein. Heute sind wir sogar zu einer echten Erkenntnis gelangt. Was ist der Beweis dafür, dass sich auch Männer auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrieren können? . Die Leserinnen und Leser sind gespannt auf die Antwort. Der Fakt, dass Frauen zwei Brüste haben. Er ist ein Sexist. Falsch, ich bin Feminist! Ich fördere Jo doch, wo ich kann! Und, ja, Sex mit Jo ist mir jede Mühe wert. Er meint damit die horrenden Spielschulden, aber deswegen ruft er nachher noch seinen Vater an. Immerhin hat Jivan den Beutel mit den veganen Sneakern noch im letzten Moment vom Garderobenständer im Büro genommen. Sein würziger Körpergeruch trägt die Herznote vom Adrenalin eines mühsamen Arbeitstages. Ich habe wie ein Tier geschuftet. Jedem Veganer sollte das Herz aufgehen. Und die Ledertasche? Hhhhh! Mist!
Jivan bleibt abrupt stehen und blickt sich um. Den Beutel mit seinen Schuhen kann er der Garderobenfrau anvertrauen und sie notfalls am nächsten Tag holen, aber seine abgewetzte Ledertasche will er unter keinen Umständen dort lassen. Er muss sich nur ihre Miene vorstellen. Und Jo könnte sie beim Verlassen des Lokals entdecken. Die brauch ich! Sie hängt schon seit über zwanzig Jahren über seiner Schulter, seit seinem ersten Tag als Architekturstudent an der Universität in Buenos Aires. Jo toleriert sie, sie ist quasi meine zweite Haut, mein quasi ausgelagertes Körperteil. Ja, so wie sie da hängt, ist sie ein quasi-organischer Behälter, solange er keine neue kauft. Aber wie oft kauft man sich schon ein neues Organ? Diese Tasche nehm ich mit ins Grab. Jo hat ihn heute Morgen extra dreimal angefleht, sie nur heute ein Mal, nur ihr zuliebe, zu Hause zu lassen. Und er hat es ihr nicht nur versprochen und beim Leben seines Vaters geschworen, er hat es dann noch ein weiteres Mal beim Abschiedskuss, als er mit seiner Zunge ihre Ohrmuschel massierte, auf seinen Schwanz geschworen. Sie wird nun nicht nur nicht mehr mit ihm sprechen. Ich werde Jo nicht enttäuschen! Er sagt immer wortwörtlich, er liebt sie mehr als »seinen Arsch«! Dass Jivans Hintern hierarchisch unter seiner Frau steht, ist die größte Liebeserklärung, die er sich vorstellen kann. Denn er hat immerzu Angst um ihn. Im Arsch steckt seine Stehkraft, er ist sein Scharnier zur Welt. Von dort wandern seine Einfälle den Darm aufwärts, durchlaufen den Magen, gelangen durch saures Aufstoßen in den Schlund-, Mund- und Nasenrachen und werden mit einem Schluck Brandy dissoziiert runtergespült, geraten so direkt in die Blutbahn und werden auf diese Weise ins Gehirn und damit in die große, weite Welt transportiert.
Die Tasche ist außerdem zu groß, um sie im Beutel unterzubringen. Kurzerhand leert er sie aus, klemmt sich die wichtigen Papiere unter den Arm und stopft die Kleinigkeiten in seine Hosentaschen. Jivan schaut sich verzweifelt um. Nur eine ältere Frau mit Spitz ist in unmittelbarer Nähe. Er krempelt Ärmel und Hose hoch, macht einen Satz über die Hyazinthenbarriere und arbeitet sich einige Meter durchs Dickicht. Stacheln und Dornen grapschen mitleidlos nach seinem Fleisch und hinterlassen unansehnliche Striemen. Unter einem Gelben Dickährenstrauch versteckt er die Tasche so, dass man sie vom Weg aus nicht sehen kann. Als er mit einem Seufzer der Erleichterung wieder über die Hyazinthen steigt, verrichtet der Spitz gerade sein Geschäft am Wegesrand. Aber über mich den Kopf schütteln! Eilig streift er Hose und Ärmel wieder runter und läuft den Rest des Rollfelds entlang zum Restaurant. Er ist selten pünktlich, das hat er vom Vater, aber, und das kommt von der deutschen Mutter, er hat seine Verspätung stets minutengenau im Auge. Immerhin, nur zwölf Minuten über der verabredeten Zeit. Ein Intervall, in dem die meisten Menschen infolge Begrüßung, Jacke-Aufhängen und Sondieren der Anwesenden noch nicht einmal richtig Platz genommen haben.
Vom zweiten Rollfeld nebenan ist das ausgelassene Gekreische der Skater zu hören. Seit Neuestem benutzen sie Segelflügel, wenn sie von der langen Rampe herunterfahren, wie bleierne Enten schweben sie über dem Biotop. Zwei Wochenenden hintereinander konnte Jivan sich erfolgreich davor drücken, dann ist Jo endlich die Lust daran vergangen. Wie ein dürrer Affe klammerte sie sich immer ans Segel. Jivan reicht Simulation. Wenn er die Welt von oben sehen will, startet er auf seinem Smartphone das Satellitenauge. Von oben verlieren die Dinge an...
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