Schweitzer Fachinformationen
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Ankunft im Paradies
Das Rauschen des Meeres unter mir, gewaltige Wellen, die gegen schroffe Felsen klatschen, das Rascheln der Palmblätter und Eukalyptuszweige, das durch die geöffneten Fenster, die vom Wind gebauschten Vorhänge in meinen Schlaf sickert. Etwas stökerig stehe ich auf und schaue auf das blendende Blau, auf die Bucht von Santa Monica, den weit ins Wasser hineinragenden Pier mit seiner Achterbahn und seinem Riesenrad, auf den Himmel dahinter, den Horizont, verschwommen im Morgendunst. Dann, als hätte ich den Traum, aus dem ich gerade erwacht zu sein glaube, noch nicht ganz abgeschüttelt, kippt das Bild, und in der Ferne lodern Flammen auf, und ich bin in einer Staubwolke gefangen und spüre nichts mehr.
Das war meine Vorstellung von einem Aufenthalt in der Villa Aurora, einer Künstlerresidenz in Pacific Palisades, einem schlossartigen Gebäude mit freiem Blick auf den Pazifik, dem Haus des vor den Nazis geflohenen Schriftstellers Lion Feuchtwanger und seiner Frau Marta. Drei Monate können Schriftsteller, Komponisten, Regisseure, Drehbuchautoren und bildende Künstler dort verbringen und arbeiten oder nichts tun. Dreimal hatte ich mich beworben, dreimal war ich abgelehnt worden. Aber die Geschichten von denen, die dort gewesen waren, hatten mich ermutigt, es wieder und wieder zu versuchen. Bei jeder Bewerbung verschob ich die Schauplätze meines seit Jahren in Arbeit befindlichen großen Amerikaromans, meines Auswandererromans, weiter nach Westen, von Newport über Kansas City nach Los Angeles - um das Aufnahmekriterium der Villa Aurora zu erfüllen, dass das Projekt etwas mit der Gegend zu tun haben müsse. Bei der vierten Bewerbung schrieb ich etwas von einem Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Beverly Hills Chefkoch eines Restaurants wird, in dem Hollywoodstars ein- und ausgehen. Die Reichen und Schönen bewundern ihn für seine Kochkünste, und er steigt in die höchsten Kreise der Gesellschaft auf - bis ihn seine Vergangenheit einholt und er nach Ostfriesland zurückkehrt. Es ist die Geschichte eines Selfmademans, dessen Leben sich im Rückblick als Fiktion erweist, ein Hochstapler, der aus dem Loch, das er sich selbst gegraben hat, herausklettert - nur um festzustellen, dass es oben auch nicht heller ist als unten.
Auf die Frage im Bewerbungsformular Bestehen Berührungspunkte in der künstlerischen Arbeit zur US-amerikanischen Kultur, falls ja, welche? antwortete ich: »Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit der deutsch-amerikanischen Geschichte, vor allem mit dem konservierten Deutschlandbild derjenigen, die im Dritten Reich aufgewachsen sind. Die Geschichte hat einen semiautobiografischen Hintergrund: Aus jeder Generation meiner Familie - außer der gegenwärtigen - ist seit 1865 ein Mitglied in die Vereinigten Staaten ausgewandert.«
Zu meiner Überraschung wurde ich genommen.
Auf dem Flug von Frankfurt nach Los Angeles sitze ich in einer Reihe ohne Fenster zwischen einer Frau mit Hidschab und einem pickligen jungen Mann mit Hornbrille, der die ganze Zeit auf einem Gameboy Super Mario spielt. Nach seinem Statistik-Studium in Harvard sei er vier Monate durch Europa gereist, sagt er, ohne vom Display aufzuschauen. »Immer um Deutschland herum. Meine Urgroßeltern sind im Holocaust ermordet worden, deshalb habe ich das Land nicht betreten.«
»Was ist mit dem Frankfurter Flughafen?«, frage ich. »Da bist du doch umgestiegen.«
»Der zählt nicht«, sagt er, mich immer noch nicht anschauend. »Das ist ein Transitraum.«
Irgendwann, da bin ich gerade eingeschlafen, stößt mich die Frau neben mir an, sie weint, zeigt auf ihren linken Arm, streicht über ihre linke Schulter.
Ich frage sie, was los ist, aber anstatt zu antworten, zeigt sie auf ihren linken Arm, streicht über ihre linke Schulter. Der Steward kommt, stellt die gleiche Frage, erhält die gleiche Antwort, geht weg, bittet über Lautsprecher nach jemandem, der Farsi spricht. Wie sich herausstellt, gibt es unter den 467 Passagieren der Boeing 747-8 einen persischen Arzt. Ich werde neben einen Inder mit einer auf den Unterarm tätowierten Swastika platziert. Als er erfährt, wo ich herkomme, sagt er, auf seinen Arm deutend: »Dann kennen Sie das Zeichen ja. Aber es ist ein Symbol für das Leben, nicht für den Tod.« Kurz vor der Landung sitze ich wieder neben dem Gameboy und der Iranerin. Ihr Zustand, das signalisiert sie mir mit ausgestrecktem Daumen, hat sich stabilisiert.
Eine Mitarbeiterin der Villa holt mich in einem weißen Van vom Flughafen ab. Das Erste, was mir auffällt, ist das Licht. Diese alles durchdringende Helligkeit. Wir umkurven das Theme Building, das wie ein Ufo in der Raumstation aussieht und mein Gefühl verstärkt, in einer anderen Welt zu sein, schwenken auf den Lincoln Boulevard ein und fahren durch Playa del Rey und Venice Richtung Norden. Links und rechts Taco-Läden und Tankstellen, Liquor Stores und Motels, über uns die Sonne und Billboards und der von Kabeln zerschnittene blaue Himmel.
Wir sprechen über die Fußballweltmeisterschaft und den Krieg in der Ukraine. Sie fragt nach Berlin - sie hat an der Freien Universität studiert, ist vor Jahren hierhergezogen -, und ich erzähle ihr von den Flüchtlingen in Kreuzberg, von ihrem Camp am Oranienplatz, von den Mahnwachen und der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule, ihrer Räumung durch die Polizei. »Seit einer Woche sind die Straßen da abgeriegelt«, sage ich. »Anwohner müssen sich ausweisen, um nach Hause zu kommen. In ihrem eigenen Kiez.«
»Das ist doch gar nichts«, sagt sie. »Die Polizei hier würde noch viel härter reagieren. Es gibt nur eine Übereinstimmung zwischen L. A. und Berlin. Beide Städte haben kein Zentrum.«
Als wir vom Santa Monica Boulevard kommend auf den Pacific Coast Highway einbiegen, denke ich, nein, das stimmt nicht, L. A. hat ein geheimes Zentrum, einen Ort, dem alle zustreben: das Meer.
Vor uns ragen Hügel auf. Häuser am Hang. Hinter einer Tankstelle schwenken wir auf den Sunset Boulevard ein und kurz darauf auf den Paseo Miramar, Serpentinen, die sich den Berg hochschlängeln. Die Villa ist von unten nicht zu sehen, erst als wir beim Garten parken und ich aus dem Auto steige, erkenne ich das Bild aus dem Internet wieder: die mediterrane Festung mit den weißen Wänden und roten Dachziegeln, davor zwei Palmen, die das Gebäude überragen. Neue Eindrücke, die ich nicht erwartet habe: das Plätschern eines Springbrunnens, der Duft frisch gemähten Grases. Der von unten heraufziehende Verkehrslärm, stärker als jede Brandung.
Die Mitarbeiterin führt mich durch den Hintereingang ins Büro, stellt mich Nina, der Praktikantin, vor und verabschiedet sich, sie wohne ein ganzes Stück entfernt und brauche um diese Uhrzeit Stunden nach Hause. »Was andernorts das Wetter ist«, sagt sie, »ist hier der Verkehr - Small-Talk-Dauerthema.«
Nina ist groß, größer als ich, einen halben Kopf, ihre langen dunkelblonden Haare sind zum Dutt hochgesteckt, unter ihrer halbtransparenten weißen Bluse zeichnet sich ein schwarzer BH ab, die schwarze Jeans sitzt so eng, dass ich mich frage, wie sie da hineingekommen ist. »Komm«, sagt sie. »Bevor du mich noch länger anstarrst, zeige ich dir mal dein Zimmer.« Wir gehen durch einen schmalen Gang und steigen eine Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Unter jedem unserer Schritte knarren die dunklen Dielen. Links ist mein Zimmer, »Marta's Room«, wie Nina sagt: mintgrün gestrichene Wände, großes Doppelbett, rustikales Sideboard, Schreibtisch, Badezimmer mit handbemalten Kacheln und ein begehbarer Kleiderschrank. Ich stelle meine Koffer hinein. »Von hier aus konnte man mal nach nebenan«, sagt sie und erzählt von der dünnen Trennwand, einer sogenannten Tapetentür, die es jetzt nicht mehr gibt. »In Lion's Room.«
»Und wer wohnt da?«, frage ich.
»Sergej. Ein russischer Komponist. Aber der ist noch nicht da. Außer dir ist niemand hier.« Im Internet habe ich gelesen, dass für die nächsten Monate neben Sergej und mir noch ein peruanischer Künstler, ein deutscher Dichter und dessen Frau - eine Zeichnerin - und eine vietnamesische Bloggerin in der Villa wohnen werden; die Einzige von uns, die im Exil leben muss, weil sie in ihrer Heimat politisch verfolgt wird.
Nina öffnet einen der weißen Einbauschränke und zieht eine blaue Tasche heraus. »Das ist wichtig«, sagt sie. »Das ist das Earthquake Kit, da ist alles drin, um drei Tage unter Trümmern zu überleben. Hast du überhaupt schon mal ein Erdbeben erlebt?«, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf.
»Das letzte große Beben gab's hier 1994. 57 Tote. Fast 9 000 Verletzte. Das nächste könnte schlimmer sein. Was glaubst du, was man machen muss, um das zu überstehen?« Bevor ich antworten kann, stellt sie mir weitere Fragen: »Würdest du aus dem Haus rennen oder im Zimmer bleiben? Dich unters Bett legen oder in den Türrahmen stellen? An was denkst du zuerst, wenn du glaubst, sterben zu müssen? Und an was zuletzt?«
»Äh. Keine Ahnung.«
Anstatt irgendeine Erklärung abzugeben, zieht sie einen Gegenstand nach dem anderen aus der blauen Tasche heraus. Tetra Paks voller Wasser, eine Trillerpfeife, Leuchtstäbe, eine Atemmaske, eine Taschenlampe zum Kurbeln, Plastikhandschuhe, Pflaster, Taschentücher, ein Regenponcho, eine Rettungsdecke und Tabletten gegen nukleare Strahlung. »Aber die brauchst du nicht. Sollte das passieren, ist es eh zu spät.« Nina packt alles wieder ein und...
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