Schweitzer Fachinformationen
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Drinnen war es an diesem frühen Morgen eindeutig gemütlicher als draußen: Durch die schmutzigen Scheiben des Fensters sah er ein paar Schneeflocken zu Boden rieseln. Schnee im April! »Are You Lonesome Tonight?«, schmachtete Elvis dazu aus dem CD-Player. Oke liebte die Einsamkeit des Schuppens hinter seinem Haus am Möwenweg. Der gusseiserne Holzofen bullerte mühsam gegen die Kälte an. Genüsslich nahm er einen Schluck heißen Kaffees.
Koffitiet: Der Kaffee wärmte ihn von innen. Oke atmete durch und schaute noch eine Weile zum kleinen Holzfenster hinaus. Eine dünne weiße Schicht überzog den Rasen und bedeckte die knorrigen Ranken des alten Blauregens, der seine Finger gierig in Richtung der Scheibe streckte. Als wollte die Pflanze in seine urige, kommodige Welt eindringen.
»Do you miss me tonight?« Oke ließ sich wieder von der Musik und dem warmen Luftstrom einlullen, er liebte Evergreens, weil sie ihm das Gefühl gaben, die Zeit stände still. Seine Frau Inse schlief noch, und nichts würde ihn davon abhalten, sich gleich an seinem ersten Ferientag der kleinen Frieda zu widmen. Völlig ruhig lag sie auf seiner Werkbank, was ein wenig befremdlich war. Was hatte die Kleine sonst immer für einen Heidenlärm veranstaltet, wenn sich Fremde näherten? Nun aber war sie bereit für den nächsten Schritt. Er würde ihr langes Haarkleid entwirren. Edith Wolf von nebenan hatte immer Mühe gehabt, Friedas verfilzten Strähnen beizukommen, wenn die beiden von draußen hereinkamen. Nun würde Edith nie wieder zur Unterfellbürste greifen müssen.
Als Postbote Holger Holtermann die Nachricht von Friedas Ableben überbracht hatte - zusammen mit zwei Rechnungen -, wusste Oke sofort, wie und mit wem er den Urlaub verbringen wollte. Als Kommissar von Hohwacht hatte er selten Gelegenheit, seinem Hobby nachzugehen: der Tierpräparation. Ständig kam jemand vorbei, um zu klönen! Besonders seit Vincent Gott die Polizeistation am Berliner Platz verstärkte, hatte das Geplauder zugenommen. Der Kollege stammte aus Köln, das sagte wohl alles!
Oke war da anders, doch die wenigsten machten noch den Fehler, sich von seiner bollerigen Art täuschen zu lassen. Aber kaum jemand aus dem Kollegen- und Freundeskreis würde auf die Idee kommen, ihn, den Polizisten und gebürtigen Ostfriesen, als philosophischen Geist zu beschreiben. Zumindest war er aber Vertreter einer von ihm erfundenen Schuppen-Philosophie. Deren Kernthese lautete: Die Welt wäre ein besserer und friedlicherer Ort, wenn jeder Mensch einen Schuppen hätte, in dem er ungestört sein konnte. Und im Idealfall seinem Hobby nachging.
Oke blickte aufs Regal. Die Tiere, die ihn von dort aus zu beobachten schienen, hatte er in der Vergangenheit präpariert. Aus verschiedenen Gründen hatte er keine Abnehmer für sie gefunden. Die meisten nahm in der Regel die Landesjägerschaft für ihren Lehrstand. Doch ein Waschbär, ein Eichhörnchen und einige weitere Exemplare waren geblieben und jetzt seine stillen Begleiter in ebenso stillen Stunden. Die Pekinesenhündin Frieda würde sich nicht dazugesellen. »Frieda kommt auf die Couch, das war ihr Lieblingsplatz«, hatte Edith ihn schon ins Bild gesetzt. »Da sehen wir sie dann auch gut vom Esstisch aus.«
Oke trank den letzten Schluck Kaffee und wollte sich gerade daran machen, den Draht aus der Schublade zu nehmen, um einen sitzenden Pekinesen zu formen, als er draußen hinter einem Busch einen roten Zipfel in der weißen Außenwelt bemerkte. Der Zipfel gehörte nicht zu einem verspäteten Weihnachtsmann, sondern zu Inses Frotteemantel. Vielleicht brachte sie Kaffeenachschub, hoffte er. Aber eigentlich war ihm zu dem Zeitpunkt bereits klar, dass seine Frau nicht um kurz nach sechs durch den winterlichen Garten rennen würde, um ihm eine Thermoskanne zu bringen.
»Wir haben einen Notfall«, japste seine Angetraute noch in der offenen Tür. Sie brachte einen Schwall eiskalte Luft in sein privates Rückzugsgebiet mit - das sie neuerdings auch als Lagerraum für ihr Imkerhobby nutzte. Sehr zu seinem Verdruss.
»Was für einen Notfall?« Ob der Kaffee vielleicht alle war? Aber selbst das wäre keine echte Malaise, seit Jensen die Smart Box am Krähenholt aufgestellt hatte. Bei all dem unnützen Kram heutzutage war das mal eine brauchbare Neuerung: Da konnte man rund um die Uhr Nachschub besorgen - auch Schinkenmett und Dosenfisch gab es dort!
»Hauke ist nicht nach Hause gekommen!«, sprudelte Inse los. »Darja weiß nicht, wo er ist! Mach doch mal die Musik leiser!« Sie fummelte bereits an seinem CD-Player herum, um Elvis den Ton abzudrehen. Inse war multitaskingfähig. Während sie sich an seinem CD-Player zu schaffen machte, scannten ihre himmelblauen Augen die Umgebung: »Dor liggt de Kamm bi de Botter«, kommentierte sie seine angebliche Unordnung.
Tatsächlich bewahrte er weder Kämme noch Butter in seiner Werkstatt auf. Es lagen lediglich ein paar Montageklammern für Rehgeweihe neben einem fast fertigen Purpurreiher und - zugegeben - ein paar schmutzige Kaffeetassen hatte er auf ihren Honigeimern abgestellt. Wortlos schob Oke die Klammern zu einem Haufen zusammen, um Inses Ordnungssinn halbwegs Rechnung zu tragen. Er stellte auch noch die Flasche Wasserstoffperoxid dazu, sodass aus den Präparationsutensilien eine Art Stillleben entstand, das in seinen Augen durchaus ästhetisch wirkte, und wandte anschließend seine gesamte Aufmerksamkeit wieder seiner Frau zu. Friseurmeister Bruno Buckmann in Lütjenburg hatte sie kürzlich zu einer Art Topfschnitt überredet. In dem überlangen Pony hatten sich winzige Schneeflöckchen niedergelassen, die in der Wärme des Schuppens schnell schmolzen. Ihre Apfelwangen waren gerötet, aber dieser Umstand rührte offensichtlich nicht vom Ofen her. Dabei war es, soweit er sich erinnerte, früher schon vorgekommen, dass Inses Cousin nicht in sein eigenes Bett gefunden hatte. Hauke Büsing sah ein bisschen aus wie Elvis, vielleicht deshalb. Wie der frühe Elvis, nicht der späte. Kein Grund zur Panik also.
»Es ist ein Grund zur Panik«, schimpfte Inse, die Gedanken lesen konnte. Dessen war er sich nach diversen Ehejahren sicher. »Mütze braucht jemanden, der mit ihm rausfährt! Jetzt!« Mütze war Haukes Mitarbeiter auf dem Fischkutter und hieß eigentlich Mika.
Oke brummte widerwillig, denn er sah seinen geruhsamen Tag im Schuppen in Gefahr.
Seine Angetraute blieb hart wie ihr selbst gebackenes Chia-Samen-Brot. »Kumm mol ut'n Knick! Das ist ein Notfall in der Familie! Du musst für Hauke einspringen. Allein wird Mütze auf dem Schiff nicht fertig.« Inse zog ihren Bademantelgürtel fest um die Taille und begann, die leeren Kaffeebecher einzusammeln. Dabei machte sie ihm klar, dass Haukes Ehefrau Darja den Fang benötigte. »Die brauchen das Geld!«
»Und ich brauche Zeit für Frieda!« Er hasste es, wenn Inse so viel Wind in seiner Hütte machte.
»Ob du nun Schollen oder einen Pekinesen ausnimmst, ist wohl egal«, konterte Inse. Aus ihren runden Augen sprach Entrüstung.
»Aber Frieda stopfe ich anschließend aus!« Inse musste doch erkennen, dass es einen Unterschied machte, ob man jemandem zu ewigem Leben verhalf oder ihn einfach aufaß.
»Aber du magst doch Fisch!«, hielt sie dagegen.
Man konnte mit dieser Frau nicht argumentieren. Seufzend nickte er. Er mochte Fisch.
Inse trat schnell neben ihn, beugte sich herab und verpasste ihm einen schiefen Kuss auf die Bartstoppeln: »Ich wusste, auf dich ist Verlass. Du könntest dich übrigens mal rasieren .«
Es hatte aufgehört zu schneien. Oke blickte in die Wolken: Nirgends war der Himmel so schön grau wie in Norddeutschland. Eine Möwe und ein einsamer Umweltschützer beobachteten sein Ankommen am Hafen Lippe, einem der ursprünglichsten Häfen der Kieler Bucht, am Rande des Großen Binnensees. Die Möwe hockte auf einem Poller im Wasser, der Mann hatte sich auf dem Rasen vor dem Steg und damit vor Haukes Fischkutter »Loreley« aufgebaut. Er hatte die Arme verschränkt und stand stumm da, neben einem Aufsteller. »Nur Mörder gehen fischen«, war darauf in blutroter Schrift zu lesen. Davor prasselte ein wärmendes Feuer in einem Metallkorb. In Hohwacht hatten Walschützer der Organisation »Protect Our Planet«, kurz POPL, ihr Camp aufgeschlagen, augenscheinlich hatten sie eine Mahnwache am Hafen postiert. Als Oke den Protestler passierte, erwiderte der seinen Gruß. »Moinsen«, meinte der Walschützer. Okes Blut geriet in Wallung. Das hieß Moin - nicht Moinsen!
»Soll ich losmachen?« Mika Menke, den alle wegen seiner marineblauen Kopfbedeckung Mütze nannten, stand in einer orangefarbenen Wathose an Bord und grinste jungenhaft. Er schien sich über Okes Ankunft zu freuen. Unter dem Oberlippenbärtchen, eher ein dunkler Flaum, wurden schiefe Zähne sichtbar.
»Nicht, wenn ich mitkommen soll«, grummelte Oke und kletterte umständlich an Bord. Den Protestler an Land beachteten sie nicht. Mochte er auch den Grund für dessen Kritik insgeheim teilen, Oke hatte wenig für Theatralik übrig.
Haukes schmächtiger Mitarbeiter sprang trotz der locker sitzenden Kunststoffhose und den Gummistiefeln behände von Bord und tüdelte das Seilende los. Er wusste offenbar, was er tat. Mütze war auf einem Fischerboot groß geworden. Doch das Geschäft seines Vaters lief schlecht, und der alte Menke hatte schließlich wie andere Fischer vor ihm aufgegeben. Seither half Mütze auf Haukes »Loreley« aus.
Als sie ausliefen, flog die Möwe von ihrem Sitzplatz auf. Ihre spitzen, fordernden Schreie übertönten das leise Tuckern des Motors. Als würde sie ihr Anrecht auf den nächsten Fang kundtun. Oke...
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