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2 Als Nikolas schlief, träumte er wieder von der Tür. Mal war sie groß und rund, bei anderen Gelegenheiten klein und quadratisch, wie eine Katzenklappe in leerer Luft. Oft verbarg sich die Tür im Schatten, und er musste aufmerksam Ausschau halten, um sie zu bemerken. Einmal hatte er sie auch im hellen Sonnenschein gesehen, bei einem Blinzeln am richtigen Ort und zur richtigen Zeit. Wenn er sich der Tür zu nähern versuchte, wurden die Beine schwer, oder sie steckten plötzlich in unsichtbarem Morast, in dem sie kaum mehr vorankamen.
Er hätte gern herausgefunden, was sich hinter ihr verbarg, doch bisher war es ihm noch nie gelungen, sie zu erreichen. Er schaffte es auch diesmal nicht - eine Hand weckte ihn.
Sie legte sich ihm auf die Schulter, die Hand eines Großen, und Nikolas fühlte das Zögern in ihr, als fürchtete der Große, er könnte sich anstecken. So waren die Großen manchmal. Sie hielten ihn für krank, und etwas in ihnen, ein tief verwurzelter Instinkt, glaubte an die Möglichkeit einer Infektion.
»Nikolas?«
Er öffnete die Augen.
Die Hand wich von seiner Schulter.
»Er sieht mich an«, stellte der neben dem Bett stehende Mann fest. »Sie haben doch gesagt .«
»Es liegt eine Beeinträchtigung beim Empfangen und Senden nicht sprachlicher Signale vor«, erwiderte jemand, die Stimme einer Frau. »Aber es ist kein klassisches Asperger-Syndrom. Wir wissen noch nicht genau, wie wir ihn klassifizieren sollen.«
»Empfangen und Senden«, wiederholte der Mann. »Das klingt nach einem Apparat. Du bist kein Apparat, oder?«
Nikolas starrte stumm. Er wusste nicht, was er von diesem Mann halten sollte. Sein Gesicht war weich und freundlich, aber die grauen Augen passten nicht dazu; ihr Blick war so scharf wie die Klingen von Messern.
»Geht er zur Schule?«, fragte der Mann.
»Er ist älter, als er aussieht«, sagte die Frau. »Im Januar ist er acht geworden. Er besucht eine Sonderschule.« Sie trug einen weißen Kittel. Eine Krankenschwester oder Ärztin, dachte Nikolas. Offenbar hatte man ihn in ein Krankenhaus gebracht. Wieso befand er sich in einem Krankenhaus, wenn er unverletzt war, wie der Große in der Nacht gesagt hatte? Arme und Beine taten nicht mehr weh, und auch der Bauch fühlte sich normal an. Nur hinter seiner Stirn klopfte ein kleiner Hammer auf einen geistigen Amboss. Das Bild gefiel ihm. Er stellte sich einen kleinen Mann vor, gerade groß genug, um in seinen Kopf zu passen. Er stellte sich vor, wie der kleine Mann mit seinem kleinen Hammer ausholte und ihn auf einen Amboss schlug, der aus Gedanken bestand.
Nikolas lächelte.
»Er lächelt«, sagte der Mann. »Warum lächelt er?«
»Vielleicht gefallen Sie ihm.«
Nikolas hörte in der Stimme etwas, das den Worten widersprach. Die Krankenschwester oder Ärztin scherzte. Er hatte gelernt, so etwas zu erkennen.
Der Mann brummte. »Kann er mich verstehen? Ich meine .«
Die Frau seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. Ja, er kann Sie verstehen.«
»Die Angehörigen sind verständigt?«
»Ich habe vor zehn Minuten mit ihnen telefoniert. Sie sind unterwegs.«
»Der Bruder des Opfers und seine Frau«, sagte der Mann.
»Nicks Onkel und Tante, ja.«
»Nick«, sagte der Mann. »Das ist sein Spitzname?«
»So nennen ihn seine Freunde.«
Ein Name fiel Nikolas ein. Anna Gentile. Doktor Anna. Natürlich. Namen bereiteten ihm manchmal Probleme, aber diesen Namen hätte er sofort mit der Stimme in Verbindung bringen müssen. Anna, deren italienischer Nachname »Freundlich« bedeutete. Sie kannten sich seit den ersten Arztbesuchen vor langer, langer Zeit.
»Wann sind Onkel und Tante hier?«, fragte der Mann mit den Messern in den Augen.
»In einer halben Stunde.«
»Das sollte genügen«, sagte der Mann. »Lassen Sie mich mit dem Jungen allein.«
»Ich kenne ihn«, erwiderte die freundliche Anna. »Vielleicht sollte ich besser hierbleiben und .«
»Nein.« Etwas von der Schärfe in den Augen sprang in die Stimme des Mannes. »Ich möchte mit ihm allein sein. Keine Sorge, ich stelle ihm nur einige Fragen, das ist alles. Fragen können ihm doch nicht schaden, oder?«
Doktor Annas Kopf erschien kurz in Nikolas' Blickfeld. Er sah ihr schmales Gesicht mit den großen Augen, von langem dunklem Haar umrahmt. Sie lächelte. »Bis später, Nick!«
Bis später, dachte er, aber der Mann fesselte den größten Teil seiner Aufmerksamkeit, und deshalb schwieg er, als Doktor Anna das Zimmer verließ.
»Ich bin Roberto Lerotto«, sagte der Mann. Er zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. »Meine Freunde nennen mich Bob.«
Er war noch kein Freund - er würde vielleicht nie einer werden -, und für jemanden, der kein Freund war, saß er zu nahe. Die geringe Distanz bereitete Nikolas Unbehagen. Er rutschte im Bett ein wenig zur Seite.
»Ich ermittle in dem Mordfall, der deine Eltern betrifft«, sagte Lerotto. Es folgte Stille. Der Mann schien auf eine Antwort zu warten.
»Verstehst du?«
Nikolas schwieg. Sein Blick, unterstützt von ein bisschen Deutlichkeit, untersuchte die Messer in den Augen des Mannes.
»Es war kein gewöhnlicher Unfall«, sagte Roberto Lerotto. »Deine Eltern sind ermordet worden.«
»Sind sie tot?«, fragte Nikolas.
Der Mann - Bob - zuckte leicht zusammen, als Nikolas die ersten Worte sprach, doch er fing sich schnell und sagte:
»Sonst hätte ich wohl kaum von einem Mord gesprochen, Junge.«
»Ich heiße Nikolas«, sagte Nikolas, für den Fall, dass der Mann seinen Namen vergessen hatte.
Lerotto lehnte sich zurück.
»Dies ist ein Krankenhaus«, sagte Nikolas. »Warum bin ich hier? Ich bin gesund.«
»Na ja, gesund . Aber du bist nicht verletzt, das stimmt. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Du warst voller Blut, du musstest untersucht werden. Und hier können wir dich besser schützen.« Lerotto deutete zur Tür. »Zwei Polizisten stehen im Flur und passen auf.«
»Auf was?«, fragte Nikolas neugierig.
»Darauf, dass niemand hereinkommt, der nicht hereinkommen darf.«
»Wer darf nicht herein?«, fragte Nikolas.
»Leute, die dir vielleicht schaden wollen.«
Dies war ein Krankenhaus, erinnerte sich Nikolas. Wer sollte in einem Krankenhaus anderen Leuten schaden wollen?
Offenbar hatte er die Frage laut ausgesprochen, ohne es zu merken - das geschah manchmal -, denn Roberto Lerotto, von seinen Freunden Bob genannt, sagte: »Die Leute, die deine Eltern umgebracht haben.«
Nikolas blickte zur Tür. Die freundliche Anna hatte sie einen Spaltbreit offen gelassen.
»Sind Sie Polizist?«, fragte er.
Der Mann hob die Brauen. »Habe ich das nicht gesagt?«
»Nein.«
»Ja, ich bin Polizist.« Es klang zufrieden. »Das bedeutet, du musst meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.« Er beugte sich vor und verkürzte damit die Distanz. »Dein Vater war ein böser Mann. Hast du das gewusst?«
Nein, das hatte Nikolas nicht gewusst. Er schüttelte den Kopf.
»Er war ein böser Mann, der gegen das Gesetz verstoßen hat.« Lerotto betonte jedes Wort, vielleicht um sicherzugehen, dass Nikolas verstand. »Andere böse Leute haben ihn und deine Mutter erschossen. Was ich von dir wissen möchte, Junge: Hast du etwas gesehen?«
Was war das für eine Frage? Natürlich hatte er etwas gesehen, auch mit der Deutlichkeit: das plötzliche grelle Licht, die Löcher in der Windschutzscheibe, das Loch in der Stirn seines Vaters, das Blut, das aus Mund und Hals seiner Mutter spritzte. Etwas davon hatte ihn getroffen; deshalb war er voller Blut gewesen.
»Ja«, sagte Nikolas, ohne etwas hinzuzufügen.
»Und?«, fragte Lerotto nach einer Weile. »Was hast du gesehen?«
Nikolas öffnete den Mund . und zögerte. Etwas in ihm hielt es für falsch, zu viel preiszugeben.
»Helles Licht von Scheinwerfern habe ich gesehen. Und dann die Löcher in der Windschutzscheibe. Und dann hat sich alles gedreht. Und dann hab ich im Wald gelegen.«
Roberto Lerotto musterte ihn eine Zeit lang. Die Messer in seinen Augen wichen ein wenig zurück, und er schüttelte den Kopf. »Dass dich nicht eine einzige Kugel getroffen hat . Es wurden einundvierzig Schüsse abgegeben, aus Schnellfeuergewehren, und der Wagen überschlug sich, nachdem er von der Straße abkam. Es ist mir ein Rätsel, wie du unversehrt bleiben konntest. Ich meine, völlig unversehrt. Nicht einmal eine Schramme, von gebrochenen Knochen ganz zu schweigen. Wie ist das möglich?«
Die Arme und Beine haben mir wehgetan, dachte Nikolas. Er sagte: »Ein Schutzengel.«
Roberto Lerotto von der Polizei wölbte erneut die Brauen. »Ein Schutzengel?«
»Das hat der Mann gesagt, der mich gefunden hat. Zuerst fand mich die Frau, und dann kam ein Mann und sagte: >Er muss einen Schutzengel gehabt haben.<«
»Daran erinnerst du dich? Doktor Gentile meint, dass es dir manchmal schwerfällt, dich zu erinnern. Offenbar ist dein Gedächtnis sehr lückenhaft, und bisweilen findest du auch nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was du gesehen oder gehört hast. Hinzu kommt: Was du erlebt hast, muss ein schwerer Schock für dich gewesen sein.«
Ein Schock?, dachte Nikolas. Wie dumm von dem Mann. Oder nein, halt, nicht dumm, sondern unwissend. Bestimmt wusste er viel, wie alle Großen, aber hiervon wusste er nichts. Er hatte keine Ahnung, dass die Deutlichkeit alles dämpfte, bis auf die anderen Augen und Ohren. Die Deutlichkeit kannte keine Schocks.
»Streng dich an,...
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