Schweitzer Fachinformationen
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Es regnete nicht, es schüttete.
Stefan Kattner parkte sein Auto vor der Justizvollzugsanstalt Wriezen und stellte den Motor aus, während es lautstark auf das Wagendach prasselte. Er zog die Keycard aus dem Schlitz und starrte auf das Wasser, das in Strömen die Frontscheibe hinablief. Die finsteren Wolken, die sich bis zum Horizont erstreckten, machten nicht gerade den Eindruck, als zögen sie bald fort. Er musste in die Nässe hinaus, ob er wollte oder nicht. Sein Termin war in einer halben Stunde, und vorher musste er noch den Sicherheitscheck durchlaufen. Wenn er zu spät kam, wurde es ihm von der Besuchszeit abgezogen - sofern man ihn überhaupt zu seinem Sohn vorließ. Hätte er doch den verfluchten Schirm mitgenommen!
Er öffnete die Wagentür und trat ins Freie. Im Nu waren seine Haare und die graue Kunstlederjacke klatschnass. Hektisch riss er die hintere Tür auf und holte die Tasche mit dem Kuchen von der Rücksitzbank. »Was für ein Scheißtag!«, fauchte er, warf die Tür zu und rannte auf die mächtige Gefängnismauer zu, während ihm die Tropfen ins Gesicht peitschten.
Als er die Pforte erreichte, schützte ihn ein Vordach vor weiterem Regen. Die Kleidung klebte an seinem Körper.
Er stellte die Tasche auf dem Boden ab, holte seinen Geldbeutel aus der Jacke, fingerte seinen Personalausweis hervor und reichte ihn durch ein kleines rundes Fenster in eine gläserne Kabine, in der ein Pförtner saß.
»Ich . ich hab um halb vier einen Termin bei meinem Sohn«, sagte er verunsichert, denn er befürchtete, abgewiesen zu werden. Zwar besaß er eine Dauerbesuchserlaubnis, die es ihm ermöglichte, Noah zu besuchen, ohne es jedes Mal zu beantragen. Zweimal im Monat kam er für je dreißig Minuten hierher. Doch am Morgen hatte ihn ein Gefängnismitarbeiter angerufen und ihm mitgeteilt, dass Noah ihn nicht sehen wolle. Angeblich ging es ihm nicht gut, eine präzisere Erklärung hatte Kattner nicht erhalten. Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war, und war äußerst besorgt. Dass ihn Noah nicht empfing, war noch nie passiert. Nun war er trotzdem gekommen in der Hoffnung, dass sich sein Sohn umentschied, wenn er erfuhr, dass sein Vater vor dem Tor stand.
Der Pförtner, ein junger, untersetzter Mann mit einem Bürstenhaarschnitt, sah sich die Papiere an und prüfte Kattners Daten im Computer. »Sie wollen zu Noah Kattner?«, fragte er mit hoher Stimme, die grell durch einen Lautsprecher schallte.
»Ja.«
»Es tut mir leid, aber Sie haben keine Erlaubnis.«
Kattner seufzte und schaute auf seine Armbanduhr. »Hören Sie, mein Sohn hat mir heute Morgen ausrichten lassen, dass ich nicht kommen soll. Aber inzwischen ist es fünfzehn Uhr. Er könnte seine Meinung geändert haben. Bitte fragen Sie noch einmal nach.«
»Wenn er seine Meinung geändert hätte, hätte ich es hier im Computer.«
»Bitte. Es geht ihm nicht gut, und ich mache mir Sorgen. Er ist . wie soll ich sagen . seelisch nicht auf der Höhe.«
Noah war schon immer ein sensibles Kind gewesen, in sich gekehrt und voller Selbstzweifel. Die Kinderärztin hatte einst gemutmaßt, dass er an Depressionen litt, da war er dreizehn gewesen. Außerdem bestand der Verdacht einer ASS, einer Autismus-Spektrum-Störung, die jedoch nicht eindeutig diagnostiziert worden war. Sein Zustand hatte sich verschlimmert, nachdem ihn das Gericht schuldig gesprochen hatte. Sieben Jahre und drei Monate hatte er bekommen.
»Bitte!«, wiederholte Kattner.
Der Pförtner zögerte einen Moment, dann nahm er den Telefonhörer in die Hand und ließ sich mit dem Zellentrakt verbinden.
Kattner wandte sich ab, sah zu seinem Auto hinüber und zündete sich eine Zigarette an. Durch den kurzen Wortwechsel hatte er Nässe und Kälte vergessen, aber nun bemerkte er sie wieder und begann am ganzen Körper zu zittern. Die Kälte kam von innen.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, sog den Rauch ein und wartete. Gelegentlich schaute er zum Pförtner, der ein langes Telefonat führte. Es ließ Kattner hoffen. Vielleicht machten sie sich die Mühe, Noah aufzusuchen und ihn zu überreden, seinen Vater doch noch zu empfangen.
Als er seine zweite Zigarette ausgetreten hatte und der Pförtner noch immer telefonierte, spürte er einen flauen Druck im Magen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Was gab es so ausführlich zu besprechen? Merkwürdig war auch die Mimik des Pförtners. Der Mann runzelte unentwegt die Stirn und warf Kattner manchmal einen Blick zu, der schwer zu deuten war.
»Was ist passiert?«, fragte Kattner, als der Pförtner endlich aufgelegt hatte.
»Ich lasse Sie jetzt rein«, klang es durch den Lautsprecher. »Sie werden am Tor abgeholt.«
»Hat mein Sohn zugesagt?«
»Bitte gehen Sie zum Tor. Alles Weitere erfahren Sie von den diensthabenden Beamten.«
Kattner war erleichtert und irritiert zugleich. Der Pförtner hatte seine Fragen nicht beantwortet.
Er nahm seinen Ausweis entgegen und steckte ihn zurück in die Brieftasche. Dann hob er die Tasche mit dem Kuchen vom Boden auf und begab sich zum Eisentor, das in die Gefängnismauer eingelassen war. Der Regen stürzte erneut auf ihn nieder.
Als sich das Tor öffnete, erstreckte sich vor ihm ein weitläufiger Platz, umsäumt von flachen Verwaltungsgebäuden. Vereinzelt standen Justizbeamte in Regenmontur herum.
Er betrat das Gebäude, in dem sich die Schleuse befand. Es tat gut, endlich im Trockenen und Warmen zu sein.
Eine uniformierte Beamtin stand hinter einer Theke und nahm seine Sachen entgegen; Handy, Schlüssel, Portemonnaie und die Armbanduhr. Auch den Gürtel musste er ausziehen, er hatte eine Metallschnalle und würde beim Körperscanner Alarm auslösen. Beruhigt nahm er zur Kenntnis, dass alles wie immer verlief. In wenigen Minuten säße er Noah gegenüber.
»Sein Lieblingskuchen«, sagte er, als er die Tasche mit dem Gugelhupf auf die Theke stellte, und der Beamtin huschte ein Lächeln übers Gesicht. Sie holte den Kuchen aus der klammen Tasche und schob ihn beiseite, damit er zur Überprüfung in dünne Scheiben geschnitten werden konnte.
Kattner wandte sich ab und durchschritt das Tor mit dem Scanner. Auf der anderen Seite nahm er seinen Gürtel entgegen - der Rest wurde bis zu seinem Verlassen des Gefängnisses aufbewahrt. Nachdem er sich den Gürtel umgeschnallt hatte, folgte er einem jungen Justizbeamten durch lange Gänge. Die Prozedur war stets die gleiche. Sachen abgeben, das Scanner-Tor durchschreiten und sich zum Besucherzimmer begleiten lassen - einem kahlen Raum mit weiß getünchten Wänden, vergitterten Fenstern und einem Tisch in der Mitte.
Als sie das Besucherzimmer erreichten, bemerkte Kattner, dass die Tür, die normalerweise offen stand, geschlossen war. Zu seiner Verwunderung gingen sie an dem Zimmer vorbei, passierten eine Gittertür, an der der Beamte einen Code eingab, und betraten einen Gang, den er noch nicht kannte. In der Ferne, hinter einer weiteren Gittertür, befand sich ein Zellentrakt. Er erkannte es an den orangefarbenen Stahltüren, die zu den Zellen führten. »Wohin gehen wir?«, fragte er.
Doch anstatt zu antworten, steuerte der Beamte ein kleines Zimmer an.
»Bitte warten Sie hier«, sagte er, ließ Kattner eintreten und schloss die Tür von außen.
Kattner war allein. Er blickte sich um. Der Raum war ähnlich karg wie das Besucherzimmer, nur wesentlich kleiner. In der Mitte standen drei Stühle um einen Holztisch herum, eine Deckenlampe verströmte ein kaltes Licht. Unter einem winzigen vergitterten Fenster war ein Heizkörper angebracht, der voll aufgedreht war. Kattner zog seine nasse Jacke aus und legte sie auf die Heizung, dann setzte er sich. Das weiße Hemd und die Jeans fühlten sich noch immer unangenehm klamm an. Er starrte an die kahle Wand und fragte sich, warum er in diesen Raum geleitet worden war. Vielleicht war das andere Besucherzimmer besetzt, sodass sie hierhin ausweichen mussten. Wahrscheinlich ginge jeden Moment die Tür auf, und Noah träte ein.
Die Zeit verrann, aber nichts geschah.
Er lehnte seinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Er dachte an Rita, seine Frau. Oder sollte er sie lieber als seine Ex-Frau bezeichnen? Getrennt waren sie, nicht geschieden. Noch nicht. Aber es war ihm zugetragen worden, dass sie die Scheidung wollte. Im Gegensatz zu ihm glaubte sie an Noahs Schuld. Daran war die Ehe zerbrochen.
Er musste eingeschlafen sein, denn als die Tür aufging und eine uniformierte Beamtin ins Zimmer trat, hatte er vergessen, wo er war.
Die Frau wirkte burschikos. »Herr Kattner?«, fragte sie mit einer sanften Stimme, die nicht zu ihrer äußeren Erscheinung passte. »Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Kommen Sie bitte mit.«
Kattner stand auf, nahm seine Jacke von der Heizung und zog sie sich an. Es wurde augenblicklich warm an seinen Schultern. Dann folgte er der Beamtin in ein Büro, das nur zwei Türen weiter lag. Es war freundlicher als das kleine Zimmer, in dem er gewartet hatte, was an der Palme liegen mochte, die neben einem vergitterten...
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