Schweitzer Fachinformationen
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1.
Zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten checkt Malou Löwenberg ihr Handy. Kein Anruf, keine Nachricht, keine E-Mail, nichts. Alles andere wäre auch eine Überraschung, denn sie hat den Ton auf maximale Lautstärke gestellt, damit sie ja keine Meldung verpasst. Aber das Handy bleibt seit Tagen stumm, es ist zum Verzweifeln. Malou schiebt den leeren Teller von sich weg; heute vermochte nicht einmal ihr Lieblingsessen Palak Paneer ihre Stimmung zu heben. Shahid, dem die Imbissbude gehört und der Malou so oft bedient, dass er sich zuweilen als ihr Privatkoch rühmt, tritt zu ihr und räumt das schmutzige Geschirr weg.
»Seit du nicht mehr bei der Polizei arbeitest, musst du wenigstens nicht mehr ständig wegrennen und das Essen stehen lassen.« Shahid grinst, doch Malous Blick lässt ihn sofort wieder ernst werden. »Ist alles in Ordnung? Läuft das Geschäft?«
»Nein. Und nein. Ich verstehe es nicht: Ich habe eine Website gestaltet, ein Büro eingerichtet, in zwei Zeitungen sind Artikel über mich und meine Arbeit erschienen - trotzdem warte ich noch immer auf meinen ersten Auftrag. Seit zwei Wochen schon, und nichts als Funkstille!«
»Sei nicht so ungeduldig, das braucht etwas Zeit. Der erste Auftrag wird kommen, bestimmt! Und zwar bald.«
Nun blickt auch Shahid auf Malous Handy, fast so, als wollte er es beschwören, und exakt in dem Moment erklingt der Titelsong von Kill Bill, den Malou als Klingelton heruntergeladen hat. Malou und Shahid blicken einander an und lachen laut auf.
»Siehst du?« Shahid nickt wissend.
Malou wedelt mit der Hand, um ihn zu verscheuchen, räuspert sich und nimmt den Anruf entgegen.
»Vermisstenbüro, Malou Löwenberg am Apparat.«
Shahid, der gar nicht daran denkt, sich auch nur einen Millimeter wegzubewegen, hört neugierig mit.
»Guten Abend, Frau Baumgartner«, sagt Malou einige Sekunden später. »Ein Vermisstenfall? Das tut mir leid. Und ja, dann sind Sie bei mir richtig. Aber wir müssen das nicht am Telefon besprechen.« Malou wirft Shahid einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich kann gerne zu Ihnen nach Hause kommen . Ja, ich habe Zeit.« Sie wühlt in der Tasche nach einem Kugelschreiber und kritzelt eine Adresse auf die Papierserviette, die Shahid ihr hinschiebt. »Ich bin in etwa zwanzig Minuten bei Ihnen. Bis gleich.«
»Da hast du deinen ersten Auftrag!« Shahid klatscht in die Hände, als Malou das Gespräch beendet.
»Es ist erst eine Anfrage, wir werden sehen. Ich muss los.«
»Viel Glück!«
Kaum sitzt Malou auf ihrer braunen Vespa, die sie liebevoll Bruna nennt, stellt sie fest, dass sie aufs Klo müsste. Doch dafür ist es nun zu spät, das muss warten. Zum Glück ist ihre Blase nach all den Jahren im Polizeidienst härteerprobt; Malou weiß, dass sie es lange aushält, wenn der Gang auf die Toilette nicht drin ist. Sie fährt durch die Berner Altstadt, ignoriert ohne schlechtes Gewissen ein Fahrverbot, passiert den Bärengraben, biegt rechts ab und tuckert die steile Straße hoch, die Brunas Motor zum Husten bringt.
»Gute, tapfere Bruna, du schaffst das«, flüstert Malou, während sie ihr Gewicht nach vorne verlagert. Irgendwann wird die Vespa unter ihrem Hintern altersbedingt verenden, doch zum Glück ist es heute noch nicht so weit. Zu Malous Rechten öffnet sich der Blick über Berns Altstadt; die untergehende Sonne tüncht die Dachlandschaft in ein oranges Rot, und die Aare hat sich um die Häuser gebettet wie ein dunkelgrüner Schal. Obwohl der Fluss ein pittoreskes Bild abgibt, denkt Malou unvermittelt an all die Leichen, die sie schon daraus geborgen hat . Bis sie sich zwingt, sich wieder auf die Straße zu konzentrieren.
Fünfzehn Minuten nach dem Anruf ihrer ersten potenziellen Klientin stellt Malou ihre Vespa am Grüneckweg vor einem stattlichen Backsteinhaus ab. Sie registriert die teuren E-Bikes im Fahrradständer und die edlen Gartenmöbel auf der Terrasse. Wer hier wohnt, kennt keine Geldsorgen, denkt Malou, als sie die Umgebung mit geübtem Polizistinnenblick scannt. Baumgartner steht an einem der vier Briefkästen. Malou öffnet das Gartentor und steigt die vier Stufen zur Haustür hoch. Sie hatte keine Zeit, sich gedanklich auf das Gespräch vorzubereiten, doch auch das ist sie gewohnt; als Polizistin wusste sie selten, was sie in der nächsten Minute erwartete.
Sie drückt auf die Klingel, der Summer ertönt. Die Frau, die ihr Sekunden später im zweiten Stock die Wohnungstür öffnet, begrüßt Malou so überschwänglich, als wären sie beste Freundinnen.
»Wunderbar, dass Sie da sind, bitte treten Sie ein.« Frau Baumgartner ergreift Malous Hand und zieht sie förmlich in die Wohnung hinein. »Sie schickt der Himmel, niemand will mir mehr helfen, Oscar zu finden.«
Malou löst sich vom Griff der Frau. Sie ist wohl etwa um die fünfzig; erste graue Strähnen, die gerade noch attraktiv wirken, Fältchen um die Augen, die schon nicht mehr als Lachfalten durchgehen. Erst jetzt realisiert Malou, dass sie sie am Telefon nicht einmal gefragt hat, ob es sich bei Oscar um ihren Ehemann handelt. Bitte lass es kein Kind sein, denkt sie, nicht bei meinem ersten Fall. Doch Malou weiß, dass sie nicht wählerisch sein darf. Menschen verschwinden in jedem Alter, leider immer wieder auch Kinder, und nach einigen Jahren oder schon nach Monaten, wenn sich keine neuen Spuren mehr finden lassen, wird der Fall als ungelöst zu den Akten gelegt und vergessen. Schon klar, die Polizei kann nicht ewig ermitteln, die aktuellen Delikte haben Priorität. Aber manchmal lassen sich Cold Cases nach Jahrzehnten doch noch aufklären, wenn man sich nur die Zeit nimmt und sich die Mühe macht - das hat Malou mit ihrem letzten Fall bewiesen. Obwohl sie offiziell gar nicht ermitteln durfte . Nicht zuletzt darum hat sie ihre Stelle bei der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Bern gekündigt und sich als private Ermittlerin selbstständig gemacht: Sie will jene vermissten Menschen finden, nach denen die Polizei nicht mehr sucht, weil zu viel Zeit vergangen ist. Auch das hat sie vergessen zu fragen, fällt Malou ein: Wie lange Oscar schon vermisst wird.
»Ich habe in der Zeitung von Ihrem Vermisstenbüro gelesen«, fährt Frau Baumgartner fort. »Und ich wusste sofort: Sie sind meine Frau! Sie werden Oscar finden!«
»Lassen Sie uns erst mal Platz nehmen.«
»Sie müssen wissen: Wir haben schon alles versucht, aber ich bin sicher, bei Ihnen sind wir richtig. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass Oscar noch lebt.«
Malou hat ein ungutes Gefühl; die Frau setzt zu große Hoffnungen in sie. »Vielen Dank, dass Sie sich an mich gewendet haben«, sagt sie, als sie endlich zu Wort kommt. »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen zunächst einige Fragen zu Oscar stellen. Danach können wir entscheiden, wie wir weiter verfahren wollen. Ist das so für Sie in Ordnung?«
»Ja, natürlich, darum sind Sie ja hier.«
Malou holt ihr schwarzes Notizbuch aus der Tasche, klappt es auf und kritzelt eine 1 oben auf die erste Seite, dahinter setzt sie den Namen Oscar Baumgartner.
»Wie alt war Oscar, als er verschwand?«
»Er war neun.«
»Das tut mir leid.« Also doch ein Kind. Malou schluckt schwer, lässt sich aber nichts anmerken. »Was ist passiert, wie lange ist das her?«
»Noch nicht ganz ein Jahr.«
»Noch kein Jahr?«, fragt Malou überrascht.
Seltsam, dass sie sich nicht an den Fall erinnert. Er hätte in ihrer damaligen Abteilung landen müssen, wenn hinter Oscars Verschwinden ein Verbrechen vermutet wurde. Und bei einem verschwundenen Kind geht man im ersten Moment in der Regel immer vom Schlimmsten aus. Malou ist sich sicher, dass sie den Namen des Kindes nicht vergessen hätte; ihr erster Schwarm in der Schule hieß Oscar. Warum zum Teufel . Der Vater, denkt Malou, es muss um einen Sorgerechtsstreit gehen, der Vater hat den Sohn nicht mehr zurückgebracht. Oder aber .
»Ist Oscar hier im Kanton Bern verschwunden?«, fragt Malou.
»Ja, in der Stadt Bern.«
»Und die Polizei war involviert?«
»Nein, man sagte mir, sie sei für solche Fälle nicht zuständig.«
Malou schüttelt irritiert den Kopf. »Können Sie mir erzählen, wie und wo Oscar verschwunden ist?«
»Wir waren an der Aare spazieren. Ich habe ihn für einen Moment aus den Augen verloren - und plötzlich war er nicht mehr da.«
»Um Himmels willen, ist er ertrunken?«
»Nein, das ist unmöglich, er ist ein guter Schwimmer.«
In der Aare sind schon die besten Schwimmer ertrunken, denkt Malou, die Strömung des Flusses wird oft unterschätzt. Doch sie spricht den Gedanken nicht laut aus. Ihr Blick wandert zum Regal, das an der Wand steht, zu den gerahmten Fotografien.
»Darf ich?« Sie erhebt sich und schaut die Bilder an. Sie zeigen einen Jungen; am ersten Schultag, im Wald vor einem Feuer, einmal wirft er einen Stock für einen Hund. Bilder aus einer anderen Zeit, als das Leben der Familie Baumgartner noch glücklich war. Malou nimmt den Rahmen mit der letzten Fotografie zur Hand und setzt sich wieder.
»Ist das Oscar?«
»Ja, aber da war er noch deutlich jünger.«
Etwas passt nicht. Der Junge auf dem Bild ist mindestens neun, kaum jünger, aber mit neun soll er doch verschwunden sein.
»Wo ist Oscars Vater?«, fragt Malou.
»Ich kenne ihn nicht.«
»Sie kennen den Vater Ihres Sohnes nicht?«
»Doch, den Vater meines Sohnes kenne ich schon, er ist beim Bowling.«
»Moment.« Malou blickt auf das...
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