Schweitzer Fachinformationen
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»Schläfst du noch?«
»Mmmmh.«
Nathaniel tastet nach Gundulas Kopf, der an seiner Schulter liegt, fährt ihr mit dem Finger über die Wange, hält auf ihren Lippen inne, lehnt sich vor und küsst sie sanft.
»Ich muss los.« Er versucht, sich aufzusetzen, doch die kurzen Arme, die ihn umschließen, ziehen ihn sanft ins Kissen zurück.
»Bleib doch noch ein bisschen.«
Im gleichen Moment hört Nathaniel das vertraute Tapsen von vier Pfoten auf dem Parkettboden, Sekunden später streift etwas Nasses seine Hand. Alisha, seine Blindenhündin, scheint nur auf das Wörtchen los gewartet zu haben. Sie ist nicht mehr die Jüngste, ihre Blase war auch schon strapazierbarer, spätestens um neun Uhr morgens muss er mit ihr Gassi gehen, länger lässt sich der Morgenspaziergang kaum mehr hinauszögern.
»Alisha muss auch raus. Wir sind nicht solche Langschläfer wie du.«
Gundula ignoriert Nathaniels Worte und schmiegt ihren kleinen Körper an ihn.
Wie vertraut sie sich schon sind, denkt Nathaniel, als er den Arm um sie legt und sie an sich drückt. Fast sein ganzes Leben lang war er alleine. Das mit der Liebe war kompliziert; es ließ sich einfach keine Partnerin finden für ihn, einen Blinden. Irgendwie war das auch okay, er hatte sich damit abgefunden, nur selten plagte ihn eine kleine Sehnsucht nach der Zweisamkeit, die er bis vor Kurzem noch niemals in seinem Leben erfahren durfte. Doch just als er - aus formalen Gründen - seine lesbische Freundin Carole zum Schein geheiratet hatte, lief ihm Gundula über den Weg, eine kleinwüchsige Frau aus dem Tierwarengeschäft, die ihn mit ihrer forschen und direkten Art vom ersten Moment an verzaubert hat. Das Timing hätte zwar kaum schlechter sein können, trotzdem hat er sich auf Anhieb in sie verliebt. Er küsst Gundula erneut, dann löst er sich aus ihrer Umarmung.
»Ich sollte wirklich gehen, leider, aber heute ist ein großer Tag, ich muss eine Geburtstagsparty für einen Haufen unbändiger Sechsjähriger mitorganisieren.«
»Silas' Geburtstag.« Gundula sagt es mit einem Unterton in der Stimme, der niemandem sonst auffallen würde, doch Nathaniel spürt sofort, dass noch etwas folgen wird.
»Ich wünschte, ich hätte auch ein Kind.«
Der Satz versetzt Nathaniel einen Stich ins Herz. Er setzt sich auf die Bettkante und möchte etwas erwidern, aber die richtigen Worte fallen ihm nicht ein. Heikles Terrain. Er hört, dass sich auch Gundula aufsetzt.
»Also ich könnte mir gut vorstellen, mit dir Kinder zu haben.«
Obwohl es keine Frage ist, klingt es, als würde sie eine Antwort erwarten. Eine Antwort, die Nathaniel nicht geben kann. Er erstarrt innerlich und versucht, sich nichts anmerken zu lassen; gleichzeitig drückt er Gundula unbeholfen an sich, sodass sie nach Luft ringen muss.
»Soll ich das als ein >Ja, ich auch< verstehen?«, fragt sie halb scherzend, halb verunsichert.
Nathaniel schweigt noch immer, er fühlt sich überfordert und weiß nicht, wie er adäquat reagieren kann, ohne Gundula zu verletzen. Er weiß nur eines mit Bestimmtheit: Er will kein Kind, kein eigenes Kind, es geht nicht.
»Du scheinst von der Idee nicht ganz so begeistert zu sein«, hakt Gundula nach.
»Lass uns ein andermal darüber reden.«
»Es ist medizinisch möglich, du musst dir keine Sorgen machen. Nur, weil ich kleinwüchsig bin, heißt das nicht, dass ich auch ein kleinwüchsiges Kind gebären werde. Mein Kind kann normal groß werden, so wie du.«
Nathaniel drückt Gundula noch einmal an sich, dann steht er auf. »Darum geht es nicht. Es ist eine große Frage, und es ist noch so früh, wir kennen uns doch kaum. Und überhaupt, wie gesagt, ich muss los.«
Nathaniel tastet nach dem Stuhl, der links neben dem Nachttisch steht und auf den er am Abend zuvor seine Kleidung abgelegt hat. Zuunterst die Jeans, darauf liegen der Pullover und das T-Shirt, zuoberst die Unterhosen und die Socken, alles korrekt gefaltet. Seine Mutter würde vor Freude im Grab in die Hände klatschen, wenn sie ihm dabei zusehen könnte; ausgerechnet er, der als kleiner Junge immer alles irgendwo in eine Ecke gepfeffert hatte. Doch unordentlich zu sein, verträgt sich schlecht mit Blindheit. Heute ist er ein richtiggehender Pedant.
»Nathaniel .«
»Gundula, entschuldige, lass uns wirklich besser ein andermal darüber reden.«
Er schlüpft in seine Hose, sucht mit den Fingern die Etikette des Pullovers, damit er ihn korrekt herum hält, und zieht ihn über, er dreht sich noch einmal zurück zum Bett und tastet nach Gundula. Er gibt ihr einen Kuss, wünscht ihr einen schönen Tag und verlässt ihr Schlafzimmer. Sie bleibt schweigend zurück. Im Flur neben der Tür hört Nathaniel Alishas Schwanz auf den Boden klopfen. Er nimmt das Hundegeschirr vom Haken an der Garderobe, lässt sie hineinschlüpfen und schließt die Tür auf.
Als er kurz darauf unten aus dem Haus tritt, atmet er erleichtert aus. Er will kein Kind. Niemals. Er hat schon Silas, er ist ihm nahe, sehr nahe, zu nahe fast, Silas ist ihm beinah ein Sohn, allein das ist schwierig genug. Zu gut erinnert sich Nathaniel an die Panik, die ihn vor ein paar Monaten ergriffen hat, als er Silas plötzlich nirgends mehr finden konnte. Er war wegen eines Unfalls zu spät beim Kinderhort erschienen, wo er ihn abholen wollte. Die Erzieherin hatte nicht richtig aufgepasst, und Silas war einfach weg gewesen. Nathaniels Angst um den kleinen Jungen war so mächtig, dass er glaubte, daran zu sterben. Das und diese Hilflosigkeit will er nie mehr erleben.
Ein eigenes Kind - das schafft er erst recht nicht. Zu groß ist seine Furcht, ein zweites Mal seine Familie zu verlieren. All das hätte er Gundula gerne erklärt. Doch wie sagt man das zu seiner Geliebten, die sich ein Kind wünscht - ohne zu riskieren, dass sie einen verlässt?
Gedankenversunken lässt sich Nathaniel von Alisha zur Bushaltestelle führen. Kurz darauf fährt er durch die Berner Altstadt, rechts und links die Laubengänge, die er noch nie gesehen hat und deren Klang er so gut kennt, weil seine Schritte in ihnen widerhallen, wenn er zu Fuß unterwegs ist.
Als er an seiner Haltestelle aussteigt, zieht ihn Alisha ungeduldig nach rechts statt nach links, wo ihr zu Hause liegt. Erst da fällt Nathaniel ein, dass sie ihr Morgengeschäft noch immer nicht verrichten konnte.
»Entschuldige Alisha«, murmelt er.
Zur Antwort erhält er ein ungeduldiges Japsen. Als er beim Bremgartenwald ankommt, befreit er Alisha aus dem Geschirr und entlässt sie mit einem »Libera!« Er bleibt stehen, während er sie im Gehölz verschwinden hört, legt den Kopf in den Nacken und spürt Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er fühlt einen leichten Wind, lauscht, wie er mit den Ästen spielt. Nathaniel atmet den Wald ein, der nach feuchter Erde und jungen Blättern riecht.
Nein, kein Kind, sagt eine Stimme in seinem Kopf. Es hört sich an wie eine Drohung. Auf einmal umgibt ihn ein düsteres Gefühl wie eine dunkle Regenwolke, eine Stimmung, von der er meinte, sie ein für alle Mal erfolgreich aus seinem Leben vertrieben zu haben. Doch er hat sich offensichtlich geirrt. Schatten verschwinden nicht.
»Nathaaaaaaaniel - endlich!«
Silas rennt Nathaniel beinahe um, als er zu Hause ankommt. Der kleine Junge übertönt mit seinem Freudengeschrei sogar das Jaulen von Alisha, mit dem sie ihrerseits Silas und Carole begrüßt, als hätte sie sie seit Wochen nicht mehr gesehen, obwohl sie gerade erst gestern noch zu Hause gewesen sind. Zu Hause heißt für Nathaniel: bei Silas, seinem Patenkind, und dessen Mutter Carole, seiner lesbischen Freundin, mit der er eine Scheinehe eingegangen ist, die sich aber manchmal beinahe wie eine richtige Ehe anfühlt, trotz allem.
»Alles Gute zum Geburtstag, kleiner großer Mann!«, ruft Nathaniel, während er nach Silas greift, der sich fangen und in die Luft stemmen lässt. Doch kaum hat er wieder Boden unter den Füßen, wird Silas ernst.
»Ich bin jetzt zu groß, um getragen zu werden, ich bin jetzt nämlich erwachsen. Seit heute bin ich sechs Jahre alt.«
»Das werden wir richtig feiern, dass du ab sofort erwachsen bist.«
Nathaniel hört Carole aus der Küche treten.
»Zum Glück bist du hier, mir wächst schon jetzt alles über den Kopf!«
Carole sagt es lachend, aber Nathaniel hört ihrer Stimme die Erschöpfung an, obwohl noch nicht mal Mittag ist. Ein buttrig-süßer, warmer Schokoladengeruch streift seine Nase. Es ist ein Kuchen im Ofen. Dass Carole backt, kommt genau einmal im Jahr vor, nämlich wenn Silas Geburtstag hat. Es gibt auch jedes Mal den gleichen Kuchen, stets dieselbe Fertigbackmischung, denn Carole ist eine miserable Köchin. Was die Kulinarik anbelangt, ist sie alles andere als eine perfekte Mutter, was ihr aber niemand übel nimmt, am wenigsten Silas selbst; er liebt es, dass ständig Pommes oder Fischstäbchen auf dem Tisch stehen.
Carole begrüßt Nathaniel mit einer kurzen Umarmung, das ist zu ihrem scheinehelichen Ritual geworden.
»Ich habe Girlanden und Luftballons gekauft, die man noch aufblasen muss, ich dachte, du könntest mir vielleicht dabei helfen.«
»Stets zu deinen Diensten.«
»Ich will auch Luftballons aufblasen!«, reklamiert Silas.
»Wir werden es gemeinsam tun. Auch beim Aufhängen der Girlanden brauch ich deine Hilfe.« Nathaniel streckt den Arm aus, um Silas durch die Haare zu wuscheln, doch der bückt sich schnell weg. Das lässt er sich seit einem halben Jahr schon nicht mehr gefallen, doch...
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