Schweitzer Fachinformationen
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Das erste Mal bemerkte ich Mary, als sie aus der Gaststätte Möller heraustaumelte und dicht an mir vorbeilief. Sie lächelte geistesabwesend und wäre beinahe vor ein Auto gelaufen, wenn ich sie nicht am Arm gepackt und zurückgezogen hätte.
Sie sagte nicht mal Danke, sondern nahm Kurs auf eine Bank und legte sich drauf. Sie war etwa Mitte vierzig, trug zerschlissene schwarze Jeans und eine löchrige Lederjacke mit Fransen, dazu Cowboystiefel. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass sie einmal eine umwerfende Schönheit gewesen sein musste: geschwungener Mund, große dunkle Augen, üppiges schwarzes Haar, klassische Nase, hohe Wangenknochen. Sie rappelte sich kurz auf und lächelte mich an. Es war ein Lächeln, in das man sich verlieben konnte. Melancholisch, einladend. Ich lächelte zurück, ging weiter und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief.
Die Kneipe, aus der sie gekommen war, war ein Refugium für alle Altonaer, deren Hoffnungen ergraut und verblichen waren. Dort gab es Bier und Kaffee zu Tiefstpreisen, dorthin kamen die Stammgäste zum Frühschoppen, wenn sie Geld hatten. Danach setzten sich manche von ihnen vor eine Bankfiliale oder einen Modeladen und sammelten Almosen, bis es wieder für die nächste Flasche reichte. Ich war nie drin gewesen. Wie die meisten Passanten ging ich lieber nicht zu nah am Eingang des Ecklokals am Spritzenplatz vorbei. Der rauchgeschwängerte Bierdunst, der herausdrang, war nichts für sensible Nasen.
Nach ein paar Metern drehte ich mich noch einmal um. Mary hatte die gefalteten Hände unter den Kopf gelegt und die Augen geschlossen. Ein Windstoß wehte durch die Bäume und ein paar gelbe Blätter trudelten über sie hinweg. Ein seltsamer Anfall von Traurigkeit überkam mich, und ich flüchtete auf die andere Straßenseite.
Im Schlüsselladen neben der Sparkasse holte ich das neue Büroschild ab. Als ich wieder herauskam, guckte ich nicht zu ihr rüber. Ich war sowieso spät dran. Philipp erwartete mich im Knuth und ich wusste, dass er pünktlich sein würde. Eine heftige Bö schob mich an der Eckkneipe vorbei in die Große Rainstraße.
Philipp saß draußen und ließ sich die Haare vom Westwind verstrubbeln.
Er stand auf, als er mich sah, und kam mir drei Schritte entgegen. Küsschen, Küsschen. Heute gelang es mir nicht, seine Wange diesen Moment länger zu berühren, der die Sache interessant machte. Es war eine Art sportlicher Ehrgeiz von mir. Gelegentlich, nur ganz selten, hatte ich ein schlechtes Gewissen deshalb. Wegen Nadine. Aber Philipp behauptete ja, sie seien nicht mehr »so richtig« zusammen.
»Komm, setz dich«, forderte er mich auf.
»Draußen ist es mir zu kalt.« Es war mir ein Rätsel, wie er an so einem Tag nur mit T-Shirt und Jeansjacke herumlaufen konnte. Ich hatte heute morgen die Winterjacke mit dem Pelzkragen aus dem Schrank geholt. »Lass uns reingehen, Philipp.«
»Wenn du meinst.«
Wir setzten uns ans Fenster und bestellten Latte macchiato und Frühstück mit Marmelade. Die Gäste waren alle älter als wir. Im Knuth frühstückten die Vierzigjährigen, mittags speisten hier die Dreißigjährigen. Wer knapp über Zwanzig war, so wie wir, kam in der Regel erst abends und ging um Mitternacht, wenn die Teenies einfielen. Momentan war niemand da, den wir kannten, was eher selten vorkam in diesem Viertel, in dem jeder schon mal mit jedem zu tun hatte.
»Wie geht's Nadine?«, fragte ich.
»Weiß nicht, hab sie länger nicht gesprochen.«
»Das hast du das letzte Mal auch schon gesagt.«
»Du wolltest sie doch besuchen.«
»Ja, stimmt.«
»Und?«
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich sagen? Dass ich mich nicht traute, ihr unter die Augen zu treten, weil ich gern ihren Platz in seinem Leben eingenommen hätte, den sie aber schon gar nicht mehr hatte, was ich wusste, sie aber nicht wahrhaben wollte?
»Was ist denn los?«, fragte Philipp.
»Hm?«
»Du antwortest nicht.«
»Wieso?«
Er winkte ab. »Ach, vergiss es. Du siehst blass aus.«
»Herbstanfang«, sagte ich.
Er kniff die Augen zusammen und musterte mich. Es kam selten vor, dass er mich richtig ansah. In so einem Moment hätte ich gern irgendwas getan, um mich zu offenbaren. Aber mir fiel nichts ein. Oder ich zögerte zu lang. Oder ich hatte so verrückte Ideen wie zum Beispiel: Pack ihn an den Ohren und zieh ihn über den Tisch zu dir und küsse ihn so lang, bis er keine Luft mehr bekommt.
Ich lachte vor mich hin. Seine Ohren luden wirklich dazu ein.
»Was ist denn los?«, wollte er wissen.
Ich zog die Papiertüte aus der Jackentasche und holte das Messingschild heraus.
»Was ist das?«
»Der Typ im Laden fand's witzig. Hat mir nicht geglaubt, dass es wirklich mein Beruf ist.«
»Na ja, Beruf .«, sagte Philipp.
Er nahm das Schild und schaute es an. »Lenina Rabe, Detektivin« stand darauf. »Bist du echt immer noch auf dem Trip?«
»Es ernährt seine Frau«, entgegnete ich schnippisch.
Philipp verzog das Gesicht. »Wolltest du nicht mit Studieren anfangen?«
»Kann mich nicht dazu durchringen. Sport ist auf Dauer wahrscheinlich zu öde.«
»Jura.«
»Was?«
»Rechtswissenschaften, das würde zu deinem Detektivkram passen.«
»Ist mir zu trocken. Ich dachte eher an so was wie Germanistik, vielleicht.«
Philipp verzog den Mund. »Deutsch und Sport, Frau Studienrätin«, sagte er abfällig.
Ich war sauer, wollte es aber nicht zeigen. »Mein Vater sagte immer, wer nichts wird, wird Wirt oder Lehrer.«
»Und dann ist er Detektiv geworden.«
»Na und?«, fuhr ich ihn an. Auf meinen toten Vater ließ ich nichts kommen, auch wenn er mir einen schrägen Vornamen verpasst hatte. Er war einer dieser Achtundsechziger gewesen, die von der großen Revolution geträumt hatten. Später war er dann Detektiv geworden und im Kampf gegen rechtsradikale Verschwörer umgekommen.
Philipp hob abwehrend die Hände. »Ich sag ja gar nichts.«
»Schon gut. Wie läuft's denn bei dir so?«
»Hab mich für Politik und Wirtschaft eingeschrieben. Muss ja ein paar Leute geben, die durchblicken, wenn wir uns daran machen, den Neoliberalismus in die Knie zu zwingen.«
Philipp träumte vom sozialrevolutionären Umsturz. In dieser Hinsicht war er meinem Vater sehr ähnlich. Ich bin mit meinen Hoffnungen bescheidener. Mir würde es fast schon reichen, einen Revolutionär küssen zu dürfen.
»Hast du deine Eltern herumgekriegt, dass sie dir das finanzieren?«
Philipp lachte hämisch. »Nee, hab ich nicht mehr nötig. Bei mir laufen die Geschäfte zur Zeit ganz gut.« Er hob den linken Arm. An seinem Handgelenk blitzte eine teuer aussehende Uhr.
»Eine Omega, Schweizer Handarbeit. Wenn ich die wieder verkaufe, reicht's für ein Jahr.«
»Wenn sie dich wegen deiner Dealerei erwischen, reicht's für mehr als nur ein Jahr.«
»Sei nicht so spießig, Lenina.«
»Bin ich nicht. Ich finde nur, es passt nicht zu deiner Weltanschauung.«
»Haschisch ist eine revolutionäre Droge!«
»Das meine ich nicht. Du handelst kapitalistisch.«
»Quatsch! Sollen wir das Zeug etwa den Großkonzernen überlassen, damit die uns damit auch noch ausbeuten können?«
»Die Drogenmafia ist doch nichts anderes als ein Großkonzern.«
Jetzt war er richtig sauer. Er beugte sich nach vorn. »So wie du redest, kannst du ja gleich zu den Bullen gehen. Privatbullin bist du ja schon.«
»Red nicht so ein Blech«, sagte ich ruhig.
Das war jetzt der Moment, wo ich ihn an den Ohren hätte packen können. Er war nah genug dran. Ich hob die Hände. Aber wie das oftmals so ist, schießen mir im richtigen Augenblick die falschen Impulse durchs Hirn. Anstatt seinen Kopf zu packen, fasste ich nach dem Handgelenk mit der Uhr und sagte: »Oh, es ist schon spät. Ich hab noch einen Termin.«
Er sah mich spöttisch an. »Echt?«
Seine Augen waren leicht blutunterlaufen, er hatte sich mindestens drei Tage nicht rasiert und drei Wochen nicht...
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