Schweitzer Fachinformationen
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Hana
Insel Jeju, Sommer 1943
Hana ist sechzehn und kennt nichts anderes als ein Leben unter Besatzung. Japan annektierte Korea im Jahr 1910. Hana spricht fließend japanisch, in der Schule lernt sie japanische Geschichte und Kultur, und es ist ihr verboten, in ihrer koreanischen Muttersprache zu sprechen, zu lesen oder zu schreiben. In ihrem eigenen Land gilt sie als zweitklassige Bürgerin mit geringeren Rechten, aber das tut ihrem Stolz als Koreanerin keinen Abbruch. Hana und ihre Mutter sind haenyeo, Frauen des Meeres, und sie arbeiten selbstständig. Sie leben in einem kleinen Dorf an der Südküste der Insel Jeju und tauchen in einer Bucht, die von der Hauptstraße zur Stadt nicht einsehbar ist. Hanas Vater ist Fischer. Mit den anderen Männern aus dem Dorf befährt er das Südmeer und meidet dabei die kaiserlichen Fischerboote, die Koreas Küstengewässer plündern, um den Fang dann zurück nach Japan zu bringen. Hana und ihre Mutter haben nur mit japanischen Soldaten zu tun, wenn sie zum Markt gehen, um ihren Fang zu verkaufen. Das verschafft ihnen eine Freiheit, die nicht viele auf der anderen Seite der Insel, nicht einmal auf dem koreanischen Festland hundert Meilen weiter im Norden, genießen dürfen. Die Besatzung ist ein Tabuthema, besonders auf dem Markt. Nur die Tapferen wagen, es anzuschneiden, und selbst dann nur flüsternd und hinter vorgehaltener Hand. Die Dorfbewohner sind die hohen Steuern leid, die erzwungenen »Spenden« für Kriegszwecke und die Entsendung von Männern an die Front, um dort zu kämpfen, und von Kindern, um in japanischen Fabriken zu arbeiten.
Auf Hanas Insel ist das Tauchen Frauenarbeit. Die Frauen kommen körperlich mit den Tiefen des Meeres leichter zurecht als die Männer. Sie können den Atem länger anhalten, tiefer tauchen und ihre Körpertemperatur besser bewahren, und deshalb genießen die Frauen der Insel Jeju seit Jahrhunderten eine seltene Unabhängigkeit. Hana folgte ihrer Mutter schon in frühem Alter ins Meer. Sobald sie das Köpfchen heben konnte, lernte sie schwimmen. Allerdings war sie schon fast elf, als ihre Mutter sie zum ersten Mal mit ins tiefere Wasser nahm und ihr zeigte, wie man Abalonen von Felsen am Meeresgrund abschnitt. In ihrer Aufregung ging Hana früher als erwartet die Luft aus, und sie musste rasch zurück an die Oberfläche. Ihre Lunge brannte. Als sie schließlich auftauchte, atmete sie mehr Wasser als Sauerstoff ein. Prustend, das Kinn kaum über dem Wasser, verlor sie die Orientierung und geriet in Panik. Plötzlich kam eine Welle und begrub sie unter sich, so dass sie noch mehr Wasser schluckte.
Mit einer Hand schob ihre Mutter Hanas Kopf aus dem Wasser. Heftig hustend, schnappte Hana nach Luft. Nase und Hals brannten. Ihre Mutter, die sie sicher im Nacken hielt, redete sanft auf sie ein, bis sie sich wieder erholt hatte.
»Beim Auftauchen musst du immer zum Ufer hinsehen, sonst verlierst du die Orientierung«, sagte ihre Mutter und drehte Hana zum Land hin. Dort saß ihre jüngere Schwester im Sand und passte auf die Eimer mit dem frischen Fang auf. »Halte nach jedem Tauchgang nach deiner Schwester Ausschau. Vergiss das nie. Wenn du sie siehst, bist du in Sicherheit.«
Als Hana wieder normal atmete, ließ ihre Mutter sie los und tauchte mit einer eleganten Rolle vorwärts wieder in den Ozean ein. Hana sah noch ein bisschen länger zu ihrer Schwester hin, ließ den heiteren Anblick, wie das kleine Mädchen am Strand saß und auf die Rückkehr ihrer Familie aus dem Meer wartete, auf sich wirken. Als es ihr wieder richtig gutging, schwamm Hana zur Boje und gab ihre Abalonen zum Fang ihrer Mutter, der sicher in einem Netz verstaut war. Dann machte sie selbst eine Rolle vorwärts und tauchte hinunter in das brummende Innere des Ozeans, auf der Suche nach einem weiteren Meerestier, das sie ihrer Ernte hinzufügen konnte.
Ihre Schwester war noch zu jung, um mit ihnen so weit vom Ufer entfernt zu tauchen. Wenn Hana auftauchte und zum Ufer blickte, jagte ihre Schwester manchmal Möwen nach und fuchtelte wild mit irgendwelchen Stöcken herum.
Hana war schon sieben Jahre alt, als ihre Schwester zur Welt kam. Sie hatte befürchtet, sie würde ihr Leben lang ein Einzelkind bleiben. Von ganzem Herzen hatte sie sich einen jüngeren Bruder oder eine Schwester gewünscht - alle ihre Freundinnen hatten zwei, drei, manche sogar vier Geschwister, mit denen sie jeden Tag spielen und sich die Hausarbeit teilen konnten, während Hana alles alleine erledigen musste. Doch dann wurde ihre Mutter schwanger, und Hanas Vorfreude war so groß, dass sie jedes Mal strahlte, wenn sie einen Blick auf den immer dicker werdenden Bauch erhaschte.
»Heute bist du viel dicker, Mutter, ja?«, fragte sie am Morgen der Geburt ihrer Schwester.
»Ja, ich bin sehr, sehr dick, und unwohl fühle ich mich auch«, antwortete ihre Mutter und kitzelte Hanas Bauch.
Hana ließ sich auf den Rücken fallen und kicherte vor Vergnügen. Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, setzte sich Hana neben ihre Mutter und legte ihr die Hand auf den gewölbten Bauch. »Meine Schwester oder mein Bruder müssen doch jetzt fast fertig sein, Mutter?«
»Fast fertig? Das hört sich an, als würde ich Reis in meinem Bauch kochen, du Dummerchen!«
»Nicht Reis, aber meine neue Schwester . oder meinen Bruder«, fügte Hana rasch hinzu und spürte einen zaghaften Tritt gegen ihre Hand. »Wann kommt sie oder er heraus?«
»Vor mir sitzt eine sehr ungeduldige Tochter.« Belustigt schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Was hättest du denn lieber, eine Schwester oder einen Bruder?«
Hana wusste, die korrekte Antwort würde »einen Bruder« lauten, damit ihr Vater einen Sohn hätte, an den er sein Wissen über das Fischen weitergeben könnte, aber im Geiste antwortete sie anders. Hoffentlich bekommst du eine Tochter, damit sie eines Tages mit mir im Meer schwimmen kann.
An diesem Abend setzten bei ihrer Mutter die Wehen ein, und als sie Hana ihre kleine Schwester zeigten, konnte sie, sosehr sie sich auch bemühte, enttäuscht zu sein, ihr Glück nicht verbergen. Sie lächelte strahlend, und doch bemühte sie sich mit aller Macht, so zu klingen, als wäre sie enttäuscht.
»Es tut mir leid, dass es kein Sohn ist, Mutter, wirklich.« Hana schüttelte in gespielter Trauer den Kopf.
Dann wandte sie sich ihrem Vater zu und zog ihn am Ärmel. Er beugte sich herunter, und sie legte ihm die Hände um das Ohr.
»Ich muss dir etwas gestehen, Vater. Es tut mir sehr leid für dich, dass es kein Sohn ist, dem du das Fischen beibringen kannst, aber .« Sie holte tief Luft, bevor sie den Satz beendete. »Aber ich freue mich, dass ich eine Schwester habe, mit der ich schwimmen kann.«
»Wirklich?«, fragte er.
»Ja, aber sag es Mutter nicht.«
Mit ihren sieben Jahren beherrschte Hana die Kunst des Flüsterns noch nicht, daher gab es leises Gelächter unter den engsten Freunden ihrer Eltern. Hana wurde still. Ihre Ohren glühten. Sie versteckte sich hinter ihrem Vater und blickte unter seinem Arm hindurch, um zu sehen, ob ihre Mutter es auch gehört hatte. Ihre Mutter sah ihre älteste Tochter an, dann schaute sie hinab auf den hungrigen Säugling, der an ihrer Brust saugte, und flüsterte ihrer jüngsten Tochter etwas zu, gerade so laut, dass Hana es auch hören konnte.
»Du bist die meistgeliebte kleine Schwester auf der ganzen Insel Jeju. Weißt du das? Niemand wird dich jemals mehr lieben als deine große Schwester.« Sie blickte zu Hana hin und bedeutete ihr, an ihre Seite zu kommen. Die Erwachsenen in dem Raum verstummten, als sich Hana neben ihre Mutter kniete. »Du bist jetzt ihre Beschützerin, Hana«, sagte die Mutter ernst.
Hana betrachtete ihr winziges Schwesterchen. Sie streckte die Hand aus, um den schwarzen Haarflaum zu streicheln, der ihr auf dem Kopf wuchs.
»Sie ist ja ganz weich«, staunte Hana.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du bist jetzt eine große Schwester, und das bringt Verpflichtungen mit sich. Zuallererst bist du ihre Beschützerin. Ich werde nicht immer da sein können. Wir leben vom Tauchen im Meer, wir müssen regelmäßig zum Markt, deshalb wirst von jetzt an du auf deine kleine Schwester aufpassen müssen, wenn ich es nicht kann. Kann ich mich auf dich verlassen?«, fragte ihre Mutter ernst.
Hana zog die Hand sofort zurück. Sie neigte den Kopf und antwortete gehorsam: »Ja, Mutter, ich werde auf sie aufpassen. Das verspreche ich.«
»Ein Versprechen gilt für immer, Hana. Vergiss das nie.«
»Ich werde daran denken, Mutter, immer.« Hanas Blick ruhte auf dem friedlichen Gesicht ihrer schlafenden kleinen Schwester. Dem Baby tropfte etwas Milch aus dem Mundwinkel, und ihre Mutter wischte sie mit dem Daumen ab.
Während die Jahre vergingen und Hana anfing, mit ihrer Mutter im tieferen Wasser zu tauchen, gewöhnte sie sich daran, ihre Schwester in der Ferne zu sehen, das Mädchen, mit dem sie nachts unter einer Decke schlief und das alberne Geschichten in die Dunkelheit flüsterte, bis schließlich der Schlaf kam. Das Mädchen, das über wirklich alles lachte, sie hatte ein Lachen, das jeden ansteckte. Sie wurde Hanas Anker, der sie mit dem Ufer und mit dem Leben verband.
Hana weiß, ihre Schwester zu beschützen, bedeutet, sie von japanischen Soldaten fernzuhalten. Das hat ihr die Mutter eingebläut: Sie dürfen euch niemals zu Gesicht bekommen! Und lass dich vor allem nicht alleine von einem erwischen! Die warnenden Worte ihrer Mutter sind von einer ahnungsvollen Angst erfüllt, und Hana hat mit sechzehn Jahren das Gefühl, sie hatte Glück, dass es bisher nie dazu kam. Doch an einem heißen...
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