Schweitzer Fachinformationen
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Some of them want to use you, some of them want to get used by you. Lautsprecher wummern irgendwo weit unterhalb meines Fensters. Disco-Outdoor-Spinning. Na prima, denke ich, ausgerechnet. Some of them want to abuse you, some of them want to be abused. Ein Remix des Eurythmics-Hits aus den Achtzigern. Ein Hit zum Abtanzen, ich habe ihn geliebt. Diese Version ist schneller als das Original, metallisch, peitschend. Ich lehne mich über die Fensterbrüstung: Da strampeln sie schwitzend auf ihren Spinningrädern. Sweet dreams are made of this, who am I to disagree. Ja, denke ich, ja, so ist es wohl.
In einem der gehobenen Touristik-Clubs auf den Kanaren. Hier ist Tag für Tag Party. Von morgens bis abends Sport und Unterhaltung, von Spinning über Latschenweitwerfen am Strand bis zu Quiz am Pool. Immer sind von irgendwo die Bässe einer treibenden, rhythmischen Musik zu hören, von Schlager bis Techno, immer hört man aus irgendeinem Event Johlen und Rufe. »Ohne Spaß kein Fun«, brüllt der Animateur in sein Mikrofon. An jedem Tresen, an jedem Esstisch, am Pool, in der Sauna, auf dem Tennisplatz oder der Yogamatte - die Menschen zeigen sich und wollen gesehen werden. In trendigen Sportklamotten, opulenter Abendgarderobe, strahlend weißen Bademänteln oder Designer Casual Wear.
Wie ich dieses Ambiente genieße. Das hier ist mein Schutzgebiet, mein Unsichtbarkeitsasyl, schon seit einigen Jahren zieht es mich immer wieder zum Schreiben hierher. Ich liebe dieses überhitzte Treiben, das mir nichts bedeutet, schmiege mich in die Geschäftigkeit der anderen wie in ein samtenes Futteral. Die vielstimmigen Aufgeregtheiten, die nichts von meinem stillen Vergnügen wissen, sind mir willkommen. Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: das Schaulaufen am Abend auf Highheels, das Sich-Spreizen, die Salven überdrehten Gelächters, die Sixpacks unter tief aufgeknöpften Hemden, das viele Bling-Bling - alle wetteifern sie emsig um Rang und Prestige. Wer könnte es ihnen verdenken. Ich bewege mich unter diesen Vergnügungswilligen ohne jeden Vorbehalt. Lächle vor mich hin, schlendere leise summend über das Gelände, bleibe zuweilen stehen und schaue ihnen allen ungeniert bei ihren illustren Tätigkeiten zu. Ich bin alt. Alte Frauen sieht man nicht.
Obwohl gewissermaßen am Spielfeldrand stehend, unbeachtet und unbehelligt, gehöre ich hier dazu, bin Teil der Club-Gemeinschaft, ein Menschenwesen unter anderen Menschenwesen. Hier darf ich, in Anonymität wunderbar geborgen, wochenlang keine Bekanntschaften schließen, mich Stunden und Tage verkriechen oder struppig und gedankenverloren die Laufwege der anderen kreuzen. Ausgerechnet die Fremdheit ihrer Gelüste und Alltagsrituale verschafft mir ein Gefühl tiefer Verbundenheit. Everybody's looking for something. Eine Figur aus dem Fünfziger-Jahre-Roman »Illusionen« kommt mir in den Sinn, eine ungefähr gleichaltrige Frau, die Gefallen daran findet, zur Rush Hour allein durch die Einkaufsstraßen einer Großstadt zu gehen und dabei mit dem Menschenstrom zu verschmelzen. Über sie heißt es: »Das Bewusstsein der Vereinzelung erlosch, sie genoss [.] ein köstliches Dazugehören, ein schicksalsloses, namenloses Untertauchen.« 1 Die Frau empfindet, genau wie ich in dieser Gesellschaft hier, den sie umgebenden Rumor als Bedingung der Möglichkeit eines Seelenfriedens, den nur ein solches auf Verbundenheit bezogenes Alleinsein gewähren kann.
Ich denke an die Schattenwelt all der anderen »älteren« alleinstehenden Frauen, gleichsam den Seniorinnenclub der »Singulären Frau«, über die Katja Kullmann so erhellend geschrieben hat.2 Das ist meine Kohorte. All die Fräuleins, Späten Mädchen und Alten Juffern, wie sie in der westfälischen Familie meines Vaters genannt wurden. Für mich als Pubertierende waren sie Gespenster, peinliche, unglückliche, unerlöste Gestalten. Lauthals und unermüdlich postulierte ich, niemals je so enden zu wollen. So beschäftigt war ich damit, dass sich meine Mutter sogar veranlasst sah, die entsprechenden Frauen in unserer Bekanntschaft in Schutz zu nehmen: »Jeder hat sein Schicksal, Kind, nun sei mal nicht so.« Doch die volkstümlichen Schmähbegriffe leisteten bei mir ganze Arbeit: Besonders augenfällig durch das der Juffer gern vorangestellte Adjektiv »vertrocknet« wurde diesen Frauen ihr geschlechtliches und damit lebendiges Sein abgesprochen - letztlich also ihre Daseinsberechtigung. Das war es wohl, wovor mir graute.
I travel the world and the seven seas. Und am Ende ist es allen Schwüren meiner Jugend zum Trotz doch passiert. Das Alleinsein. Inzwischen - das habe ich absolut nicht kommen sehen - macht mir die Sache richtig Spaß. Eine kapitale Last der vergangenen Lebensjahrzehnte ist mir unversehens vom Gemüt gepurzelt (wann geschah das?), all die körperliche Beklommenheit in der Öffentlichkeit, die immerwährende Selbstüberprüfung mit den Augen der anderen. Bin ich zu dick? Zu dünn? Zu groß? Zu ungelenk? Zu schlampig, zu auffallend gekleidet? Zu geschminkt? Zu wenig gestylt? Ist mein Gang, sind meine Bewegungen weich genug, um als weiblich zu gelten, und bestimmt genug, damit ich überhaupt als eigenständiges Wesen wahrgenommen werden kann? Fällt es auf, dass ich allein unterwegs bin? Und wenn ja, habe ich dann überhaupt ein Daseinsrecht? All diese Fragen, die noch in meinem Körper stecken, knapp unter der Haut, sind hinfällig. Die ewige innere Spannung, als Frau gesehen und doch nicht belästigt werden zu wollen, hat sich gelöst. Alte Frauen sieht man nicht. Es sei denn, sie verhalten sich unbotmäßig, schrill, schrullig - dann sind sie ein Ärgernis. Ein Ärgernis aber bin ich nicht. Ich zähle einfach nicht. Welch unglaublich süße Freiheit.
Ich sitze in meinem Turmzimmer hoch über dem Meer am Fenster und schreibe. Es ist still hier drin, das tosende Club-Remmidemmi rundum gedämpft, nur ein willkommenes Grundrauschen der Stille. Die Tastatur klackert willig und diskret. Gleich hinter dem Monitor, wenn ich aufschaue, das Meer. Weit, so weit, und heute nahezu unwirklich blau. Atlantische Ewigkeit. Draußen, wo die Tiefsee beginnt und die großen Schiffe kreuzen, tragen die Wellen weiße Schaumkronen, dort muss es stürmisch sein.
Im Zimmer nebenan wird mit einem lauten Rumms die Balkontür geöffnet. Es wohnt dort ein bemerkenswert unauffälliges Paar. Mittelalt, mittelgroß, mittelblond, mittelfreundlich. Deutsche. Ich begegne ihnen manchmal im Hotelflur oder auf dem Gelände. Stets in sportlicher Outdoor-Kleidung mit kleinen Tagesrucksäcken, praktisch, blass, unsexy. Wenig typisch für das Ambiente hier. Ihre Gesichter sind leicht zu vergessen, nicht aber ihre stets einander liebevoll zugeneigten Körper. Sie beschäftigen meine Fantasie, diese beiden. Haben sie Kinder, ist vielleicht unlängst der letzte Nesthocker nach dem Bachelor endlich ausgeflogen, handelt es sich also um ein altes, vertrautes Paar, das sich einen zweiten Honeymoon gönnt? Oder haben sie sich im Gegenteil gerade erst kennengelernt, via Internet vielleicht, und sind frisch verliebt? Alles könnte sein. Wann immer ich meine Zimmernachbarn sehe, sind ihre Silhouetten durch eine Berührung verbunden. Wenn sie gehen, halten sie einander an den Händen, wenn sie stehend mit anderen plaudern, lehnen sie sich leicht aneinander oder umfassen die Taille des jeweils anderen, wenn sie sitzen, berühren sich als Minimalkontakt ihre Knie unter dem Tisch. Führt ein Impuls von außen dazu, dass sie sich voneinander lösen müssen, vergeht kaum ein Wimpernschlag, und ihre Körper streben wieder aufeinander zu, wie Pflanzen, die sich dem Licht entgegenstrecken.
Ich finde das entsprechende Gefühl sofort in mir wieder, kann den magnetischen Sog dieser inneren Ausrichtung auf ein Gegenüber förmlich spüren. Eine sanfte immerwährende Hinbewegung, der sich alles andere fügt. Gleich werden sie sich lieben, meine Zimmernachbarn, es ist ihre Zeit: Sie gehen morgens früh zum Sport, danach ein ausgiebiges Frühstück, dann zurück ins Zimmer, wo sie, wie auch ich es stets tue, als Erstes die Balkontür öffnen. Und dann, so stelle ich es mir vor, sinken sie in der hereinwehenden Sonnenluft kosend auf das vom Roomservice frisch gemachte Bett und lieben sich. Ich höre sie. Sie können es nicht wissen, aber ich habe sie mit alldem richtig gern in meiner Nähe. Ihre alltägliche Liebesversunkenheit, die atemberaubende Zartheit im Umgang...
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