Schweitzer Fachinformationen
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Das Erste, was ich tat, als ich diese Welt betrat, war, meine Mutter zu töten. Als kräftiger, rötlich glänzender Siebenpfünder wurde ich an einem kalten Märztag 1899 in Edinburgh aus ihrem Leib ausgestoßen. Gern stelle ich mir vor, dass ihr einige Stunden lang bewusst war, wieder einen Sohn bekommen zu haben, aber ich habe keinen Beweis dafür. Das Datum meiner Geburt ist das Datum ihres Todes, und damit begann mein ganzes Unglück. Mein Vater? Mein Vater war in der Vorlesung bei seinen Anatomiestudenten in der Universität. Sogleich wurde jemand geschickt, um ihn von der Entbindung meiner Mutter zu unterrichten, aber der Bote, ein begriffsstutziger Dienstmann namens McPhail, kam nicht in den Hörsaal hinein. Mein Vater wollte sich nicht unterbrechen lassen und pflegte die Türen von innen zu verschließen. Ich glaube, an diesem Tag lag sogar ein Leichnam auf dem Leichensockel vor seinem Lesepult. Nachdem er versucht hatte, die Tür zu öffnen, spähte der Bote, McPhail, durch die Türscheibe, sah die Leiche und beschloss angeekelt, bis zum Ende der Vorlesung zu warten. Später tauchte mein Vater auf, um die gute und die schlechte Nachricht zu erfahren. Als er im Krankenhaus eintraf, war ich am Leben, und seine Frau war tot.
Was empfand er? Fast sehe ich es noch vor mir, wie er sich mit seinem blutleeren, knochigen Gesicht, mit den dichten Büscheln unrasierter Bartstoppeln auf den Backenknochen über das Kinderbettchen beugt. Gewöhnlich zeigte sich keinerlei Regung darin. Weder Freude noch Verzweiflung. Vielleicht wurde der Tabakgeruch, der normalerweise in seinen Kleidern hing (er rauchte 60 Stück pro Tag), von einer schwachen Ausdünstung von Kampfer und Formaldehyd überlagert. Auch seine Hände, die fest auf dem Bettrahmen ruhten, waren meist parfümiert, mit Karbol, und die Nägel waren weiß umrandet von Resten des Talkumpuders, das das Gummi seiner grauen, durchscheinenden Operationshandschuhe geschmeidig erhielt.
Mein Vater war normalerweise ein reinlicher Mensch, fast von Reinlichkeit besessen, und ich konnte nie verstehen, warum er nicht den schmalen Talkumrand, der sich auf seinen Nagelhäuten festgesetzt hatte, mit einem Streichholz oder einem Taschenmesser entfernte. Das war eine von zwei persönlichen Eigenheiten, die mir immer unangenehmer aufstießen. Die andere bestand darin, dass er sich diese Bartstoppeln auf den Wangen nicht abrasieren wollte. Sichelförmig ragte ein dichter Bart bis unter seine Augen. Das ist eine Marotte, die ich bei Engländern, besonders bei Armeeoffizieren, öfter beobachtet habe, doch ich würde sagen, dass mein Vater von Marotten nahezu frei war - warum hielt er also an einer so aufdringlichen fest? Als ich größer war, hat mich das manchmal fast bis zum Wahnsinn gereizt.
Wenn ich, was selten vorkam, meinen Vater schlafend antraf, blieb ich stehen und starrte in wächserne Gesichtszüge, die - wegen der Blässe seiner Haut - sanft und zugleich - wegen der Scharfkantigkeit seiner Gesichtsknochen - grob waren, und es verlockte mich sehr, ihn unbemerkt zu rasieren. Ich hätte ihm zumindest auf einer Seite den Bewuchs entfernen oder so schwer beschädigen können, dass er ihn auch auf der anderen Seite hätte abrasieren müssen. Aber natürlich habe ich mich nie getraut, und der Backenbewuchs blieb.
Es ist durchaus angemessen, wenn Sie sich nun fragen, warum ich mich so auf dieses Thema versteife. Ich möchte es so erklären: Wenn man mit jemand zusammenlebt und Tag für Tag sein Gesicht sieht und den Betreffenden nicht liebt, dann ist der tägliche Umgang mit diesem Menschen nur erträglich, wenn an seinem Gesicht oder seiner Person nichts ist, was den Blick auf sich zieht. Gleichgültig, ob er eine Narbe hat, ob er schielt, ob er einen Tick oder einen Leberfleck hat, die Augen wandern unwiderstehlich dorthin. Sie kennen das: Im Kino kommt es manchmal vor, dass sich ein Haar oder ein Fussel auf der Linse des Projektors verfängt und am Bildrand hin- und herzuckt, dass man verrückt werden könnte, bevor es endlich entfernt wird. Haben Sie sich, wenn das passierte, jemals ganz auf das konzentrieren können, was auf der Leinwand geschah? Niemals. Ein irritierender Makel auf dem Gesicht eines ständigen Gefährten hat die gleiche Wirkung: Dauernd wird ein Großteil Ihrer Aufmerksamkeit davon in Anspruch genommen. So war es bei mir und meinem Vater. Gewöhnlich ärgerte er sich über mich, und ich war aufgebracht über ihn.
Habe ich meinen Vater also nicht geliebt? Ich weiß es nicht. Vielleicht doch, auf meine Art. Sicher war die Beziehung kompliziert genug, um als so etwas wie Liebe gelten zu können. Ich weiß, dass er mich nie geliebt hat, aber das ist, soweit es um mich geht, von untergeordneter Bedeutung. Er hat mich ganz einfach deshalb nicht geliebt, weil ich ihn ständig an seinen Verlust erinnerte. Später kam dieser Zusammenhang auf paradoxe Weise wieder zum Vorschein. Bei einer unserer letzten Begegnungen - er war in den Achtzigern, ich in den Fünfzigern - gewahrte ich (ich hatte mich umgedreht, um Tee zu bestellen) in der leicht angelehnten Glastür eines Mahagonischränkchens sein Spiegelbild. Es zuckte merklich um seine Nasenflügel, und er schüttelte still und angewidert den Kopf. Ich weiß noch, dass ich an diesem Nachmittag besonders nett zu ihm war, obwohl er furchtbar gereizt war. Aber in dieser Phase meines Lebens konnte nichts, nicht einmal er, meine misanthropische Ruhe stören. Das Letzte, was er damals zu mir sagte, war: »Warum lässt du dir nicht deine verdammten Haare schneiden?« Haare. Sehr treffend. Der Kreis hatte sich geschlossen. Fast hätte ich erwidert, dass ich es machen ließe, wenn er sich seinen blöden Backenbart abrasierte, dass ich, wenn er das getan hätte, in den letzten dreißig Jahren verdammt mehr von ihm gesehen hätte, aber ich hielt meinen Mund. Ich sehe noch seine blassblauen Augen, hart und klar, von silbrigen Brauen oben und unten eingefasst, und ich höre noch seinen starken, metallischen, strengen schottischen Akzent (ich hatte ihn, noch ein Grund zur Verachtung, inzwischen verloren). »Ja, Papa«, sagte ich, »du hast recht.« Zweiundfünfzig Jahre alt und noch immer bemüht, dem alten Mistkerl zu gefallen. Gott stehe mir bei!
Aber ich schweife ab. Lassen Sie mich etwas über das Unternehmen sagen, auf das wir beide, Sie und ich, uns eingelassen haben. Es geht um die Geschichte eines Lebens. Um mein Leben. Das Leben eines Mannes im 20. Jahrhundert. Um das, was ich getan habe, und um das, was andere mir angetan haben. Wenn ich hier und da unabsichtlich etwas ausgeschmückt habe, so nur, um eine gelegentliche Erinnerungslücke auszufüllen. Manchmal habe ich vielleicht für eine Tatsache gehalten, was lediglich eine Wahrscheinlichkeit war, aber ich habe nie - und das betone ich - etwas als wahr dargestellt, wenn ich wusste, dass es nicht stimmt. Ich präsentiere mich so, wie ich war - gemein und verächtlich, wenn ich mich entsprechend verhalten habe, und hilfreich, großmütig und selbstlos, wenn ich so gewesen bin. Die Menschen um mich herum habe ich immer scharf beobachtet, und mich selbst habe ich von dieser kritischen Prüfung nicht ausgenommen. Ich bin kein Zyniker; ich bin nicht voreingenommen. Ich bin einfach Realist. Ich gebe keine Urteile ab. Ich beobachte bloß. Hier bin ich also. Sie mögen über meine unglaublichen Fehler stöhnen, mich wegen meiner unzähligen Torheiten ausschelten und über meine Bekenntnisse schamrot werden, doch ich frage mich, ob Sie wirklich die Hand aufs Herz legen und sagen können: »Ich bin besser als er«?
Mein Name ist John James Todd. Mein Vater war Innes McNeil Todd, chirurgischer Oberarzt am Königlichen Krankenhaus und Professor der klinischen Anatomie an der Universität. Als ich geboren wurde, war er siebenunddreißig Jahre alt, erstaunlich jung für einen Mann in seiner bedeutenden Stellung, und den schnellen Aufstieg verdankte er seinem Eifer für Experimente und Neuerungen. Er war ein »Fortschrittlicher« in der Welt der Medizin, aufrichtig bemüht, sie dem zähen Einfluss ihrer mittelalterlichen Vergangenheit (die im späten 19. Jahrhundert noch immer beunruhigend stark war) zu entreißen. Er spürte ein Aufleuchten im Osten, und er wollte dabei sein, um den Neubeginn zu begrüßen. Er hat alles versucht, um ihren Fortschritt zu fördern - das war sein Bestreben -, und manche seiner Bemühungen haben etwas bewirkt.
Meine liebe Mutter war Emmeline Dale, Tochter von Sir Hector Dale aus Drumlarish, Argyllshire, einem Gutsbesitzer mit riesigen Flächen, wenig Vermögen und noch weniger Verstand. Meine Eltern heirateten 1891. Meine Mutter war das fünfte Kind von Sir Hector (seine Frau, ihre Mutter, starb, als sie fünf war). Sie hatte vier ältere Brüder und eine jüngere Schwester, Faye, die in England lebte. Nach allem, was man hört, hat meine Mutter meinen Vater sehr geliebt. Sie lernten sich kennen, als er kam, um einen entzündeten Kropf an Sir Hectors Hals zu verätzen. Zu jener Zeit besaß Sir Hector ein Stadthaus in Edinburgh, das in der Ann Street in der Neustadt lag (und leider kurz darauf verkauft wurde); dort verbrachte die Dale-Familie die ärgsten Wintermonate, um im Frühjahr in das große Haus in Drumlarish zurückzukehren. Innes Todd heiratete Emmeline Dale in der Pfarrkirche St. Mungo in Barnton, damals ein außerhalb Edinburghs gelegenes Dorf, aus dem die Todds ursprünglich stammten. Sir Hector überließ seiner Tochter eine bescheidene Mitgift, und das junge Paar zog in die riesige Wohnung, die mein Vater - er wird gewusst...
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