KAPITEL 1
Der schwarze Rolls-Royce mit den goldenen Beschlägen stand glänzend in der Nachmittagssonne vor dem Eingang zum Flugterminal für Privatflüge des LAX, des Los Angeles International Airport. Morton zog die Jacke seiner Chauffeurlivree zurecht. Er wartete neben dem Rolls-Royce auf seinen neuen Fahrgast, den er für die nächsten Tage chauffieren würde. Mortons Blick glitt über den Wagen. Nach all den Jahren erfüllte es ihn immer noch mit Stolz, diesen wunderschönen Oldtimer fahren zu dürfen. Mit seinem weißen Handschuh fuhr er sanft über die Motorhaube und wischte dabei ein Staubkorn fort.
Als sich die Glastüren des Flughafens öffneten, wandte Morton seine Aufmerksamkeit dem breitschultrigen Mann zu, der zielstrebig auf ihn zusteuerte. Das musste sein Fahrgast Mr Wise sein. Mit federndem Gang kam Mr Wise auf Morton zu. Der Mann war nur etwas kleiner als Morton, der mit seinen 1,90?m die meisten Leute überragte. Trotz des warmen Wetters trug Mr Wise einen teuren hellgrauen Anzug. Morton hatte ihn sich älter vorgestellt, da er der Inhaber eines weltweit operierenden Technologieunternehmens war. Von Mikrochip-Produktion bis Überwachungstechnik hatte die Firma G. J. WiseTec überall ihre Finger im Spiel. Ursprünglich hatte die Firma mal mit der Produktion von Glücksspielautomaten begonnen. Doch diese Anfänge lagen weit zurück. Morton hatte einen Bericht über die Firma im Business Journal gelesen.
»Mr Wise, Sir?« Morton straffte sich und öffnete formvollendet die hintere Autotür.
»Das ist richtig, mein Bester. Ich bin Gideon James Wise und Sie müssen Morton sein.«
Der Chauffeur nickte und Mr Wise streckte ihm die Hand entgegen. An seinem Ringfinger blitzte ein goldener Siegelring im Sonnenlicht auf. »Ich freue mich sehr, Morton. Mr Gelbert von der Autovermietung hat mir zugesichert, dass ich dieses Mal einen waschechten Briten als Fahrer haben werde. Ihr Kollege, dieser Perkins, hat mich bei meinem letzten Aufenthalt in Rocky Beach gefahren. Er hat meinen Ansprüchen an einen Fahrer in keiner Weise genügt.«
Morton zog lediglich eine Augenbraue hoch und verkniff sich eine Bemerkung. Ein guter Chauffeur wusste immer, wann es angemessen war zu schweigen. Stattdessen deutete er auf den Aktenkoffer, den Mr Wise trug und fragte: »Haben Sie kein weiteres Gepäck dabei, Sir?«
Mr Wise schüttelte den Kopf. »Mein Gepäck habe ich vorausgeschickt. Es müsste schon im Hotel sein.«
»Wünschen Sie, dass ich den Aktenkoffer im Kofferraum verstaue?«, fragte Morton.
»Nein, das ist nicht nötig. Ich trenne mich nie von ihm.« Mr Wise schenkte dem Chauffeur ein strahlendes Lächeln und stieg in den Rolls-Royce. Morton schloss die Wagentür, umrundete das Auto und nahm auf dem Fahrersitz Platz.
»Wohin darf ich Sie bringen, Sir?« Morton hatte zwar von Mr Gelbert die Information erhalten, dass sein Fahrgast während seines Aufenthalts einem Clubtreffen von hochrangigen Geschäftsleuten beiwohnen wollte, die genaue Adresse des Treffens war ihm allerdings noch nicht genannt worden.
»Zuerst fahren wir zum Wilshire Boulevard 2895.«
Bei der Nennung der Adresse zuckte Morton kurz zusammen. Er sah in den Rückspiegel und suchte den Blick von Mr Wise. Doch dieser gab keine weitere Erklärung von sich. Vielleicht war es nur ein Zufall, dass ihm sein Fahrgast diese Adresse genannt hatte, dachte sich Morton und startete den Wagen. Es stand ihm nicht zu, Mr Wise danach zu fragen, was er ausgerechnet dort wollte. Schweigend fuhr Morton los. Die Straßen waren um die Zeit voll und vor jeder roten Ampel stauten sich die Autos. Die Strecke, die man normalerweise in 34 Minuten schaffte, zog sich in die Länge. Morton steuerte den Rolls-Royce souverän durch den Feierabendverkehr. Mr Wise blickte eine Zeit lang aus dem Fenster und wandte sich dann plötzlich Morton zu. »Sagen Sie, kennen Sie sich mit dem Polosport aus?«
Diese Frage überraschte Morton. »In der Tat, Sir. Ich spiele selbst Polo.«
»Hervorragend. Ich plane, mir ein neues Polopferd zu kaufen, und wollte hier in Kalifornien ein Pferdegestüt besuchen. Vielleicht könnten Sie mich begleiten? Ich lege immer Wert auf eine zweite Meinung.«
»Sehr wohl, Sir. Ich stehe Ihnen diesbezüglich gerne zur Verfügung«, antwortete Morton.
»Dann wäre dieser Punkt also abgemacht. Ich wusste doch, dass mir ein echter englischer Gentleman von Vorteil sein wird.« Mr Wise rieb sich freudig die Hände. »Ich selbst habe erst vor Kurzem meine Liebe zum Polosport entdeckt. Golf lag mir bisher mehr. Spielen Sie auch Golf, Morton?«
Morton nickte langsam. »Aber ich habe sehr lange nicht mehr gespielt, Sir.«
»Das ist fabelhaft. Der Gentlemen Club wird zu Ehren meines Geburtstags ein kleines Turnier geben. Ich möchte Sie bitten, mein Caddy zu sein. Das dürfen Sie mir nicht abschlagen.«
»Sie haben Geburtstag, Sir?«, hakte Morton nach.
»Übermorgen werde ich sechzig«, sagte Mr Wise.
Morton machte große Augen. »Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Sie in keiner Weise wie sechzig aussehen, Sir.«
Mr Wise fuhr sich mit der Hand durch sein volles braunes Haar, das nur wenige graue Strähnen hatte. »Danke. Das höre ich oft. Wollen Sie mein Rezept wissen?« Mr Wise wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und jeden Tag ein Glas schottischen Whisky. Das entspannt und mindert den Stress. Stress ist der schlimmste Killer für das Aussehen.« Mr Wise zwinkerte ihm zu.
»Wir sind da, Sir.« Morton parkte den Rolls-Royce direkt vor einem großen Mietsblock auf dem Wilshire Boulevard. Das Haus war ihm nur allzu bekannt, denn im obersten Stockwerk wohnte er selbst.
Morton stieg aus und öffnete seinem Fahrgast die Autotür, doch Mr Wise blieb sitzen. »Ich denke, ich werde im Wagen warten, während Sie Ihre Sachen holen.«
»Meine Sachen, Sir?« Nun war Morton wirklich irritiert. Das passierte ihm selten. Er hatte schon so manches Erlebnis mit seinen Fahrgästen gehabt, aber dass ihn ein Kunde zu seiner eigenen Wohnadresse schickte und dann verlangte, er solle seine Sachen holen, ohne eine weitere Erklärung von sich zu geben, war ihm noch nie passiert.
Mr Wise nickte bestätigend. »Ich denke, Sie werden in den nächsten Tagen ein paar frische Sachen benötigen und vielleicht eine Zahnbürste.«
»Ich verstehe nicht, Sir -«, begann Morton, aber Mr Wise unterbrach ihn: »Hat Ihnen Mr Gelbert nicht gesagt, dass ich Sie für die nächsten fünf Tage gebucht habe?« Es klang nicht wie eine Frage.
»Ja, ich stehe Ihnen auf Abruf zur Verfügung. Sie melden sich, wenn Sie mich benötigen, dann komme ich und fahre Sie, wohin Sie es wünschen.«
Mr Wise machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, das reicht mir nicht. Ich möchte, dass Sie mir rund um die Uhr zur Verfügung stehen und ich nicht erst warten muss, bis Sie von Los Angeles nach Rocky Beach gefahren sind. Mr Gelbert hat zugestimmt, dass ich Sie, sofern ich mit Ihnen zufrieden bin, in Vollzeit buchen kann. Das Treffen des Gentlemen Clubs ist für mich nicht nur ein geschäftlicher Aufenthalt, sondern auch mit privaten Terminen verbunden. Die können spontan sein und dann möchte ich Sie vor Ort wissen. Ich war so frei, bereits ein Zimmer für Sie zu reservieren. Nachdem ich mich vergewissern konnte, dass Sie ein kultivierter Gentleman sind und umsichtig fahren, nehme ich Gelberts Angebot an.«
»Leider hat Mr Gelbert versäumt, mich über dieses Arrangement zu informieren«, sagte Morton betont freundlich. Auch wenn er mit Leib und Seele Chauffeur war, so schätzte er es gar nicht, wenn sein Chef ungefragt über seine freie Zeit verfügte. Aber vielleicht hatte Mr Gelbert bei so einem einflussreichen Kunden auch keine Wahl gehabt. Mr Wise war es anscheinend gewöhnt, dass niemand seine Wünsche infrage stellte, sondern sie ihm widerspruchslos erfüllt wurden.
Gideon Wise zuckte nur mit den Schultern. »Das sollte doch kein Problem sein, oder? Ich werde Ihnen Ihre freie Zeit großzügig vergüten und Sie können alle Annehmlichkeiten im Hotel nutzen. Natürlich komme ich für alle anfallenden Kosten einschließlich des Zimmers und der Verpflegung auf. Wie klingt das für Sie?«
Morton überlegte einen Moment. Er empfand das Verhalten von Mr Wise als durchaus übergriffig und für gewöhnlich ließ er sich nicht von Geld ködern, aber grundsätzlich waren ein paar Tage, in denen er nicht kochen musste und sich mal etwas verwöhnen lassen konnte, ein gutes Angebot. Außer seinem Schachclub hatte er diese Woche auch keine abendlichen Verpflichtungen und es wäre vermutlich unhöflich gewesen abzulehnen.
»Also gut«, lenkte Morton ein. »Es wird aber einen kleinen Moment dauern, bis ich meine Tasche gepackt habe.«
Nun lächelte Mr Wise. »Wunderbar. Ich wusste, ich kann Ihnen ein Angebot machen, das Sie nicht ablehnen können.«
Morton stieg die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Das Treppenhaus in diesem Mietsblock war heruntergekommen. Die Farbe blätterte vom Geländer. Als er auf der obersten Etage angekommen war, hörte er das Baby seiner Nachbarin schreien. Irgendwo kochte jemand und der Geruch von verbranntem Fett erfüllte den Hausflur. Als er seine Wohnungstür aufschloss, empfing ihn die wohltuende Stille seines Apartments. Der Autolärm auf den quirligen Straßen war hier oben nur entfernt zu...