4. Kapitel
Jae
Ein feuchter Film überzog meine Hände, als ich mich Moon In-sook, der Chefkuratorin des Nationalmuseums von Korea, näherte. Ich wischte sie unauffällig an meiner Hose ab und verschränkte die Arme hinter mir, während sich meine Gedanken überschlugen: Hatte sie den Sprung am Sockel bemerkt? Fand sie den Stil zu ambitioniert? Oder die Technik zu unausgereift?
Mit einem scharfen Zungenschnalzen drehte sie sich zu mir um. Das Licht der Deckenleuchte glitt über ihr makelloses Kostüm, fand Halt im schimmernden Seidenschal, der wie zufällig um ihren Hals drapiert lag. Bewunderung und Panik kämpften unter ihrem fixierenden Blick wie zwei ungleiche Gegner in meiner Brust. Sofort zogen unsichtbare Fäden meinen Oberkörper in eine Verbeugung, meine Finger verhakten sich hinter dem Rücken ineinander, fest genug, um das Zittern zu ersticken.
»Herr Park, ich gratuliere.« Feine Augenfältchen erzählten von einem Leben voller Urteile - als hätte jedes Werk, das ihrem prüfenden Blick nicht standhielt, dort seine Spuren hinterlassen. Und mich beschlich die Vermutung, dass meines dazugehörte.
»Kuratorin Moon, was für eine Ehre. Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie heute hier anzutreffen, sonst hätte ich Ihnen ein paar Worte bei der Ansprache gewidmet.«
Sie winkte ab. »Bitte, keine Umstände. Solche Anlässe sind selten für Floskeln gedacht. Ich bin aus beruflichen Gründen hier.« Ihr Lächeln hielt gerade lange genug, um respektvoll zu wirken, bevor sie den Kopf leicht neigte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf eine der Skulpturen richtete. Berufliche Gründe? Die Worte schwebten im Raum, bevor sie wie ein Gewicht auf meine Brust sanken. Mein Herz stolperte. Was wollte sie damit sagen? »Das Nationalmuseum lädt ab nächstem Monat zu einer Sonderausstellung ein.« Auf ihrem Gesicht zeichnete sich keine Regung ab. »Die Ausstellung von .«
Ein Name zuckte wie ein Blitz durch meinen Kopf. »Lee Seo-jin?«
»Wunderbar, Sie haben davon gehört.« Natürlich hatte ich das. Wer nicht? Jeder Winkel Seouls war mit seinem Gesicht und den wechselnden Darstellungen seiner Werke plakatiert. Diese Skulpturen, eingefrorene Träume in Beton und Stein, verwebten sich förmlich mit der Stadt - mit Litfaßsäulen, Bussen, mit den endlosen Korridoren der U-Bahn-Stationen. »Dann erfahren Sie nun etwas, das noch nicht publik ist.« Frau Moon senkte ihre Stimme und beugte sich näher zu mir. Ein dezenter Hauch von grünem Tee und Minze ging von ihr aus. »Das Atelier von Herrn Lee ist vorgestern Nacht niedergebrannt.«
Meine Lunge verweigerte ihren Dienst. »Niedergebrannt? Wurde . jemand verletzt?«
Frau Moon schüttelte den Kopf. »Nein, glücklicherweise nicht. Herr Lee war nicht vor Ort. Aber seine neuesten Werke .« Sie unternahm eine dramatische Pause. »Alle verloren.« Um uns herum drängten sich die Leute weiter, ihre Gespräche ein Rauschen, das mich kurzzeitig von dem Knoten in meinem Magen ablenkte.
»Wie konnte das passieren?«
Frau Moon zuckte die Schultern, ihr Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Man sagt, es war ein Unfall. Aber wer weiß das schon? Bei jemandem wie Herrn Lee - einem Künstler, der so polarisiert - könnte alles möglich sein.«
Ich konnte die Asche beinahe am Gaumen schmecken, so trocken wurde mein Mund auf einmal. Obwohl ich nickte, waren meine Gedanken längst entglitten - hin zu Bildern von Flammen, die wütend loderten, von Skulpturen, die in Scherben zersprangen, und von einem grandiosen Künstler, dessen Werk, und vielleicht auch sein Leben, in Ruinen lag.
»Wie Sie sich jedenfalls vorstellen können, ist es uns nicht möglich, eine so prominente Ausstellungsfläche drei Monate lang leer stehen zu lassen.« Trotz ihres sichtbaren Bemühens, Fassung zu bewahren, sprachen die Ringe unter ihren Augen, die unter einer feinen Schicht Make-up hindurchschimmerten, Bände über die Spuren der letzten achtundvierzig Stunden.
»Wir benötigen dringend Ersatz.« Ich schluckte, ein schaler Geschmack blieb. »Natürlich entgeht uns Ihr jüngster . Aufstieg nicht. Ihr Name fällt in den richtigen Kreisen immer häufiger. Sie sind einen mutigen Weg gegangen, diese Werkstatt völlig umzugestalten. Und die Kunst braucht mutige Leute.«
Als hätte mich ein unsichtbares Scheinwerferlicht erfasst, zog ich die Schultern zurück. Dann setzte ein unbehagliches Pochen in meiner Schläfe ein. Was sollte ich darauf sagen? Ein »Danke« hätte mechanisch geklungen, ein Abwinken zu defensiv. Stattdessen zwang ich mir ein neutrales Lächeln auf die Lippen und bemühte mich, die Spannung aus der Haltung zu nehmen. »Ich nehme meine Kunst sehr ernst.«
»Sie sind jung, ja. Aber Ihre Arbeiten beeindrucken mich, Herr Park. Sie zeigen die Qualität, die wir erwarten.« Bevor sie weitersprach, prüfte sie die Wirkung ihrer Worte mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Ich sage es freiheraus: Wir würden Sie gern als Künstler für die Sonderausstellung gewinnen.«
Meine Knie zitterten. Der Raum schien sich um mich herum zu drehen, als ob die Schwerkraft plötzlich ihre Richtung geändert hätte. Ein Teil von mir wollte lachen, nur ein kurzes, zynisches Schnauben, das diese absurde Wendung kommentierte. Doch der Rest von mir war wie eingefroren, unfähig zu begreifen, was ihre Worte wirklich bedeuteten.
»Neue Stücke?«, hörte ich Yuna fragen. »Meinen Sie neue Arbeiten, oder sprechen wir von den bestehenden Werken, die hier gezeigt werden?« Ich schielte zu ihr herüber. Ihr Kopf war leicht geneigt, die Stirn sanft gefurcht.
»Neue Stücke, unbedingt«, betonte Kuratorin Moon mit einem Hauch von Nachdruck, während ihre Augen kurz über meine bisherigen Arbeiten glitten. »Die Sonderausstellung soll etwas Neues bieten, etwas, das Ihre Handschrift trägt, aber gleichzeitig zeigt, wie viel Potenzial noch in Ihrer Arbeit steckt. Wir möchten zeigen, was Sie als Künstler ausmacht - und wohin Sie noch gehen werden.« Sie ließ die Worte einen Moment wirken, bevor ein selbstbewusstes Lächeln ihre geschürzten roten Lippen umspielte. »Vielleicht wird man unsere Zusammenarbeit eines Tages als Meilenstein in Ihrer Karriere sehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Nationalmuseum den Weg ebnet.«
Yuna nickte langsam, als hätte sie die Antwort erwartet, und warf mir dann einen vielsagenden Blick zu.
»Wie viel Zeit haben wir?«, presste ich hervor.
Kuratorin Moon ließ die Worte erst nach einem langen Atemzug fallen. »Fünf Wochen. Aber ich muss mich auf Sie verlassen können. Einen Plan B für den Plan B möchte ich nicht auftreiben müssen.«
Ich hatte fünf Wochen. Für etwas, das in einem Atemzug mit Lee Seo-jin erwähnt werden konnte. Allein die Vorstellung ließ eine Welle der Beklemmung über mir zusammenbrechen. Meine Gedanken kreisten, sprangen von einem Punkt zum nächsten, ohne Halt zu finden. Als könnten sie dort irgendeinen Anker finden, verschwanden meine Hände in den Hosentaschen, aber der Stoff konnte die Panik nicht abfangen, die wie ein Kurzschluss durch meinen Körper jagte. Für einen winzigen Augenblick begann ich, das Unmögliche zu kalkulieren - die Stunden, die Materialien. Wie sollte ich das schaffen? In fünf Wochen? Besonders in der . aktuellen Situation. Ich musste ihr höflich, aber bestimmt klarmachen, dass ich nicht bereit war. Dass ich mich über eine Zusammenarbeit in der Zukunft freuen würde. Irgendwann. Die Antwort formte sich schon in meinem Kopf, doch bevor ich einen Laut von mir geben konnte, regte sich Yuna neben mir.
»Natürlich nimmt Herr Park diese unglaubliche Gelegenheit wahr«, verkündete sie mit einer tiefen Verbeugung, bevor sie mich mit einem Blick bedachte, der sowohl ein Lächeln als auch den Hauch einer Drohung in sich trug - die Art von Ausdruck, die einem sagen sollte: »Wir sprechen später darüber.«
Frau Moon nickte zufrieden, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Wunderbar. Ich lasse Ihnen die Details zukommen.« Das Gespräch war beendet, bevor ich etwas hinzufügen konnte. Die Kuratorin wandte sich anderen Gästen zu, während Yuna sich langsam aufrichtete.
»Was?«
»Yuna .« begann ich, bemüht, die Trockenheit in meinem Mund zu ignorieren. Schon zog sie mich zur Seite, um einem sich vorbeischlängelnden Herrn mit Weinglas Platz zu machen. »Wir reden hier vom Nationalmuseum. Von K-O-R-E-A. Das ist nicht einfach mit ein paar Extrastunden im Atelier abgehandelt.«
»Genau. Und deshalb musst du es tun. Denk mal nach, Oppa. Wenn du es nicht machst, was dann?«
»Dann mache ich es -«
»Später?«, unterbrach sie mich. Sie zog die Augenbrauen zusammen, bevor sie mit einem leichten Schnauben weitersprach. »Glaubst du, das renommierteste Museum Koreas fragt dich ab jetzt jeden Monat an?« Ich öffnete den Mund, doch nichts kam heraus. »Das ist die Chance, Oppa«, fuhr sie fort. »Es gibt kein Später. Nicht bei so was.« Yuna stieß einen leisen Seufzer aus, der ihre Lippen kaum merklich kräuselte. »Du bist Künstler, Jae. Künstler schaffen Neues.«
In der Dunkelheit hinter meinen Lidern schien sich alles zu drehen - Bruchstücke unfertiger Ideen, ein Flimmern von Entwürfen. Künstler schaffen Neues. War ich dann überhaupt einer? Als ich die Augen wieder öffnete,...