Schweitzer Fachinformationen
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25. Juli. Nachmittag.
»Verstehen Sie?«
Pirlo nickt. Nötig ist das nicht. Die Frage ist rhetorisch. Sie fragt nicht aus Misstrauen. Sondern weil es ihr wichtig ist. Ihm ist klar, dass der stark geschminkten Frau klar ist, dass er versteht, was sie sagt. Zum einen ist die Geschichte einigermaßen überschaubar. Zum anderen hat sie alles schon mindestens fünfmal erzählt. Und ungefähr zweihundertmal nachgefragt.
Er nickt noch einmal. Was er versteht: Eva Pogorzelskij hatte keine einfache Kindheit. Sie wuchs in Polen auf, irgendwo in der Diaspora hinter Krakau. Die Familie war arm. Das zur Verfügung stehende Geld zu zählen war sehr einfach. Es gab fast keines. Immerhin war Eva in ihrer Jugend eine schöne Frau. Sie heiratete den Eigentümer der Konservendosenfabrik, in der sie arbeitete. Zu ihrer gemeinsamen Enttäuschung gebar sie ihm kein Kind, weswegen er sie nach ein paar Jahren verließ. Ihres liebgewonnenen sozialen Status beraubt, ließ sie sich auf eine lockere Affäre mit einem der Vorarbeiter ein. Kurz darauf war sie schwanger. Und verbittert. Als das Kind heranwuchs, nutzte Eva die Unruhe der Solidarnosc-Aufstände und setzte sich nach Deutschland ab. Sie fand eine Wohnung in Reisholz, im Speckgürtel von Düsseldorf, und begann als Putzfrau zu arbeiten. Eva schuftete Tag und Nacht. Für das Kind, Marlene, blieb wenig Zeit. Marlene verbrachte viel Zeit auf der Straße und lernte, sich dort zu behaupten. Das wenige, das Eva verdiente und das Marlene von unterschiedlichen Jobs nach Hause brachte, teilten sie und kamen so zusammen irgendwie über die Runden. Wie früher Eva, wuchs auch Marlene zu einer echten Schönheit heran. Mutter und Tochter waren so erleichtert wie glücklich, dass das auch einem erfolgreichen Mann wie WDvS-Gründer Florian von Späth nicht entging. Er hatte Marlene vor fünf Jahren geheiratet. Alles war perfekt.
Pirlo nickt. Er versteht das. Was er aber ebenso versteht: Darum geht es eigentlich gar nicht. Oder wenn, dann nur am Rand. Weswegen Eva Pogorzelskij eigentlich bei ihm auf dem Sofa sitzt: Florian von Späth ist tot. Marlene soll ihn getötet haben. Deshalb sitzt sie in Haft. Und Pirlo soll sie da rausholen.
Florian von Späth ist ihm ein Begriff. Baulöwe und Kö-Größe. Gründungsgesellschafter von Weiss.Danzinger.vonSpäth. WDvS. German Qualitiy for International Construction. Büros in der halben Welt. Sitz in Düsseldorf. Dort kam von Späth her. Dort gehörte er hin. Pirlo kennt nicht nur den Namen. Er kann auch das Gesicht vor sich sehen. Sonnengebräunt. Nach hinten gegelte blonde Haare. Zahnpastalächeln. Einer von denen, die die Kausalität der Medienberichterstattung in Frage stellten: War Florian von Späth bei einer Veranstaltung, weil die POST darüber berichtete? Oder berichtete die POST, weil Florian von Späth bei einer Veranstaltung war?
Jetzt jedenfalls ist er tot. »Aber das haben Sie ja alles mitbekommen«, sagt Eva Pogorzelskij.
Pirlo nickt wieder und blättert durch die Auszüge der POST, die sie ihm mitgebracht hat, außerdem durch die drei Seiten des lachsfarbenen Haftbefehls. Er bemüht sich, einen souveränen Eindruck zu machen. Muss ja keiner wissen, was er in den letzten Tagen getan hat. Beziehungsweise: Was nicht. Kaum beamt er sich mal ein paar Dutzend Stunden aus dem Leben, gibt es in der Stadt einen Mord, über den alle Bescheid wissen. Nur er nicht.
Glücklicherweise scheint der Sachverhalt nicht allzu kompliziert. Dazu reicht bereits das erste Überfliegen der Unterlagen. Jemand hat Florian von Späth in der Diele seiner Villa mit mehreren Stichen von hinten getötet. Der Verdacht richtet sich gegen die Ehefrau, Marlene von Späth, Evas Pogorzelskijs Tochter. Zwanzig Jahre jünger. Alleinerbin. Als eifersüchtig bekannt. »Kenner der Szene« beschreiben die Beziehung in der POST als »konfliktreich«. Bei einem Empfang soll es ein Handgemenge gegeben haben. Angeblich warf Marlene von Späth ein Glas nach ihrem Mann. Das Ganze liest sich nicht gut. Noch weniger erfreulich ist, dass Marlene von Späth für den möglichen Tatzeitraum kein Alibi hat. Von Späth war abends noch bei einer Veranstaltung gesehen worden. Von dort eilte er nach Hause, kam jedoch nicht mehr zurück. Als man ihn am nächsten Morgen in der Diele der Villa fand, lag er tot in einer riesigen Blutlache. Sein Kopf zeigte in Richtung der verschlossenen Haustür, so als sei er auf dem Weg dorthin gewesen. Marlene von Späth war angeblich die ganze Zeit im Haus und hatte nichts mitbekommen. Allerdings klingt das beim ersten Lesen nicht besonders plausibel. Von Späth wurde zu Hause getötet. Seine Ehefrau war dort. Die Haustür war geschlossen. Wenig überraschend sah die Staatsanwaltschaft einen dringenden Tatverdacht. Wegen des polnischen Ursprungs hatte der Ermittlungsrichter einen Haftbefehl erlassen. Was bedeutet: Marlene sitzt seit zwei Tagen in der Justizvollzugsanstalt Ratingen in Untersuchungshaft.
»Zu Unrecht!«, empört sich Eva Pogorzelskij. »Was soll das denn? Ist denn nicht jeder unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist?«
Pirlo nickt auch hierzu. Das mag ja alles stimmen.
Auch wenn Eva Pogorzelskij einen Punkt trifft, wenn sie daraufhin fragt: »Wieso ist meine Tochter dann in Haft?«
»Damit soll das Verfahren gesichert werden.« Pirlo weiß, dass das lahm klingt. Leider ist es aber auch richtig.
»Sie meinen, weil sie sonst das Land verlassen könnte?«
»So ungefähr.«
»Aber dafür hat sie keinen Grund! Ihr Leben ist ja hier!« Die Frau schluchzt. Pirlo sagt erst einmal nichts. Er wartet. Langsam kommt sie wieder zur Ruhe. »Marlene hat nichts Falsches getan. Das müssen Sie mir glauben. Sie hat ihren Mann verloren, und dann macht man ihr auch noch Vorwürfe. Das ist alles nicht richtig! Vor allem ist es nicht richtig, dass sie jetzt im Gefängnis sitzt.«
Pirlo beugt sich vor. »Erst einmal ist das nur die Untersuchungshaft.« Er bereut den Satz in dem Moment, in dem er ihn gesagt hat.
»Was soll das heißen, >nur<?«
Er räuspert sich. »Sie ist in Untersuchungshaft. Ohne >nur<.«
»Und wie lange bleibt sie da?«
Pirlo erinnert sich etwas wehmütig an die Zeit vor fünf Minuten, als dieses Gespräch noch einfach war und er lediglich immer wieder nicken musste. »Keine Ahnung.«
»Wenn jemand verurteilt wird, weiß man doch, wann er rauskommt, oder?«
»Ja.«
»Aber jetzt nicht?«
»Nein.«
»Obwohl das Verfahren noch läuft?«
»So ist das mit der Untersuchungshaft. Lassen Sie mich ehrlich sein: Es kann dauern, bis die aufgehoben wird.«
Eva Pogorzelskij denkt darüber nach. Dann fragt sie: »Wovon hängt das ab?«
»Wie die Ermittlungen vorankommen.«
»Ob man etwas Belastendes findet?«
»Oder etwas, das ihre Unschuld beweist.«
»Aber die Unschuldsvermutung gilt doch sowieso! Ich habe das gegoogelt.«
Pirlo nickt. Klar hat sie das. Er seufzt. »Sicher. Aber die Unschuldsvermutung ist eine bitch.«
»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«
»Nichts, schon gut.« Er bemerkt, dass er gerade Scheiß baut. Manchmal hat auch er einen lichten Moment. Vielleicht muss er nur dringend was essen. Er streckt sich. Dabei fällt ihm auf, was er da eigentlich macht. Nämlich: Mit alter Jeans und im T-Shirt in seiner Wohnung auf dem Sofa sitzen, ihm gegenüber eine entrüstete ältere Dame um die sechzig im eleganten Kostüm.
Und er flucht, räkelt sich und gähnt. Die Frau schaut etwas indigniert, sagt aber nichts. Pirlo ist derweil froh, dass er es vorhin wenigstens in aller Eile geschafft hat, sämtliche Wäschestücke und Flaschen aufzuklauben und ins Schlafzimmer zu werfen. Das Wohnzimmer sieht jetzt ganz in Ordnung aus. Zumindest, wenn es nach Pirlos Ansprüchen geht. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet, aber er war die letzten Jahre ja auch kaum hier. Das mit der Inneneinrichtung ist gerade ohnehin nicht besonders wichtig. Es gibt Dringenderes.
Eva Pogorzelskij beugt sich vor und greift nach Pirlos Händen. »Sie müssen sie verteidigen!«
Pirlo zieht die Brauen hoch und tut wichtig. Jetzt bloß nicht zu planlos erscheinen. Oder zu dankbar. Um Zeit zu gewinnen, fragt er: »Wie sind Sie auf mich gekommen?«
Sie lächelt. »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sie und diesen Fußballer, an den auch keiner geglaubt hat. Außer Sie.«
Er nickt. Metternich. War ja klar. Auch wenn es so, wie sie sagt, natürlich nicht stimmt. Pirlo überlegt. Ohmsen hat ihn nur aus der Kanzlei geworfen. Bei der Kammer angezeigt hat er ihn nicht. Pirlo ist nach wie vor Rechtsanwalt. Im Schlafzimmerschrank hängen zehn teure Maßanzüge, die jeweiligen Gürtel und Schuhe passen exakt dazu. Das ist die eine Seite. Auf der anderen hat Pirlo im Augenblick noch nicht einmal einen Schreibtisch.
Eva Pogorzelskij sieht ihn flehend an. Ihre Hände drücken seine ein klein wenig fester: »Bitte, Herr Doktor. Übernehmen Sie den Fall!«
Pirlo nickt, bevor er weiter nachdenkt. Erst schlagen, dann fragen. Das hat er schon mal wo gehört. Eines interessiert ihn dann aber doch: »Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?«
»Ich habe mich an Ohmsen gewendet, Ihre Kanzlei.«
»Meine ehemalige Kanzlei«, murmelt Pirlo.
»Wie auch immer«, sagt Eva Pogorzelskij. »Die Sekretärin hat mir gesagt, dass Sie hier sein würden. Seitdem habe ich geklingelt.«
Pirlo nickt wieder. Das ergibt alles irgendwie Sinn. Irgendwie aber auch nicht. Vielleicht sollte er einfach mal den Kopf freibekommen. Was essen. Duschen und...
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