Erster Teil
September
1
Ein leerer Stuhl. Ein kleiner Sieg.
1. September. Prozessauftakt.
Pirlo kommt nicht. Spätestens als die Richter den Raum betreten, kann Sophie sein Fehlen nicht mehr ignorieren. Er ist einfach nicht da. Im Aufstehen pustet Sophie eine Haarsträhne aus der Stirn. Eine Übersprungshandlung, klar, die ihr dabei hilft, nicht völlig auszurasten. Sie hat für diesen Moment ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sie hat gekämpft, gelitten und gearbeitet, sich mehrfach bis auf die Knochen blamiert und noch öfter in Gefahr gebracht. Alles für diesen Augenblick, in dem es endlich losgeht. Der Prozess ist da. Pirlo nicht. Der Arsch.
Sophie atmet durch. Sie beschließt, dass ihr das völlig egal ist. Ob Pirlo kommt oder nicht. Alles andere sowieso. Sie wird das hier gut machen. Einfach, weil sie es kann. Dann huscht ihr Blick doch noch einmal zu der breiten Flügeltür am Ende des Saals. Es hilft nichts. Pirlo spaziert nicht einfach herein. Die Tür bleibt zu.
»Bitte setzen Sie sich«, sagt der Vorsitzende Richter. Überall knirscht es. Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Düsseldorf gibt es noch Holzstühle. Jeder einzelne davon ist besetzt.
»Wir hätten Eintrittskarten verkaufen sollen. Für ein paar gute Mittagessen hätte das locker gereicht«, murmelt Sophie nach rechts. Es soll witzig sein. Die Atmosphäre auflockern. Marlene von Späth reagiert nicht. Sophies Mandantin hält den Kopf gesenkt und starrt auf ihre Hände. Einen Moment fragt sich Sophie, wie die von Späth im Knast eine bessere Maniküre hinbekommt als sie selbst draußen. Kurz überlegt sie, ob sie auch dazu etwas sagen soll, sieht aber ein, dass das nichts bringt. Was sie sich außerdem eingestehen muss, ist, dass sie nervös ist. Das passt nicht zu ihr. Zumindest nicht nach ihrem eigenen Selbstverständnis. Trotzdem kann sie ihre Anspannung schlecht leugnen. Zumal sie jedem hier klar sein dürfte.
Ihre Mandantin ist zwar mit sich selbst beschäftigt. Grobulla allerdings nicht. Der Oberstaatsanwalt grinst zu ihr herüber. Sogar im Sitzen wirkt er groß. Eine schwarz gerahmte Brille nimmt das halbe Gesicht ein. Die Frisur ist militärisch kurz. Die Unterlippe vorgeschoben. Sophie hat alles über ihn gelesen, was irgendwo zu finden war. Grobulla gilt als harter Hund und hat auch einige Freude an diesem Ruf. Dass er sie jetzt fast mitleidig ansieht, ist kein gutes Zeichen. Wobei: Genau genommen schaut er auf den leeren Platz neben ihr. Genau wie der Vorsitzende und so gut wie jeder andere im Saal, außer Marlene von Späth, die auf ihre Hände starrt, und Sophie selbst, die nach vorn schaut und versucht, die Contenance zu wahren. Was neben ihr ist, weiß sie sowieso. Nichts. Vor allem kein Pirlo.
Dann gibt sich der Vorsitzende Richter einen Ruck. Pirlo ist bis jetzt nicht gekommen. Es spricht wenig dafür, dass es etwas nutzt, noch länger zu warten. Bernd Adams rückt die Brille zurecht und beugt sich vor. Er sieht nicht glücklich aus. »Frau Rechtsanwältin Mahler?«
»Ja?«
»Sie vertreten die Verteidigung heute allein?«
Sophie blickt auf den Stuhl neben sich. Dann nickt sie.
»Kommt Herr Dr. Pirlo heute nicht mehr?«
Sophie könnte darauf einiges antworten. Zum Beispiel, dass sie das auch gern wüsste. Beziehungsweise, wo der Mistkerl gerade ist. Allerdings ist der Mistkerl eben auch ihr Chef, deshalb sagt sie einfach nur: »Nein. Er kommt nicht mehr. Ich vertrete Frau von Späth allein.«
»Gut«, sagt Adams, »dann fangen wir an.«
Sophie lächelt schmal und rückt ihren Stuhl zurecht, bereit für alles, was kommen mag. Marlene von Späth zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts. Das ist fast schon ein kleiner Sieg. Mit großer Sicherheit ist es für heute auch der letzte.
2
Ohmsen sieht müde aus. Pirlo ist betrunken.
22. Juli.
Der alte Mann wirkt kraftlos. Trotzdem wird er Pirlo rauswerfen. Da braucht sich hier keiner irgendwelche Illusionen zu machen. Erst recht nicht Pirlo selbst. Ohmsens Hände liegen aufeinander. Die Finger sind fleischig wie fast alles an dem alten Mann. Fleischig. Dick. Zu breit. Zu viel. Pirlo wendet den Blick von ihm ab und richtet ihn auf die kleinen Augen in dem großen Kopf des Namenspartners von Ohmsen & Partner. Ohmsen beobachtet ihn aufmerksam. Mag ja sein, dass er schweinsäugig und stumpf daherkommt. Dumm ist er nicht.
»Und?«, fragt er.
Pirlo schüttelt den Kopf. Er sagt nichts. Manchmal macht es keinen Sinn, lange zu debattieren. Jetzt zum Beispiel. Zumal sie das Wesentliche schon hinter sich haben.
Ohmsen dreht schwerfällig den Kopf in Richtung seines Sohns. »Was hast du dazu zu sagen?«
Ohmsen junior lächelt schmal. »Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt.«
»Mehr ist da nicht?«
»Mehr ist da nicht.«
Ohmsen nickt. Er starrt lange auf seine gefalteten Hände. Dann sieht er Pirlo direkt an und überrascht diesen. »Herr Dr. Pirlo, was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun?«
Pirlo kratzt sich am Kinn. Manchmal sind die einfachsten Antworten die schwierigsten. »Ich schätze mal, wir kommen hier nicht weiter.«
»In welcher Hinsicht?« Ohmsen fragt das quälend langsam. So, als wolle er die Antwort gar nicht hören. Will er auch nicht. Eigentlich. Das weiß Pirlo.
Er gibt sie trotzdem. »In jeder.«
Eine knappe Stunde später ist er draußen. Im übertragenen Sinn. Und de facto. Pirlo steht auf der Rheinpromenade und schaut auf die Kiste mit seinen Habseligkeiten. Ein paar Bücher. Ein paar Bilder. Seine Robe. Nichts, was nicht in die Umzugskiste gepasst hätte. Acht Jahre Leben, komprimiert in einer Pappschachtel. Er sieht auf den Fluss, der gemütlich unter ihm dahinfließt. Hinter ihm erhebt sich das alte Speicherhaus, einer der Prachtbauten aus der Zeit, als Düsseldorf hier noch seinen Hafen hatte. Es ist ein seltsames Gefühl, dafür keinen Schlüssel mehr zu haben. Pirlo atmet durch. Er wird sich daran gewöhnen müssen.
Wobei das Ganze eigentlich ein Witz ist. Während er mit seiner Kiste unter dem Arm die Promenade entlangläuft, erzählt er sich den Scheiß noch einmal selbst, so, wie er es am Abend seinem Freund Paolo erzählen wird. Kurz überlegt er, ob er ihn jetzt anrufen soll. Eine Weile kreist Pirlos Finger über der Anruffunktion. Dann stopft er das Telefon doch wieder in die Innentasche des Sakkos. Er sollte sich erst mal fangen. Fluchen kann er später immer noch.
Ein, zwei Mal kommt er ins Straucheln. Auf dem Weg hat er bei einem Büdchen am Burgplatz zwei Alt getrunken. Auf nüchternen Magen ist er das nicht gewohnt. Außerdem wird die Kiste allmählich doch ziemlich schwer. Die Scheißkiste! Pirlo schwitzt und schimpft. Trotzdem ignoriert er die Taxis. Er wird ja wohl noch seinen verdammten Kram bis nach Pempelfort wuchten können. Am Fortuna-Büdchen neben dem Ulanen-Denkmal legt er den nächsten Stopp ein, nimmt noch ein Alt und fixiert den Fluss. Eigentlich will er nachdenken. Klappt aber nicht. Scheiße, brummt Pirlo. Weil das, was passiert ist, halt auch scheiße ist.
Wenigstens kann man es einigermaßen schnell zusammenfassen: Der junge Ohmsen ist ein opportunistischer Drecksack. Das ist für sich genommen nicht weiter schlimm. Viele Anwälte sind das. Der junge Ohmsen ist zudem aber auch noch durchtrieben, fies und gierig. Das trifft zwar auch auf die meisten seiner Kollegen zu, aber die kennt Pirlo schon länger. Den jungen Ohmsen hat er einfach nicht ernst genug genommen. Er hat ihn unterschätzt. Das ärgert ihn am meisten. Natürlich war er genervt, dass der Alte ihm seinen Filius für das Montagex-Verfahren aufgedrückt hatte. Ausgerechnet diese heikle Nummer mit den vielen Geschäftsgeheimnissen. Zwei Manager waren gefeuert worden, weil sie Kundendaten des Automobilzulieferers an ein chinesisches Konkurrenzunternehmen gegeben haben sollen. Die Daten waren Gold wert. Wer sie hatte, konnte den Kunden von Montagex systematisch Angebote unterbreiten, die günstiger waren als die originalen Montagex-Preise. Auf diese Weise konnte das Unternehmen einfach so aus dem Markt hinausgedumpt werden. Kein Wunder, dass das strafbar war. Für die beiden Manager ging es daher um alles - ihren Job, ihre Reputation, ihre Zukunft. Bei der Suche nach Verteidigern hatten sie sich nicht lumpen lassen und sich für den großen Namen Ohmsen entschieden. Von den vierundzwanzig Anwälten dort war Pirlo einer der besten Verteidiger. Achtundreißig Jahre. Ambitioniert. Smart. Durch das Metternich-Verfahren bekannt aus Presse und Fernsehen. Bei Ohmsen auf dem Sprung zum Partner. Einer der Manager griff sofort zu. Da auch der andere einen Verteidiger brauchte, schlug Pirlo Ohmsen vor. Und zwar den alten. Der aber hatte entschieden, dass es an der Zeit sei, seinen Sprössling ins Rampenlicht zu lassen, und Pirlo gebeten, ihn an seine Seite zu nehmen. Am Ende war es gekommen wie so oft. Pirlo war dagegen gewesen, der alte Ohmsen hatte sich durchgesetzt. Einen Tag später hatte sich der junge Ohmsen als Verteidiger bestellt. An sich war das noch kein Problem. Die Verteidigung lief. Das Gute: Die Chinesen hatten die Montagex-Geheimnisse tatsächlich nicht. Die Online-Compliance von Montagex hatte die E-Mail abgefangen, mit der die Preislisten verschickt werden sollten. Das Schlechte: Die Chinesen hatten diese Listen einen Monat später schließlich doch. Bei...