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Nachdem Piet Hieronymus zweimal ohne triftigen Grund gestürzt war - er hatte einfach das Gleichgewicht verloren und war der Länge nach aufs Straßenpflaster geflogen -, entschloss er sich, seine kleine Stadtwohnung aufzugeben und in eine nahe gelegene Einrichtung für betreutes Wohnen umzuziehen. Vor Jahren hatte ihn ein Kriminalfall, in dem er als Profiler für Auslandsfälle der niederländischen Polizei ermittelte, aus seiner Heimat nach Berlin geführt. Er war in dieser Stadt hängen geblieben, und jetzt hatte er seiner Ansicht nach die Endstation erreicht: ein kleines Zimmer in einem Berliner Altenheim. Eigentlich war es kein richtiges Zimmer, eher eine Zelle, ähnlich einer Gefängnis- oder Mönchszelle, aber das machte keinen großen Unterschied. Auch ein Mönch ist ein Gefangener, und zwar der Illusion, durch Askese, Zurückgezogenheit und Gebet Gott näher zu sein als jene, die sich draußen in der Welt aufhalten, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen. Aus kosmischer Perspektive ist übrigens der ganze Erdball eine Gefängniszelle.
Seinen Versuch, den Raum ein wenig wohnlich zu machen, hatte er schnell aufgegeben. Nicht nur aus Platzmangel, sondern vor allem weil er sein Leben nicht in einem Trödelladen beschließen wollte, vollgestopft mit Dingen und Bildern, die ihm einst wichtig gewesen waren. Seine Erinnerungen sollten eingesperrt im Labyrinth der Gehirnwindungen verharren, und dort sollten sie gefälligst bleiben bis zum Ende seines Daseins. Sie hatten lebenslänglich bekommen, die Höchststrafe für die Anmaßung, einst Gegenwart gewesen zu sein.
Es gab nur zwei Ausnahmen, was die Gestaltung seiner kleinen Welt anging: einen Korbsessel, den er von seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter geerbt hatte und der so stark knarrte, dass das Geräusch jedes Gespräch behinderte, das man von ihm aus zu führen versuchte. Das kam allerdings nur selten vor, denn er hatte so gut wie nie Besuch, und mit den Pflegern und Ärzten lohnte sich eine Unterhaltung nicht, denn sie redeten nur von medizinischen Fakten, seine Gesundheit betreffend.
Die zweite Ausnahme war ein großes Poster, das er an der weiß getünchten Wand gegenüber dem Fenster angebracht hatte. Es zeigte ein menschliches Skelett, sein eigenes. Es war der vergrößerte Ausdruck einer CT-Aufnahme. Deren Ergebnis: Er hatte Osteoporose und als Folge mehrere Kompressionsbrüche der Wirbelsäule. Das erklärte, warum er zehn Zentimeter kleiner war als früher. Ein Mann, den Piet Hieronymus wegen seiner überragenden Intelligenz besonders verehrte, war der französische Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry. Der hatte auch eine Abbildung seines Skeletts in seinem bescheidenen Zimmer hängen gehabt während der zweiundzwanzig langen Jahre, in denen er keine Poesie mehr schrieb, nachdem ihm ein heftiges Gewitter, das er in Genua von einem Balkon aus beobachtet hatte, die schockierende Einsicht vermittelt hatte, dass Poesie angesichts solcher Naturgewalten im Grunde überflüssig sei. Von Valéry stammte der Satz: »Dummheit ist nicht meine Stärke«, den Piet zu seinem Lebensmotto gemacht hatte, wohl wissend, dass er ihm selten gerecht wurde, vor allem wenn es um die Beziehungen zu Frauen ging. Jetzt gab es so gut wie keine Gelegenheit mehr, sich an dieses Motto zu halten. Der knarrende Korbsessel und sein Knochengerüst waren für Piet Mahnungen, sich nur noch auf das Wesentliche zu konzentrieren, und zum Wesentlichen gehörte das Schweigen. Schweigen war wichtig. Es war weit mehr als Stummheit. Es gab Großmeister des Schweigens. Joyce zum Beispiel. Er soll es fertiggebracht haben, stundenlang auf einem Barhocker zu sitzen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Oder sein Schüler Samuel Beckett, der in seinen Werken das Schweigen immer wieder thematisierte. Nicht zu vergessen Wittgenstein, dessen Tractatus mit dem berühmten Satz endet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Sein Arzt hatte ihm offen gesagt, dass seine Lebensuhr so gut wie abgelaufen sei, weniger wegen seines Sturzes, sondern weil nach einer früheren Operation wegen eines Prostatakrebses wieder Metastasen aufgetreten seien. Zeit also, endlich konsequent zu sein. Früher hatte er versucht, sein Leben zu verlängern, indem er eine Beziehung wechselte oder den Beruf oder das Land. Alles ohne Erfolg. Die Dehnung der subjektiven Zeit, die Einstein in der speziellen Relativitätstheorie als Folge extremer Geschwindigkeit beschreibt, war immer nur von kurzer Dauer. Sie war jedes Mal sehr schnell wieder geschrumpft angesichts einer allgegenwärtigen Normalität.
Piet Hieronymus saß in seinem Sessel und schwieg. Er übte sich darin, keine lautlosen Selbstgespräche zu führen, was nicht ganz einfach war, denn immer wieder meldete sich der Strom des Bewusstseins mit seiner inneren Stimme. Von draußen drang durch die heruntergelassene Jalousie und den zugezogenen Vorhang das monotone An- und Abschwellen des Verkehrslärms.
Er dachte in der letzten Zeit viel über den Tod nach. Als sein Vater starb, hatte das bei ihm keinerlei Gefühle ausgelöst, denn er hatte ihn kaum gekannt. Als seine Mutter starb, war er anfangs fast erleichtert, denn das ewige Kujonieren hatte ein Ende, dann aber begann er sie zu vermissen. Die Trauer hatte in diesem Fall mit einiger Verzögerung eingesetzt und war dann umso größer gewesen.
Vor allem aber Einar Berglunds Tod hatte ihn tief getroffen. Einar war ein finnischer Kommissar gewesen, der ihm vor vielen Jahren bei der Lösung eines Kriminalfalles geholfen hatte. Zwei holländische Staatsbürger waren in Lappland ermordet worden. Er war damals im Auftrag der Groninger Kripo in den hohen Norden gereist, um den Fall zu untersuchen. Jahre später hatten sie noch einmal zusammengearbeitet, in einem dubiosen Fall in Berlin. Sie ergänzten sich gut, Einar war der Analytiker, während er mehr aus dem Bauch agierte.
Aus der Zusammenarbeit mit Berglund war so etwas wie eine echte Freundschaft entstanden. Einar lebte nach seiner Pensionierung in einer Blockhütte in einem geschlossenen Waldstück an einem See, einige Kilometer westlich von Rovaniemi. Piet hatte Einar einige Male dort besucht und musste dazu jedes Mal seine Flugangst überwinden, aber der Kontakt mit seinem Kollegen war ihm wichtig. Sie hatten viel Zeit in der Sauna verbracht, Rotwein getrunken und über das Leben und die Menschen philosophiert. Beide waren sich einig darin, dass es wenig Gründe gab, mit den Verhältnissen dieser Welt zufrieden zu sein.
Sie hatten sich wieder aus den Augen verloren, diesmal wohl für immer. Doch dann kam ein Brief, der Piet nachdenklich stimmte. »Verzeih mir meine Schrift. Ich kann fast nichts mehr sehen. Es ist das verfluchte Alter. Auch mein Gedächtnis lässt nach. Manchmal vergesse ich sogar den Namen meiner Frau, die mich wegen einem Landsmann von ihr verlassen hat, wie du weißt. Ich würde dich gerne noch einmal sehen, ehe es zu spät ist. Einar.«
Piet schrieb zurück und schilderte seinen körperlichen Zustand, der eine so weite Reise unmöglich machen würde. Als er keine Antwort erhielt, rief er bei der Polizei in Rovaniemi an. Einar musste seinen Kollegen einiges von Piet erzählt haben, denn der Mann am Telefon, der sich als Inspektor Mäkinen vorstellte, war erstaunlich mitteilsam. Er sagte, Einar sei tot in seiner Sauna aufgefunden worden. Die Todesursache sei nicht ganz klar, da der Körper bereits stark verwest gewesen sei. Es gebe aber keine Anzeichen äußerer Gewalt und auch kein Gift im Körper. Vermutlich sei er einem Herzschlag erlegen, denn man habe eine große, leere Korbflasche Chianti in der Sauna gefunden. Die Kombination einer hohen Lufttemperatur mit einer größeren Menge Alkohol sei nicht ungefährlich. Vielleicht habe er seinen Tod sogar bewusst herbeigeführt.
Piet Hieronymus war von den Annahmen der finnischen Polizei nicht überzeugt, denn er wusste, dass Einar zwar gerne Rotwein trank, jedoch niemals italienischen, seit ihn seine italienische Frau verlassen hatte.
Wenig später klopfte es. Das war seltsam. Um diese Zeit kam gewöhnlich keine Putzfrau, kein Pfleger, um ihm sein Essen zu bringen, außerdem klopften die Angestellten des Heimes nicht. Sie traten einfach ein. Wer mochte es sein? Er hatte längst keine Freunde mehr, keine Bekanntschaften. Die Menschen, die ihm nahegestanden hatten, waren inzwischen entweder verstorben oder sie interessierten sich nicht mehr für ihn. Wieder klopfte es, diesmal lauter. Schließlich stand Piet mit einiger Mühe auf, verharrte einen Moment zögernd vor der Tür und versuchte, in diesem Geräusch zu lesen. Sprach Ungeduld aus ihm? War es ein Mann oder eine Frau? Als das Klopfen nicht aufhörte, öffnete er. Eine zierliche, hübsche Person stand vor ihm und lächelte ihn an. »Ich bin Anna, die neue Fußpflegerin«, sagte sie mit einem starken Akzent.
Sie hatte einen großen Trolley dabei, dem sie verschiedene Dinge entnahm. Einen Klapphocker, einen Kasten mit ihrem Werkzeug - Scheren, Zangen, Feilen, Nagelknipser, Nagelfräser -, eine blaue Plastikschüssel, einen elektrischen Kocher, eine kleine, sehr helle Lampe und ein Kofferradio mit Kassettenfach. Während sie alles aufbaute und dann das Radio einschaltete, betrachtete er sie von seinem Korbsessel aus, in dem er wieder Platz genommen hatte. Manchmal glich dessen Knarren einer menschlichen Stimme, der Stimme seiner Mutter. »Du hast dir wieder nicht die Zähne geputzt.« - »Künstliche Zähne muss man nicht putzen«, murmelte er dann, wobei er verschwieg, dass er immer noch ein paar echte Zähne hatte. Diesmal aber hielt der Sessel still, so gebannt starrte er die Person vor ihm an. Sie hatte die braunen Haare zu einem Knoten geschlungen, in dem ein strassbesetzter Kamm...
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