Die rote Stadt
Als ich ein Kind war, haben gewisse Himmel
meine Sehkraft geschärft.
Ich habe die gestrige Nacht draußen verbracht, bei den Schakalen. Ich wollte wie sie sein, hungrig und ohne Gewissen. Nun steigt die Sonne auf und befleckt die schmutzigen Mauern der Stadt mit ihrem Blut. Es hat sich hinter schwarzen Bergen angesammelt und ergießt sich nach einem einzigen Schnitt um den östlichen Horizont auf dieses schockierende Gebilde. Harar ist keine gewöhnliche Stadt. Eher eine tödliche Falle, eine Lehm gewordene, uralte, namenlose Angst. Häuser, die sich eng aneinander lehnen, als könnte das eine den Einsturz des anderen aufhalten. Sollte der Tod sich je als Architekt verstehen, er würde eine Stadt wie diese bauen.
Ich schreibe dies in einem Zimmer, einem Raum, der ganz von meinem Schmerz angefüllt ist. In den Pausen, in denen ich die Feder zur Seite lege, schreie ich. Ich schreie so laut wie ein Tier. Aber niemand kommt, Dschami nicht, mein Diener und einziger Vertrauter, und auch das Mädchen nicht. Ich habe es ihnen untersagt und sogar mit der Peitsche gedroht. Ich will keine Zeugen für meine Qualen. Sie demütigen mich, sind ein Schlag gegen meine Person, den ich nicht parieren kann.
Ich habe das Fenster zum Hof verhängt und eine Lampe angezündet, obwohl draußen die Sonne scheint. Ich liebe mein Zimmer. Wie vertraut sind mir die Teppiche an den Wänden mit den für einen Europäer so befremdlichen Mustern, in denen heimliche Botschaften stecken.
Ich habe die Teppiche selber ausgesucht. Für mich sind sie Landkarten, nach denen sich ein Entdecker orientieren könnte, dem es um mehr geht als um das Benennen von Bergen und Flüssen. Auch die wenigen Dinge, die mich auf meinen Reisen begleitet haben, sind um mich versammelt. Das kleine Teleskop, der aus einem Stoßzahn geschnitzte Phallus, die Wasserpfeife, meine Taschenkamera, die beiden silbernen Pistolen, die mir mein alter Boß Alfred Bardey einst schenkte, weil er der irrigen Meinung war, man könne sich mit Gewalt bei den Eingeborenen Respekt verschaffen. Dann sind da noch der Kompaß, der Sextant, das Anacroid-Taschenbarometer, der Reise-Theodolit, die Feldmesserschnur aus Hanf, all diese Werkzeuge eines Landvermessers und Entdeckers. Ich habe sie mir einst nicht als Dekoration gekauft, sondern in der Absicht, sie zu benutzen. Denn ich bin ein Entdecker. Das war ich, wie ich glaube, von Kindheit an. Irgend etwas war in mir, das mich diesen ewig gleichen Schulweg durch die Rue Arquebuse als immer neues Abenteuer erleben ließ. Ausgerechnet diese geradeste aller geraden Straßen meiner schachbrettartigen Heimatstadt erschien mir auf wunderbare Weise gekrümmt. Je nachdem, auf welcher Seite ich ging, war sie konvex oder konkav; ein sichelförmig gebogener Horizont, wie ihn bei klarem Wetter ein Matrose vom Mastkorb aus sieht.
Ich entdeckte bei meinem ewigen Hin- und Herpendeln durch die Rue Arquebuse zwischen unserer Wohnung und dem Institut, in dem man meinen Kopf zuzurichten versuchte im Schraubstock lateinischer Vokabeln, immer neue Steine im Gemäuer der Häuser, die ein bösartiges Geheimnis enthielten. Augen in Fensterhöhlen. Kleine Mädchen, die in dunklen Zimmern trieben wie ertrunken. Und ich sah hier, durch eine enge Querstraße hindurch, zum erstenmal das Meer als eine kleine graue Fahne, die im Wind flatterte.
Ich wußte natürlich, daß ich dies alles nur phantasierte. Jedenfalls bildete ich mir dies zumindest ein. Oh ja, ich war sehr auf Vernunft bedacht, ein schrecklicher kleiner Leonardo mit dem Hirn eines Erfinders, zugleich kühl und ekstatisch. Aber dieser Widerspruch störte mich so wenig wie die Feststellung, daß der Nordpol vermutlich ein uninteressantes Häuflein Eis und Schnee ist. Ein wirklicher Entdecker stört sich niemals an der überraschenden Tatsache, daß es eigentlich nichts zu entdecken gibt. Auch wenn ich bei meinem Tod nichts anderes entdeckt haben werde als das ewige Neuland meiner eigenen Vergangenheit mit all seinen weißen, nebelgrauen und höllenschwarzen Flecken, werde ich eingehen in die Galerie der Unsterblichen, die einen Punkt absoluter Unwichtigkeit als erste betreten haben: die eigene Existenz.
Über meinem Bett hängt das Aquarell von einem Schiff mit Namen >Prinz von Oranien<. Ein plumpes Vollschiff mit drei Reihen Kanonenluken. Ein Kriegsschiff also. Völlig veraltet in seiner Konstruktion. Es scheint an seinen Masten von einem Himmel herabzuhängen, der fleckig ist von Nässe. Der unsichtbare Kiel zerschneidet für mich noch immer den Ozean wie einen weiblichen Körper mit wogenden Brüsten und sich wölbenden Hüften. Die Fahrt des Schiffes erinnert an die Bewegungen eines Betrunkenen. Hin und her geworfen von den Wellen, fährt es mal dahin, mal dorthin. Sein Kapitän, der unsichtbar auf der Brücke steht, kennt dennoch die Richtung der Reise. Aber er verrät sie nicht. Immer wenn ich das Bild anstarre, bin ich mir einer Verzweiflung gewiß, die mich alle Zeit vor meinen schlimmsten Neigungen zu Illusionen bewahrt hat. Prins van Oranje, auf deinen Planken habe ich zum erstenmal die Freiheit kennengelernt, auf das vollkommenste vom Nichts eingeschlossen zu sein. Es gibt kein perfekteres Gefängnis als ein Schiff auf hoher See.
Doch davon ein andermal. Ich werde mich zwingen, der Reihe nach zu erzählen, auch wenn es mir schwer fällt, denn diese Art zu erzählen erinnert an die Ehe mit ihrem geordneten Nacheinander von Tagen und Nächten. Ich aber bin lieber kreuz und quer verliebt.
Wieder waren die Schmerzen so bohrend, daß ich das Schreiben mit dem Schreien vertauscht habe. Die peinigenden Dolchstiche teilt mein rechtes Knie aus. Es ist angeschwollen und sieht unnatürlich aus. Es ist wie das Knie eines Fremden.
In diesem Winter hatte ich zum erstenmal Schmerzen beim Gehen. Ich hielt es für Rheuma. Fast alle Europäer hier leiden unter Rheuma. Die Wintermonate sind naß und kalt, aber man ist gewohnt, sich leicht zu kleiden. Als sei die Kälte nur eine Täuschung des Wetters. Schließlich lebt man nahe am Äquator. Also trägt man seine leichte Sommerkleidung einfach das ganze Jahr. Ein helles, baumwollenes Hemd, eine einfache, weitgeschnittene Leinenhose.
Nachts konnte ich nicht schlafen, weil mich fortwährend leichte Hammerschläge von innen gegen die Kniescheibe trafen. Die Adern unter- und oberhalb des Knies schwollen an. Sie glichen vollen Flüssen zur Regenzeit, bläulich mäandernd über weißes Fleisch. Das Blut darin pochte.
Ich bin sechsunddreißig und habe schon Krampfadern wie eine alte Frau. Man altert schnell hier in Afrika. Ich habe auch schon graue Haare. Nur mein Bart ist noch blond.
Ich schrieb meiner Mutter und bat sie, mir einen Krampfaderstrumpf zu schicken. So was bekommt man hier nicht, nicht mal in Aden. Es kostete mich große Überwindung, das Krokodil darum zu bitten. Eine Frau, die so viel älter ist als ich und vermutlich keine Krampfadern hat. Krokodile haben keine Krampfadern.
Vielleicht ist es eine neue, der Medizin unbekannte Art von Rheuma, redete ich mir ein. Anfangs glaubte ich daher, daß Bewegung das beste Gegenmittel gegen diese Schmerzen sei. Ich folgte noch mehr als sonst meiner Neigung, weite Strecken zurückzulegen. Ich erstieg Berge, auf denen es nichts gab als Dürre und die Möglichkeit eines weiten Blicks auf trostlose Wüsten. Oft legte ich an einem Tag über vierzig Kilometer zurück. Ich schindete meine Glieder mit dem Ziel, sie geschmeidig zu halten, aber vergebens. Die Krankheit war es, die voranschritt, nicht ich. Ich glaube jetzt nicht mehr, daß es etwas so Harmloses wie Rheuma ist. Wahrscheinlich ist es der Teufel, der in meinem Knie die Faust ballt, triumphierend, daß er gegen meine wenigen guten Anlagen den Sieg davongetragen hat.
Ich werde bereuen. Das ist mein letztes Mittel gegen diesen Schmerz. Aber noch kann ich es nicht mit der Inbrunst, die nötig ist, ihn milde zu stimmen. Also schreie ich, denn solange ich schreie, spüre ich die Schmerzen nicht.
Draußen, im Hof, höre ich meine Leute singen und tanzen, nach dem Festmahl, das sie jeden Abend auf meine Rechnung einzunehmen pflegen. Ich ziehe den Vorhang ein wenig beiseite und sehe zu, wie die Dämmerung über dem Innenhof zu einer dunkelblauen Samtunterlage wird, auf der die ersten der Juwelen glitzern, die die Nacht tagsüber in ihrem Tresor bewahrt. Rote Vögel, klein wie Spatzen, schwirren durch die Luft. Dschami und die anderen sitzen im Schneidersitz um das niedergebrannte Feuer und singen. Sie haben Kat geraucht. Ihr Singen klingt nicht schön, jedenfalls nicht für die Ohren eines Europäers. Auch ihre Musik nicht, diese wild gekratzten Streichinstrumente, das niederträchtige Arpeggio der abessinischen Harfe, die chaotische Trommelei, die jaulenden Flöten, das Delirium schwankender Stimmen, die wie betrunken dem führenden Instrument folgen. Aber sie ist in Wahrheit schön, diese Musik, denn sie ist der Ausdruck eines Lebensgefühls, das den Menschen des Nordens fremd ist und immer fremd bleiben wird: aufzugehen in den Gerüchen, den Klängen, dem Geschmack der Speisen und Getränke, sich aufzulösen in spiraligen, mit dem Feuer zum Nachthimmel steigenden Schwaden, genausowenig einen Körper zu haben wie einen Geist, nichts zu sein und wie in einem Rausch höchster Liebeslust in Leere zu zerfließen.
Ich halte mir die Ohren zu, denn nur so kann ich es ertragen, nicht bei ihnen zu sein, nicht diese Brocken von Hammelfleisch zwischen meinen Zähnen zu spüren und den süßen Saft der Apfelsinen zu trinken. Und ich schreibe weiter, in den Pausen, in denen der Schmerz ein wenig nachgelassen hat, weil ich ihn aus mir herausgeschrien habe. Ich nehme den Kampf auf gegen den Teufel...