Kapitel 1
Evelyn Dixon
Später sollte ich feststellen, dass auf dem Abschnitt der Autobahn 84 zwischen New York und Connecticut ständig Stau herrscht. Doch damals um ein Uhr nachts, noch rund achtzig Kilometer von meinem Ziel entfernt, war mein Wagen der einzige weit und breit auf der leeren Straße. Erst als ich den Streifenwagen im Rückspiegel sah, warf ich einen Blick auf den Tacho.
Hundertvierzig. Erwischt. Wütend über mich selbst trat ich auf die Bremse und fuhr rechts ran, noch bevor das flackernde Blaulicht nahe herangekommen war.
Der Polizist war ein nett aussehender junger Mann. Wenn er gelächelt hätte, wäre er Garrett auffallend ähnlich gewesen, doch seine Miene wirkte wie versteinert. Es war ein merkwürdiges Gefühl, einer Autoritätsperson im Alter meines Sohnes gegenüberzustehen, doch als er nach meinem Führerschein und dem Fahrzeugschein fragte, reichte ich ihm folgsam die Papiere.
»Ist Ihnen klar, wie schnell Sie gefahren sind, Ms Dixon?«
»Ungefähr hundertvierzig«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Schwindeln hatte keinen Sinn, da er es sowieso schon wusste; außerdem bin ich eine miserable Lügnerin. »Ich bin heute Morgen von Nashville aufgebrochen und wollte in einem Rutsch bis nach New Bern durchfahren, aber ich bin nicht absichtlich zu schnell gefahren. Die Straße war frei, und wahrscheinlich war ich in Gedanken versunken. Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell ich fuhr, bis Sie hinter mir auftauchten.«
Er blickte auf meinen Führerschein. »Sie sind aus Texas und fahren ganz allein die Strecke bis nach New Bern?« Ich nickte.
»Was führt Sie hierher?«
»Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«
Drei Tage zuvor wäre mir der Gedanke, nach Neuengland zu fahren, so unwahrscheinlich vorgekommen wie die Vorstellung, ich sollte als Astronautin zur Internationalen Raumstation fliegen.
Doch als es an jenem Vormittag um Punkt halb elf an meiner Haustür klingelte, wusste ich, dass es der Mann von der Umzugsfirma Elite Moving and Storage war. Robs Sekretärin hatte mir einen Tag zuvor die Nachricht hinterlassen, dass ein Mr Lindsay mich wegen des Kostenvoranschlages und der Terminabsprache aufsuchen wollte. Er würde mir sagen, bis wann ich meine Sachen zu packen und das Haus zu räumen hätte, das während der vergangenen zwanzig Jahre mein Heim gewesen war. Wie Rob trug auch Mr Lindsay auf Hochglanz polierte braune Cowboystiefel und lächelte breit, als er sich an meinem Küchentisch niederließ, ein Clipboard aus der Aktentasche zog und Formulare auszufüllen begann. Er war mir auf Anhieb unsympathisch.
»Und zu welcher Adresse sollen wir Ihre Sachen bringen?«, fragte er, ohne aufzublicken.
»Das weiß ich nicht.«
Er hob den Kopf und zog irritiert die Augenbrauen hoch. »Mrs Dixon, ich kann Ihnen keinen Preis für den Umzug nennen, wenn ich nicht weiß, wie weit die Strecke ist.«
»Tut mir leid, Mr Lindsay, aber ich weiß es auch noch nicht!«, entgegnete ich schroff. »Und wenn Ihnen oder Ihrer Firma oder Rob Dixon das nicht passt, dann ist es mir, offen gestanden, schnurzpiepegal. Schließlich habe ich Sie nicht hergebeten!«
Unbeherrschtheit war eigentlich überhaupt nicht meine Art. Seit Wochen hatte ich praktisch ununterbrochen geweint, und jetzt raunzte ich hier einen vollkommen fremden Menschen an. Ich erschrak über mich selbst, doch Mr Lindsay, der offenbar zwei und zwei zusammenzählte, ließ sich nichts anmerken. Er senkte die Brauen wieder und setzte eine Miene routinierten und wenig überzeugenden Mitgefühls auf. Fälle wie meiner waren ihm schon öfter untergekommen.
»Es tut mir leid, Mrs Dixon. Ich wusste nichts von den Begleitumständen Ihres Umzugs. Ich weiß, wie schwer das alles für Sie sein muss; eine Scheidung ist immer unangenehm. Aber bitte glauben Sie mir, ich möchte Ihnen nur helfen. Soweit ich weiß, wollen die neuen Besitzer am Fünften einziehen, und das bedeutet, Sie müssten das Haus bis Ende nächsten Monats geräumt haben. Wann werden Sie voraussichtlich alles geplant haben?« Er sprach mit gleichmäßiger Stimme und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Ich seufzte. »Ich habe mir schon mehrere Eigentumswohnungen in der Nähe angesehen, aber noch keine Entscheidung getroffen. Nicht, dass es da große Unterschiede gäbe. Sie sehen alle gleich aus - eine winzig kleine Küche mit Arbeitsplatten aus unechtem Granit, weiß gestrichene Wände, gläserne Schiebetüren, durch die man auf eine triste, fünf mal fünf Meter große Betonfläche guckt, die als Patio bezeichnet wird. Eine Wohnung ist so deprimierend wie die andere.«
»Wissen Sie, es gibt da eine Wohnanlage, in der wir schon mehreren Damen in Ihrer Situation eine Wohnung vermittelt haben. Sie fühlen sich dort sehr wohl«, erwiderte er strahlend.
»Ich verstehe. Sie meinen wohl ein Zentrallager für verlassene Frauen. Eine Art Speicher, wo man Frauen ablädt, die ihr Verfallsdatum überschritten haben und durch neuere Modelle ersetzt wurden. Wie praktisch.« Es war sinnlos, meine Wut an diesem Mann auszulassen, doch ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Es schien ihm jedoch nichts auszumachen. Er ignorierte meine sarkastischen Bemerkungen und fuhr fort: »Meine Schwägerin arbeitet in einem Maklerbüro. Kennen Sie die Anlage Rolling Hills am River's Edge? Wenn Sie wollen, rufe ich Beverly an und ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Meinen Sie die Häuser drüben am Alamo Drive? Wo es - anders, als der Name vermuten lässt - weder Hügel noch einen Fluss gibt? Nein danke.«
Mr Lindsay lachte leise. »Na ja, was den Namen angeht, haben sie sich vielleicht ein bisschen dichterische Freiheit erlaubt, das muss ich zugeben. Zwischen hier und Austin liegen wirklich keine nennenswerten Hügel, aber einen Fluss wird es bald geben. Beverly sagte mir, dass sie nächste Woche mit den Ausschachtungsarbeiten anfangen.«
»Ein künstlicher Fluss?« Ich lachte. »Danke, Mr Lindsay, aber von solchen Sachen habe ich die Nase voll - Plastikblumen, Schränke aus Spanplatten, Siedlungen vom Reißbrett, Freunde, die sich nicht mehr blicken lassen, gebrochene Versprechen, ein verlorenes Zuhause. Ich will etwas Echtes. Imitationen habe ich satt und diese Unterhaltung übrigens ebenfalls.« Die Stuhlbeine scharrten über den Fußboden, als ich aufstand. Mr Lindsay wirkte überrascht und ein wenig verwirrt.
»Mrs Dixon, ich weiß, dass Sie verärgert sind, aber wir müssen jetzt wirklich zu einer Entscheidung kommen ...«
»Nein.« Erneut schüttelte ich den Kopf. »Wir müssen gar nichts. Und ich werde auch nichts tun. Jedenfalls nicht heute. Es tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, Mr Lindsay, aber das hier ist immer noch mein Zuhause.«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen, doch meine Stimme hatte ich noch einigermaßen in der Gewalt. »Sie sollten jetzt besser gehen.«
Als ich vorausging und ihm die Haustür öffnete, dachte ich, dass für mich das Gleiche galt.
Bald darauf fand ich mich am Steuer meines Wagens auf dem Weg nach Nordosten wieder. Im Kofferraum lag mein Gepäck. Ich hatte keinen Schimmer, wohin ich überhaupt wollte, doch als ich mich der Stadtgrenze näherte, fiel mir ein, dass ich lieber jemandem Bescheid sagen sollte. Ich rief also das Büro meines Sohnes in Seattle an.
»Claremont Solutions. Garrett am Apparat.«
»Hallo, Schatz, ich bin's, Mom.«
»Hallo, Mom. Ist mit dir alles in Ordnung?« Garrett ist mein einziges Kind. Er ist ein guter Sohn und hat sich nach der Scheidung noch mehr um mich gekümmert als zuvor schon.
»Ja, mir geht's gut, Schatz. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich verreise.«
»Das ist ja großartig«, erwiderte er vorsichtig. »Ich rede dir ja schon seit Monaten zu, mal Urlaub zu machen, damit du nicht dauernd zu Hause herumsitzt und Trübsal bläst. Aber das kommt jetzt doch ein wenig überraschend. Wo soll's denn hingehen?«
Plötzlich wusste ich es. »Nach Neuengland, das bunte Herbstlaub ansehen. Ich wollte schon immer mal dorthin, aber dein Dad hatte keine Lust. Seine Vorstellung von Urlaub beschränkte sich darauf, am Strand in der Sonne zu braten, auch wenn ich die ganze Zeit unter einem Sonnenschirm hocken musste.«
Ich habe eine sehr helle Haut. Zwanzig Minuten in der prallen Sonne genügen, und ich bekomme einen scheußlichen Sonnenbrand. Selbst nachdem mir vor einigen Jahren ein bösartiges Muttermal an der Schulter entfernt werden musste, buchte Rob weiterhin Strandurlaub. Ich wusste, dass ich meinen Sohn nicht mit meiner Verbitterung über seinen Vater belasten sollte, doch manchmal konnte ich meine Wut einfach nicht hinunterschlucken.
Als Garrett nach seinem Collegeabschluss eine Stelle als Programmierer in Seattle annahm, war ich sehr enttäuscht. Ich hatte gehofft, er würde näher bei uns leben, sodass er im Urlaub und an den Wochenenden ab und zu vorbeikommen könnte. Doch nun war ich beinahe froh darüber, dass er so weit weg wohnte. Auf diese Weise bekam er es wenigstens nicht mit, wenn Rob und ich einander mit Vorwürfen bombardierten und unsere Kämpfe mithilfe von Anwälten austrugen. Wie schlimm es auch sein mochte, ich wollte doch nie, dass Garrett mit hineingezogen wurde.
»Das klingt wirklich toll, Mom«, antwortete Garrett, ohne auf meine spitze Bemerkung einzugehen. »Weißt du schon, wann du zurückkommst? Wo wirst du wohnen?«
Ich lächelte vor mich in. »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich werde wohl bleiben, wo es mir gefällt, und zurückkommen, wenn ich Lust dazu habe.«
Ich hörte, wie Garrett mit dem Finger gegen den Telefonhörer tippte. »Hallo, Vermittlung? Entschuldigen Sie, aber da stimmt...