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Wir essen, trinken, rauchen Französisch. Wir bereisen das Land, für das wir sogar einen Spitznamen erfunden haben, den in Frankreich selbst niemand nutzt: den der 'Grande Nation'. Aber die Popmusik Frankreichs kennen wir nur am Rande. André Boße unternimmt eine große Reise durch Frankreich und die französische Popmusik und lädt dazu ein, das Land ganz neu kennenzulernen. Vom Chanson über die French Pop-Hits bis hin zu Punk, Hip-Hop, Raï oder Electro.
Serge Gainsbourg ist für den French Pop, was Mutterboden für die Natur ist. Er ist die Basis. Er lässt andere gedeihen. Ohne ihn wäre alles nichts - oder zumindest ganz anders verlaufen.
In diesem Buch begegnet uns Serge Gainsbourg an vielen Stellen. Er ist Liebhaber und Liedschreiber, Impulsgeber und Querulant, Provokateur und Gangsterfigur. Dieses Kapitel erlaubt sich daher ein paar Lücken, die ich später füllen werde.
Die Familie Ginsburg ist jüdisch, besitzt ukrainisch-russische Wurzeln. Ihr Sohn Lucien kommt am 2. April 1928 in Paris zur Welt. Beide Eltern sind Musiker, fliehen Anfang des 20. Jahrhunderts vor den Bolschewiken über Istanbul zunächst nach Marseille, lassen sich bald in Paris nieder. Lucien lernt Klavier spielen, ist als Teenager mit seinem Vater unterwegs, um im Sommer an Badeorten am Atlantik zu musizieren, im Süden in Arcachon, im Norden in Le Touquet. Monsieur Ginsburg will, dass sein Sohn Maler wird, so wie er selbst einer werden wollte. Als Lucien Anfang der 40er Jahre sein künstlerisches Studium beginnt, leidet er als jüdischer Student unter dem Einfluss der deutschen Besatzungsmacht. Die Familie zieht von Paris in Richtung Süden, in die Region Limoges, gelegen in der »zone libre«, wie das nicht von den Deutschen besetzte Gebiet genannt wird. Lucien besucht unter falschem Namen ein Internat, lebt in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Nach der Befreiung zieht die Familie zurück nach Paris. 1948 wird Lucien zum Militärdienst eingezogen. Er verweigert Befehle, wird in Arrest genommen, darf keinen Heimaturlaub nehmen. Seine Kompensation: Saufgelage mit Kameraden.
Zurück in Paris arbeitet er als freier Zeichenlehrer. Zusammen mit seiner ersten Frau Élisabeth Levitsky bewohnt er eine Wohnung mit Zugang zu einem Musikstudio, in dem amerikanische Jazzbands aufnehmen. Er verfällt der verrauchten, von Alkohol geprägten Atmosphäre dieser Sessions und trifft die Entscheidung für die Musik, gegen die Malerei. Als Barmusiker kehrt er zurück nach Le Touquet, einem bei Parisern beliebten Badeort, in dem er schon mit seinem Vater gastiert hat. Dort spielt er vor Touristen. Bald gastiert er auch in den Jazzkellern von Paris, wo er verschiedene Pseudonyme ausprobiert und sich schließlich für Serge Gainsbourg entscheidet. »Weil es aggressiver und russischer klingt als sein Geburtsname«, verrät mir seine langjährige Lebensgefährtin Jane Birkin bei einem der zwei Interviews, die ich mit ihr führen durfte. Lucien? »Das war für ihn einer dieser französischen Namen, der über Frisörsalons steht.«
Beeinflusst wird der junge Gainsbourg besonders von Schriftsteller, Trompeter und Sänger Boris Vian, der deutlich giftigere Texte schreibt als die Konkurrenz. Gainsbourg erkennt die Wirkung der Provokation, ist aber schüchtern. 1957 soll er sein erstes Konzert spielen, sein Lampenfieber steigt ins Unermessliche. Serge Gainsbourg hält sich für zu hässlich, für zu wenig talentiert. Als er dann auf der Bühne singt, ist es, als übernehme ein anderes Ego. Ein selbstbewusster Zyniker, eine neue Stimme für das französische Chanson. Auf die Malerei, seine eigentliche Leidenschaft, entwickelt er einen regelrechten Hass, er zerstört die meisten seiner Bilder, auch die Ehe geht zu Bruch.
Sein erstes Album Du chant à la une! . erscheint im Jahr 1958. Kaum jemand kauft es, doch begeistert es die wichtigen Personen aus der Musikszene. Boris Vian vergleicht Gainsbourg mit dem amerikanischen Jazzsänger Cole Porter. Gainsbourgs Metier ist eine Form des Chansons, das perfekt in die Jazzkeller von Paris passt. Seine Lieder sind cooler, reduzierter - und: Sie haben den Blues. Das ist damals beinahe ein Alleinstellungsmerkmal. Auf dem Album befindet sich mit »Le Poinçonneur des Lilas« ein früher Klassiker. Der titelgebende Fahrkartenknipser aus der östlichen Pariser Vorstadt Les Lilas ist ein Mann, der vom Meer und Amerika träumt, der weg möchte, aber immer weiter Löcher zu knipsen hat. Übrigens, die neue Métro-Station der Linie 11 in Les Lilas wird zu Ehren des Künstlers den Namen »Serge Gainsbourg« tragen; noch zu Lebzeiten hat Jane Birkin der Idee des Bürgermeisters von Les Lilas zugestimmt. Zurück zur ersten LP: Wer darauf Spuren seiner späteren Themen sucht, findet sie beim Stück »L'Alcool«, das bereits alles enthält, was ein Gainsbourg-Stück auszeichnet: das Selbstmitleid, die Abscheu, den Suff, die Enttäuschungen, »et le sens d'ironie« - »und den Sinn für Ironie«.
Im hohen Tempo wird Ginsburg zu Gainsbourg. Der Song vom »Intoxicated Man« vom eleganten Album No. 4, veröffentlicht 1962, ist Cool-Jazz mit einer begnadeten Gesangsperformance, Gainsbourg singt von einem Mann, der in zu hoher Dosis trinkt, pinke Elefanten sieht, Spinnen auf seinem Smoking, Fledermäuse an der Decke. Am Ende kann ihn nicht mal die Liebe retten: »L'amour? Ne me dit plus grand chose« - »Die Liebe? Sagt mir nicht mehr viel«.
Im gleichen Jahr komponiert Gainsbourg für Juliette Gréco das Lied »Accordéon« und beweist, dass er spielend die Erwartungen des Publikums bedienen kann. Das Stück über einen Pariser Musiker und sein Instrument (»Ils sont comme cul et chemise« - »Sie sind wie Arsch und Hemd«) besitzt den Dreivierteltakt der Musette, der Text verhandelt Nostalgisches und das elendige Leben eines Musikers. In der Bundesrepublik wird das Stück von Alexandra gesungen, mit einem deutlich seichteren Text. Später wird es auch von Element of Crime gespielt, Sänger Sven Regener bezeichnet »Accordéon« im Podcast der Band als »inoffizielle Hymne Frankreichs«, was nur ein wenig übertrieben ist.
Gainsbourg hätte diesen Weg als Dienstleister fürs französische Publikum weiterverfolgen können. Stattdessen folgt 1964 ein Album, das klingt, wie kein anderes auf der Welt. Gainsbourg Percussions ist ein wilder Ritt durch die Welt afrikanischer Rhythmen und tropischer Gesänge - und damit eines der ersten Weltmusikalben überhaupt. Das Stück »Joanna« besteht ausschließlich aus wuchtigen Rhythmen und Gesängen, am Ende wirkt es, als habe Gainsbourg Stimmen in den Mix gesampelt - dabei ist der Hip-Hop noch gar nicht erfunden. Beim folgenden Lied »Là-bas c'est naturel« hört man Affen schreien, »New York - USA« basiert auf der Bearbeitung eines traditionellen Lieds des westafrikanischen Volkes der Yoruba. Im Original flehen Passagiere einen Zugführer an, sie an Bord gehen zu lassen. Gainsbourg macht daraus einen Song aus der Perspektive eines staunenden und etwas dümmlichen Touristen: Empire State Building, Rockefeller Center, Waldorf Astoria, wie hoch das alles ist - »oh! c'est haut!«
Mitte der 60er Jahre wird Paris vom Pop erobert. Die Musik zieht es raus aus den Jazzkellern, raus auf die Straßen der Stadt, in bunten Kostümen und mit neuem Selbstbewusstsein. Musik, Werbung, Film - alles wird Pop. Vor dieser Kulisse inszeniert Pierre Koralnik die Musikkomödie Anna (1967). Es geht um einen Werbetypen namens Serge (gespielt nicht von Serge Gainsbourg), der zusammen mit seinem besten Freund (gespielt von Gainsbourg) die titelgebende Anna sucht - dargestellt von der dänisch-französischen Schauspielerin Anna Karina, bekannt aus den Filmen von Jean-Luc Godard. Gainsbourg ist für den Soundtrack verantwortlich, zum ersten Mal darf er über ein Orchester verfügen. Und er liefert: Der Song »Sous le soleil exactement« besitzt eine aufregende Stop-and-Go-Struktur, »Roller Girl« hat die Wucht eines 60s-Girlgroup-Songs von Phil Spector.
Gainsbourg ist nun ein vielbeschäftigter Liedschreiber für diverse neue Stars der französischen Szene. Zeit für sein eigenes Werk findet er nur noch selten, die Arbeit für das Album Initials B. B., das 1968 erscheint, streckt sich auf einige Jahre, in denen Gainsbourg und Brigitte Bardot eine Beziehung eingehen, die bald wieder endet - was dazu führt, dass Gainsbourg das Titelstück »Initials B. B.« nach der Trennung schreibt, als Abschiedsgruß. Die Musik lehnt sich an Antonín Dvoráks 9. Symphonie »Aus der neuen Welt« an, der Text verweist auf Edgar Allan Poes »Der Rabe« und Charles Baudelaires Die Blumen des Bösen. Serge Gainsbourg hat sich also ordentlich Mühe gegeben, seine Verflossene nachhaltig zu beeindrucken. Und das funktioniert: Viele Jahre später gesteht Bardot, das Stück sei die schönste Liebeserklärung, die ihr je ein Mann gemacht habe.
Und das Album hat noch mehr zu bieten. »Comic Strip« nimmt den Comic-Boom der späten 60er Jahre auf, Bardot ist auf der französischen Version des Stücks mit Lautmalereien zu hören: »SHEBAM! POW! BLOP! WIZZZZZ!« Bei vielen Songs der Platte ist das Tempo hoch, »Qui est >in< qui est >out<« klingt wie Proto-Punk, »Bloody Jack« und »Torrey Canyon« überführen den Swing der Londoner Carnaby Street ins hippe Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés, »Ford Mustang« mit Vocals von Bardot ist die Mutter aller »Sex im Auto«-Lieder. Bevor die beiden sich trennen, schreibt Gainsbourg für Bardot zwei weitere Stücke, die 1968 ihren Platz auf dem Album Brigitte Bardot Show finden: »Harley Davidson«, die todesmutige Lobhudelei für das ikonische Rockermotorrad, und »Contact«, ein großartiges psychedelisches Stück, von Bardot gesungen aus der Perspektive einer Außerirdischen, die Kontakt zur Erde sucht, um eine Quecksilbertransfusion durchzuführen, und als Bezahlung ihren Sternenstaub anbietet, für dessen...
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