Der Erbhof
Die nächste Generation
In diese Zeit hinein geboren wurde 1868 Phillip als drittes Kind des Gutsverwalters Franz Rohr und seiner Frau Elisabeth, die der Schlüterschen Linie entstammte. Seine beiden älteren Schwestern Filipa und Elsbeth, beide gingen bereits im nahen Radomsko zur Schule, behüteten den Jungen mit einer dermaßen fürsorglich-erdrückenden Inbrunst, dass das Kind dieser stets zu entkommen versuchte. Der sicherste Fluchtort waren die Ställe, denn dort hinein mochten die Mädchen wegen ihrer feinen Schuhe nicht gehen, und den Knechten war es ein Spaß, den kleinen Phillip vor ihnen zu verbergen. Im ersten Schuljahr mühte sich der Knabe, den Eltern zuliebe, nachmittags mit den Schwestern gehorsam zu üben. Während ihm das Schreiben noch so leidlich gelang, wollte sich der freudige Umgang mit Zahlen, der Grundlage einer späteren administrativen Tätigkeit, nicht einstellen. Ab dem dritten Schuljahr entzog sich Phillip seinen Schwestern gänzlich. Anstatt mit ihnen das inzwischen verhasste Rechnen zu üben, verbrachte der Junge jede freie Minute in den Pferdeställen. Die Pferdeknechte beobachteten mit großem Erstaunen, dass die Tiere dem Kind aufs leiseste Wort und sogar auf kleinste Gesten gehorchten. Selbst die Reitpferde des Gutsherren, zwei besonders heißblütige und eigenwillige Hengste, die schon manchen Knecht gebissen oder mit voller Wucht getreten hatten, verhielten sich wie sanfte Lämmer und beugten ihre Köpfe, damit Phillip sie liebkosen konnte.
Recht schnell erkannten der Vater des Jungen und der Gutsherr, Spross des Adelsgeschlechtes Abakowski, den Wert einer solchen Begabung und übertrugen dem noch knabenhaften Jüngling die Ausbildung der Reit- und Wagenpferde. Phillip war noch nicht konfirmiert, als er den Vierspänner, den selbst der Gutsherr nur mit brachialer Gewalt beherrschte, zur Hochzeit von dessen Tochter auf den Zentimeter genau vor dem Kirchenportal zum Stehen brachte. Höhepunkt im Leben des jungen Mannes war eine Reise ins ostpreußische Trakehnen, auf der er den pferdevernarrten Gutsherrn begleiten durfte. Als Gäste des dortigen Ersten Assistenten des Landesstallmeisters öffneten sich auch für Phillip viele Türen. Eine ganze Woche lang durfte er schauen, fragen, die Pferde beobachten und auch einen Blick in das einmalige Stutbuch der Trakehnerzucht werfen. Nach dieser Reise zog ihn der Gutsherr beim Pferdekauf oder Zuchtfragen oft zu Rate. Er hätte den jungen Mann gern auf seinem Gut behalten, doch der Besitz war nicht groß genug, um neben der üblichen Landwirtschaft auch noch eine profitable Pferdezucht zu betreiben. Insgeheim war Phillip sogar froh, dass daraus nichts wurde. Er wollte, so er genug Geld zusammenbringen würde, den seit gut sechzig Jahren immer wieder verpachteten Erbhof in Wierzeje übernehmen, um dort eine eigene Pferdezucht aufzubauen. Im Jahre 1893 heiratete er die fünf Jahre jüngere Marie Bobke, Kaufmannstochter aus Plock.
Die junge Frau war, wie in wohlhabenden Kreisen üblich, in einem Warschauer Internat aufgewachsen. Neben naturwissenschaftlichen Fächern, Musik und Sprachen stand auch Hauswirtschaft auf dem Lehrplan. Obwohl keine dieser Töchter später jemals eigenhändig gewöhnliche Hausarbeit verrichten würde, so sollten sie doch das nötige Wissen besitzen, um die Güte derartiger Arbeit zu beurteilen. Ein wesentlicher Punkt dieser Erziehung war dabei die Verinnerlichung des gesellschaftlichen Standes. Während der Sommerferien und nach dem Abschluss der Höheren Töchterschule nahm der Kaufmann Otto Bobke seine Tochter Marie mit ins Kontor und unterwies sie im Kaufmännischen, damit sie ihn später unterstützen und vertreten konnte. In der Nachfolge seiner Handelstätigkeit setzte der seit langem verwitwete Mann alle Hoffnung auf Marie, denn keinem seiner beiden Söhne, die bereits studierten, wollte er das Unternehmen anvertrauen. Sein ältester Sohn Stefan war ein Luftikus, gab lieber Geld aus, als es zu mehren, und Walter, der Zweitgeborene, besaß kein kaufmännisches Gespür. Inzwischen im heiratsfähigen Alter, begleitete Marie den Vater auf einer Reise, die sie über Danzig nach Königsberg und, nach einer kurzen Heimkehr, weiter nach Breslau und Wien führte. Auf dieser Reise wurde Marie nicht nur den wichtigsten Geschäftspartnern vorgestellt, es war auch eine Art Schaureise, denn der Vater hoffte, dass sich das geliebte Kind einen Bräutigam aussucht. Doch zu seiner großen Enttäuschung hatte sie an jedem etwas auszusetzen: Zu alt, zu hässlich, zu dumm, zu herrisch oder ob seines Vermögens zu eingebildet. Sie wollte schon Ehefrau werden, aber nicht als willenlose Zierde, schließlich kannte sie ihren Wert und den ihrer Mitgift. Deshalb würde sie geschäftliche Entscheidungen eines Ehemannes, die dieser, wie ansonsten üblich, ohne ihre Zustimmung oder gar gegen ihren Willen tätigt, nie ertragen. Handel war für Marie wie ein Lebenselixier, solche Freude machten ihr das Rechnen und Feilschen. Um das nicht aus der Hand geben zu müssen, wäre sie sogar bereit, das väterliche Handelshaus unverheiratet weiterzuführen. Natürlich müsste sie dann ledig bleiben, doch das würde ihr immer noch lieber sein, als ihre Mitgift und das spätere Erbe von einem Ehemann verschleudern zu lassen.
Bereits auf der Heimreise, verweilten Vater und Tochter für ein paar Tage im Kreis Radomsko, auf dem Gut Abakowski. Der Gutsbesitzer war ein Jugendfreund des Kaufmanns Otto Bobke. Dieser kannte den polnischen Adeligen seit dem Januaraufstand von 1863. Damals hatten sich beide den Aufständischen angeschlossen, denn sie befürchteten, auf den Listen der Branka zu stehen, also zu den 10 000 jungen Männern zu gehören, die für fünfzehn Jahre zum russischen Militärdienst einberufen werden sollten. Als jedoch nach der Hinrichtung von Zygmunt Padlewski, dem Führer der Aufständischen, die Unterstützung durch das Ausland versagt wurde und die umjubelte nationale Befreiungsbewegung in einen Partisanenkrieg überging, zogen sie sich zurück. Besser gesagt, sie versteckten sich in einer Dachkammer im Haus der Familie Abakowski nahe Plock. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz danach wurden die meisten Aufständischen aufgegriffen und verbannt. Ganze vier Monate blieben sie in ihrem Versteck, bevor sie, angeblich nach einer Seereise, in ihre Elternhäuser zurückkehrten.
Auf einem kleinen Fest anlässlich einer Taufe lernten sich Marie Bobke und Phillip Rohr kennen. Während Maries Vater dem in seinen Augen nicht standesgemäßen jungen Mann kaum Beachtung schenkte, sah seine Tochter in ihm ihren zukünftigen Ehegatten. Phillip Rohr besaß alles, was sie bei den anderen Bewerbern nicht gefunden hatte: Ebenmäßige Gesichtszüge, eine schlanke und vor Kraft strotzende Figur, ein freundliches, beinah sanftmütiges Wesen und eine im rechten Glauben verwurzelte Lebensweise. Was zählten da Herkunft und Vermögen! Obwohl vom Vater nach lutherischen Glaubensregeln und in Demut und Bescheidenheit erzogen, besaß Marie ein ordentliches Maß an Selbstbewusstsein. Ansonsten verbarg sie dieses unter liebenswürdigem Gehorsam, doch nun drohte sie ihrem Herrn Vater, ins Kloster zu gehen, falls er seinen Segen verweigerte. Das liebe Kind wusste nur zu gut, dass der seit Jahren verwitwete Mann alles tun würde, um das zu verhindern. Von einem Tag auf den nächsten war es Marie nicht mehr zuwider, ihrem Ehemann unbedingten Gehorsam erbringen zu müssen. Mit Phillip verflogen alle bisherigen Bedenken. Sie war plötzlich regelrecht erfüllt von der heiligen Pflicht als Ehefrau, sich dem Willen und allen Wünschen des Gatten in Liebe zu fügen. Gerade diese eine geheimnisvolle unumgängliche Pflicht, die sie vom ersten Tag der Ehe ihrem Gatten schuldig wäre und über die sich die Erzieherinnen im Internat nur mit schamerröteten Gesichtern und unverständlichen Andeutungen äußerten, hatte ihr bisher die Freude auf den Ehestand verleidet. Auch inzwischen verheiratete Freundinnen schwiegen beharrlich über die Wünsche ihrer Ehegatten, denen sie in der Hochzeitsnacht zum ersten Mal Folge leisten mussten. Und wenn ihr eine der Freundinnen, auf eindringliches Bitten hin und unter vier Augen, tatsächlich etwas erzählte, wurde Marie daraus nicht klug. Sprach die eine von noch nie erlebten Glücksmomenten, begann die andere zu weinen und riet ihr ab, je zu heiraten. Und wenn eine Heirat unumgänglich wäre, nur einen Alten, mit tausenderlei Gebrechen, der dem Tod näher stünde als dem Leben und der höchstens noch ihre Hand halten könnte. Doch nun drängte Marie regelrecht darauf, von Phillip vor den Altar geführt zu werden. Es dauerte trotzdem mehrere Monate, ehe alle Formalitäten erledigt und Anfang 1893 Hochzeit gehalten werden konnte. Während einer kleinen Hochzeitsreise, die das Paar in Danzig verbrachte, wurde die Übernahme des alten Schlüterschen Erbhofes in Wierzeje, einem Dorf mit ungefähr dreihundert Seelen, in die Wege geleitet.
Der Schlütersche Erbhof im Jahre 1893
Zum Erbhof gehörten knapp sechzig Hektar fruchtbares Ackerland, um die einhundert Hektar Wald, der bis nahe Meszcze reichte, weitläufige Riedflächen, mehrere Fischteiche und ein ergiebiger Torfstich. Der Hof selbst bestand aus dem alten Wohnhaus, alten und neuen Stallungen, verschiedenen Schuppen und einer großen Scheune. Etwas abseits davon das 1825 von Gertraud und Christian gebaute und von seinem Ausmaß herrschaftlich anmutende neue Wohnhaus. Zu dem gelangte man von der Straße her über eine von hohen Pappeln gesäumte Allee, die auf einem mit hellen Granitsteinen gepflasterten Vorplatz endete. Eine breite, siebenstufige Treppe führte ins Haus. Ein wirklich vornehmer Aufstieg, der Marie über die nachwinterliche Tristesse hinweghalf, die das Anwesen umhüllte. Doch so einsam am Dorfrand gelegen, hatte sie sich ihr neues Zuhause nicht vorgestellt. Wäre nicht...