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Der November war so gewesen, wie der Windmond, Nebelung oder Nebelmond eben sein musste. Das war der Monat der Heiligen und der Toten, die Vorbereitung aufs Ende, zumindest das Ende des Jahres, der Beginn der langen Nächte. Die Sonne hatte sich längst verabschiedet und das feuchte Grau nahm überhand, vielleicht auch ein schmutziges Weiß, falls schon erste Schneeflocken gefallen waren. Zähe Zeit, Depressionen schlichen heran auf gedämpften Pfoten, wer jetzt keine Vollspektrum-Lampe als Lichtersatz hatte, der kaufte sich keine mehr.
In dieser trostlosen, unguten Zeit hatte es den alten Faller erwischt. Am Abend eingeschlafen und am Morgen nicht mehr aufgewacht. O schöner Tod.
Viele hatten den Emeritus für Alte Geschichte, der jahrzehntelang an der Universität Basel tätig gewesen war, um Studentinnen und Studenten dieses Faches nicht gänzlich verzweifeln zu lassen, für unsterblich gehalten.
Auch Melchior Fischer hatte erst letzthin noch eine Eloge über den nun doch nur scheinbar Unzerstörbaren geschrieben: »Es kann nur den Einen geben«.
Der Text war anlässlich Fallers 90. Geburtstag in der Lokalzeitung erschienen.
Jetzt gab es ihn nicht mehr, Cosimo Faller. Abkomme reicher Basler Familien, die um 1750 ihr erstes Vermögen gemacht hatten und es weiterreichten, vom Weben der Seidenbändel über die Färberei bis hin zu Chemie und Finanzwirtschaft, und bei jedem wirtschaftlichen Übergang, bei jeder Diversifizierung wurde das familiäre Vermögen exponentiell vermehrt.
Der alte Faller jedoch hatte mit derlei Familientradition nichts zu tun haben wollen. Er war Historiker gewesen, vielleicht auch Hysteriker, und hatte stets auf der Seite der Entrechteten und Schwachen gestanden. Das Rebellische hatte gut zu seinem asketischen Äußeren gepasst.
»Friede den Hütten, Krieg den Palästen«, hatte der Greis gerne deklamiert, obwohl er in einem durchaus komfortabel umgebauten Haus in der Grossbasler Altstadt gewohnt hatte.
Fischer hatte Tränen vergossen, als er durch eine schmucklose Todesanzeige in der Zeitung erfahren hatte, dass sein Mentor und zeitweiliger Financier nicht mehr war. Ein paar Tage vorher hatte er seinen Wohltäter noch gesehen, der über eine Unpässlichkeit geklagt hatte. Ihm sei der Teufel des Alters in den Kopf und in die Glieder geschossen, hatte Faller gestöhnt und Fischer eine Flasche Unikum Zwack gereicht. Er könne nicht mal mehr den vermaledeiten Verschluss einer Bitterlikörflasche aufdrehen, hatte der Alte gejammert, aber zum Glück gehe es mit dem Trinken noch ganz passabel.
Nun würde es keine ausufernden Diskussionen mehr geben, die immer mehr zu beseelten Monologen des Alten geworden waren, der mit knarzenden Budapestern seine Bibliothek durchmessen hatte, während sich Fischer mit dem Genuss ausgesuchter Weine aus dem Familienkeller oder besonders würziger Amarissimi ins richtige Feuer gebracht hatte, um Faller etwas entgegenhalten zu können, wenn der beispielsweise die Suche nach dem legendären Schatz des Gotenkönigs Alarich in Süditalien hatte andeichseln wollen.
Nun würde es auch keine Bücher mehr geben, die von Faller gekauft, aber nie gelesen wurden und deshalb bald darauf bei Fischer landeten. Und es würde vor allem keine finanziellen Zuschüsse mehr geben für die Verwirklichung linksradikaler Pläne wie Parteigründungen, Initiativen, Veröffentlichungen und direkte Aktionen, die Fischer im Auftrag des Alten hatte durchführen sollen und die alle meist schon im Anfangsstadium als Rohrkrepierer geendet hatten.
Wer waren eigentlich die Erben? Das fragte sich Fischer trotz aller Trauer. Welche gierige Bande holte sich das Haus in der Altstadt? Fischer wusste von einem Großneffen, der sowieso schon eine Menge Kohle hatte. Geerbt. Das Sahnehäubchen dazuverdient als Wirtschaftsanwalt.
Doch dann wurde Fallers Testament verlesen. Der Alte hatte sich unter anderem die Einrichtung einer Stiftung erbeten, in deren Stiftungsrat Melchior Fischer, eher erfolgloser Literat und nebulöser Anarchist, einsitzen sollte. Und selbiger Fischer sollte auch die Abdankungsrede bei seiner Grablegung halten.
Einen größeren Affront hätte der alte Faller seiner Sippe und der gesamten mehrbesseren Gesellschaft Basels nicht zumuten können.
So blieben offenbar auch diverse Eingeladene der Trauerfeier in der Kapelle 2 des Friedhofs am Hörnli zwischen der Stadt Basel und der Landgemeinde Riehen fern. Fischer hatte es nicht weit von seiner Behausung bis zum Gräberfeld. Drei Minuten mit dem Fahrrad. Er kam durch den Seiteneingang aufs Gelände und betrachtete den schmalen Trauerzug, der sich von den Parkplätzen her zur Abdankungshalle schob. Sofort sah er den kurzbeinigen Verkehrsminister, der sich so gerne als bekennender Nicht-Velofahrer bezeichnete. Der Mann wusste wohl nicht, dass es auch Kinderfahrräder gab, die für seine Größe bestens passen mochten. Wenigstens ein Mitglied der baselstädtischen Regierung war also bei Fallers Begräbnis anwesend.
Fischer schüttelte ein paar Hände, nachdem er sich dem Pfarrer vorgestellt hatte. Der Geistliche war vom Großneffen engagiert worden, obwohl der Tote bekennender Agnostiker gewesen war. Die Orgel bröselte den Trauermarsch von Frédéric Chopin unter die Anwesenden. Nach dem Priester mit seiner etwas lauen Predigt über den Stolz der Menschen, den diese nicht ins Grab mitnehmen konnten oder so ähnlich, ertönte Musik von Johann Sebastian Bach und dann war Fischer an der Reihe. Er war froh, dass er zu Hause ein paar Schlucke aus dem wohltuenden Krug genommen hatte. Während er nach vorne ans Rednerpult ging, bemerkte er, wie der kurzbeinige Regierungsrat zum Ausgang schlich und verschwand.
Nun gut, Fischer erzählte vom alten Faller, der sein Professor an der Universität gewesen war. Er würdigte den Witz und die ausgeleierten Pullover des Alten, erzählte von dessen unorthodoxer Art der Lehre und seiner Kritik an einer Wissenschaft ohne Leidenschaft und Liebe für das Abseitige.
Zur Beunruhigung eines eh bereits nervös auf den Stühlen herumrutschenden Teils des Publikums fügte Fischer hinzu, dass der Verstorbene diese Wissenschaft immer im Dienste des Volkes gesehen, also edles Engagement für die Entrechteten und Armen in dieser Gesellschaft gezeigt habe. Dabei dachte Fischer kurz an sich selbst als Empfänger solcher Wohltaten. Ja doch, er hatte sie sich verdient gehabt.
Es gab noch mehrere schöne Sachen über die fallersche Herzensgüte, die Fischer in Richtung Publikum sprach. Aber er sah, wie sich seine Worte ballten, nicht weiterkamen, es nicht in die Ohren und auch nicht in die Herzen der Menschen schafften, die da saßen und offiziell um jemanden trauern mussten. Es entstand eine dunkle Wolke von Worten, die über dem Publikum dräute, mehr geschah nicht.
Einen Moment lang war Fischer versucht, eine Brandrede zu halten und loszudonnern gegen das herzlose Geld und die grausliche Arroganz der Menschen, gegen die kriecherische Bourgeoisie und ihre politischen Zuträger von links nach rechts, gegen die Sturheit und Dummheit. Aber wer war er schon, dies den Leuten um die Ohren zu hauen? Man würde ihn entsetzt ansehen oder auslachen und seine Worte sogleich vergessen. Er beendete seine kleine Rede mit einem verbindlichen Memento mori an die Zuhörenden. Der zaghafte Applaus belohnte ihn nicht.
Alle Anwesenden waren froh, dass sie wieder nach draußen durften, in die Novemberluft, wo nicht Worte über ihnen hingen, sondern nur der Nebel.
Eine alte Dame bedankte sich jedoch bei Fischer für die schöne Rede. Sie sei eine ehemalige Haushälterin Fallers und der Herr Professor sei der beste Arbeitgeber der Welt gewesen, so ein liebenswürdiger und großzügiger Grandseigneur, eine Seele von Mensch, ach ja, ach je.
Fischer nickte zur späten Liebeserklärung und dankte der Frau seinerseits. Zum Leichenschmaus, wenn es denn überhaupt einen gab, war er nicht eingeladen worden.
Die Sache mit der Stiftung Cosimo Faller stellte sich als kompliziert heraus. Der restliche Stiftungsrat war von eher vorsichtiger, wenn nicht gar konservativer Natur. Als Präsident wurde der Großneffe gewählt.
Der machte sich gleich wichtig. Es existiere ein schriftliches Werk des alten Professors, das es zu sichten und später vielleicht zu publizieren gebe, das sei vordringlichste Aufgabe der Stiftung, aber das dauere. Man müsse namhafte Herausgeber und prominente Verleger finden, sich an Experten wenden. Und so weiter.
Fischers Einwände, dass der Stiftungszweck ebenso die Förderung sozialer Experimente sei, wurden weggewedelt oder protokolliert und bald vergessen. Selbstverständlich war er stets in der Minderheit, wenn es um die Bereitstellung von Geldern für gewisse Projekte ging. So entwickelte Fischer rasch eine schwere Abneigung gegen die anderen Stiftungsräte, hingegen durchaus eine Zuneigung für die einzige Rätin. Sie war eine gepflegte Dame, etwas jünger als er, eine Bekannte des alten Faller, die Fischer zweimal bei ihm angetroffen hatte. Eine Seelenverwandtschaft verbinde ihn und Juliane Habichtkraut, hatte der Alte ihm damals mit strahlenden Augen erklärt. Fischer vermutete, dass sie dessen illegitime Tochter war. Bei der Abdankungsfeier hatte er sie nicht gesehen.
Ebenjene Dame korrigierte jeweils die Räterunde mit »eine Herausgeberin« und »eine Verlegerin« sowie »eine Expertin«, was Fischer entzückte. Sie war die Einzige im Stiftungsrat, die mit ihm nicht wie nicht vorhanden umging.
Nach den regelmäßigen Sitzungen duschte Fischer stets lange und ausgiebig, bis er wieder sein Blut unter der Haut fließen spürte.
Rastlos hatte sich die Welt unterdessen weitergedreht. Niemand dachte...
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