»Was hast du denn? Du guckst so entsetzt, als wäre dir ein Clown begegnet.«
Dean Winchester
Kapitel 1
Nächtlicher Angriff
Colin Jameson liebte die Nacht. Viel zu selten kam der Elfjährige dazu, sie in vollen Zügen zu genießen. Meist schlief er dann längst, müde vom Vormittag in der Schule und den vielen Stunden harter Arbeit auf den elterlichen Feldern. Und selbst wenn nicht, erlaubten Paul und Marianne, seine beiden Erzeuger, es ihm ohnehin nie, nachts nach draußen zu gehen.
Doch manchmal tat er es trotzdem. Heimlich.
Insbesondere in Nächten wie dieser.
Insbesondere, wenn der Zirkus kam.
»Schneller, Colin«, rief Stuart. Der Zwölfjährige mit dem knallroten Rad führte ihre kleine vierköpfige Gruppe an. Er trat so hektisch in die Pedale, als gelte es, einen strengen Zeitplan einzuhalten oder einen Zug zu erwischen. »Gib Gas, du lahme Ente. Sonst kommen wir nie an.«
»Hast du Angst, die machen zu, oder was?«, scherzte Anne. Das blonde Mädchen von der Lucas-Farm fuhr wie der Wind. Und sie lächelte über das ganze Gesicht. »Es ist ein Zirkus, Stu. Die gehen nicht weg, bevor sie ihre Shows nicht gespielt haben. Die warten sogar auf Besuch.«
»Aber auf keinen, der um Mitternacht vorbeischneit«, sagte der Letzte in ihrem Bund. »Ehrlich, Leute. Wir sollten uns das noch mal überlegen. Wir bekommen bestimmt gehörigen Ärger, wenn das hier rauskommt. Außerdem: Wer weiß, wie diese Menschen reagieren, wenn sie uns sehen? Mein Dad sagt immer, mit dem Zirkus hat man besser nichts zu tun.«
Eric Wyndall war ein Feigling vor dem Herrn und mit mehr Allergien als Haaren gesegnet. Er hatte eine Brille mit den dicksten Gläsern der Welt und trotz seines Alters von inzwischen schon neun Jahren noch immer zwei Stützräder an seinem klapprigen Rad. Colin hielt wenig von ihm.
»Dein Dad hat auch Schiss vor seinem eigenen Schatten«, sagte Stuart. »Und du schlägst exakt in seine Richtung, Eric.«
»Genau.« Anne nickte und bog nach links in die East Road ein, die zum Ortsrand führte. »Sei nicht so ein Schisser. Wer soll uns denn schon sehen, hm? Wir wollen doch gar nichts, und wir wollen auch niemanden stören. Wir gucken nur mal.«
»Und wie!«, stimmte Colin ihr zu. Dann trat er fester in die Pedale.
Salem, Indiana war ein winziges Kaff irgendwo im ländlichen Nichts der USA. Ein Dutzend Häuser, ein paar Farmen und Höfe, jede Menge Weideland. Jeder kannte jeden. Präsident Reagan hatte im Wahlkampf getönt, aus Orten wie Salem blühende Landschaften voller neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Doch inzwischen war der ehemalige Hollywood-Star seit Jahren im Amt, ohne dass sich irgendetwas getan hätte. Die Männer, Frauen und Kinder aus Salem gingen nach wie vor ihrem Alltag aus Stall- und Feldarbeit nach, aus Stall- und Feldarbeit und noch mehr Stall- und Feldarbeit. »Elender Schauspieler!«, schimpfte Colins Dad nun immer, wenn Reagan auf dem Bildschirm ihres Röhrenfernsehers erschien. Und damit, fand auch Colin, war alles über den Mann gesagt.
Nein, Salem blieb. Wo es war - und wie es war. Nichts änderte den immer gleichen Rhythmus des Dorfes im Nichts, und auch Colin wusste längst, dass sich sein späteres Leben in wenig von dem seines Dads und seines Grandpas unterscheiden würde. Einzig Nächte wie diese brachten lang ersehnte Abwechslung. Nächte, in denen der Zirkus in den Ort kam.
»Und du hast ihn wirklich gesehen?«, fragte der Junge zum vermutlich tausendsten Mal.
Anne lachte. »Wenn ich es doch sage. Mom und ich kamen mit dem Traktor von den Feldern, und da standen die bunten Wohnwagen plötzlich. Ein runder Kreis aus Wohnwagen, und daneben die Anfänge eines ebenfalls bunten Zelts. Es ist ein Zirkus.«
»Wow«, murmelte Colin beinahe ehrfurchtsvoll.
»Mein Dad sagt, Zirkusse sind nicht geheuer«, warnte Eric. »Fahrendes Volk sei nicht vertrauenswürdig, sagt er immer. Und vor dem Zirkus, der zu uns nach Salem kommt, habe ihn sogar schon mein Grandpa gewarnt, als Dad noch ein Kind war.«
»Was für ein Quatsch, Eric«, meine Stuart. »Und was soll das überhaupt heißen: nicht vertrauenswürdig? Willst du bei den Clowns ein Bankkonto eröffnen, oder was?«
»Also, ich will mich amüsieren«, betonte Anne und fuhr voraus.
Die drei Jungs folgten ihr lachend. Sogar der feige Eric.
Sie brauchten nicht lange bis zu dem Feld, das Anne meinte. Die East Road führte aus dem Dorf hinaus und vorbei an flachem Weideland. Ein fahler Vollmond stand am wolkenverhangenen Himmel, und in seinem Schein konnten sie die Umrisse des Bellamy Forests am südlichen Horizont erkennen, den leise plätschernden Bach und die Scheunen der äußeren Höfe. Dann erreichten sie komplett freies Gelände - und auf einmal war er da!
Anne hatte nicht zu viel versprochen. Colin bremste auf der Anhöhe über dem Feld und ließ den Blick schweifen. Da standen Wagen auf dem Feld - lange, große, bunt bemalte Wohn- und Frachtwagen mit runden Dächern und dunklen Fenstern. Auf einer Leine hing tropfend nasse Wäsche, in einer provisorischen Koppel stand ein waschechtes Kamel, und die Krönung von all dem war das mächtige Zelt jenseits der kleinen Wagenburg. Es war groß und rot-weiß-gestreift, hatte allerlei Fähnchen und Girlanden an seinen Seiten, und es stand mitten auf dem Acker, als hätte sich ein Loch in der Wirklichkeit aufgetan und Spaß, Freude und Leben in eine Realität gespült, die sonst nur Staub, Schweiß und Arbeit kannte. Es war ein Versprechen, fand Colin. Es war atemberaubend. Es .
»Es ist wunderschön«, hauchte Eric und sprach damit aus, was sie wohl alle dachten.
»Guckt mal«, stimmte Anne ihm zu. »Da hinten das Kamel. Ob die noch andere Tiere haben?«
»Geh mir weg mit Tieren«, brummte Stuart. Auch er hatte längst angehalten, um die Szenerie zu bewundern. »Tiere hab ich daheim im Stall mehr als genug. Ich will Zauberer sehen! Echte Magier und zersägte Jungfrauen und Männer aus Stahl und .«
»Es gibt keine echten Zauberer, Stu«, neckte Colin ihn. »Das sind doch alles nur Tricks.«
»Ach ja?« Stuart wehrte sich prompt. »Dann erklär du mir doch mal wie der Trick funktioniert, wenn man eine Jungfrau zersägt, ohne dass sie stirbt, du Schlaumeier. Na sicher ist das echt!«
Colin erwiderte nichts. Er hatte ja recht.
»Versteht einer von euch, warum wir hier nicht hin dürfen?«, wunderte sich Eric. Der Anblick der bunten Zeltplane und ihrer stummen Versprechungen schien ihm die Angst genommen zu haben. »Das ist doch toll hier!«
»Unsere Eltern sind Schisser«, urteilte Anne kurzerhand. »Ich höre sie manchmal über diesen Zirkus flüstern, wenn sie glauben, ich merke es nicht. Über irgendwelche Sachen aus der Zeit, in der er früher schon mal in Salem Halt gemacht hat und .«
»Vergesst die Geschichten«, unterbrach Colin sie. Auch seine Eltern flüsterten manchmal. Aber sehr, sehr selten. Es kümmerte ihn nicht. »Das ist doch nur Unsinn. Wir sind hier, und der Zirkus ist hier. Nur das zählt. Kommt, lasst uns näher ran gehen und .«
Ein gellender Schrei fuhr durch die Nacht wie ein Messer durch wehrloses Fleisch!
Stuart wirbelte herum. »Was ist?«
Eric zitterte am ganzen Leib. Sein ausgestreckter Arm deutete ins Dunkel jenseits der mondbeschienenen Anhöhe. »Da! Da war ein . ein Monster!«
»Du bist auch ein Monster«, brummte Anne. »Großer Gott, musst du mich so erschrecken, du Schisser?«
Colin spähte in die Schatten, sah aber nichts. »Das hast du dir bloß eingebildet, Eric.«
»Mhm«, schüttelte die Brillenschlange den blassen Kopf. »Da war jemand. Etwas. Ein . Ach, ich weiß auch nicht. Es war groß und . und finster und .«
»Groß und finster«, wiederholte Stuart spöttisch. Er war vom Rad gestiegen. Nun ging er rückwärts in Richtung der Stelle, die Eric meinte, und sah den Freund dabei tadelnd an. »So wie dein Arsch, oder was meinst du? So wie dein feiger, jämmerlicher A.«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Denn eine gewaltige Krallenhand zuckte plötzlich aus dem Dunkel hinter ihm hervor und zerschnitt ihm die Kehle!
Stuart riss die Augen weit auf. Blut quoll aus den Schlitzen an seinem Hals, rasend schnell und in wahren Sturzbächen. Dann kippte der Junge um, einfach so und ohne einen weiteren Laut. Er war tot, bevor sein Kopf den Boden erreichte. All das geschah in einem einzigen, grauenvollen Sekundenbruchteil.
Dann kam die Gestalt.
Sie war groß. Und finster. Colin sah breite Schultern, einen vollkommen kahlen Schädel und einen Mund voller rasiermesserscharfer Zähne. Die Haut des Mannes mit dem breiten nackten Oberkörper war ledrig und großflächig tätowiert, die Beine steckten in einer engen schwarzen Hose. Ein goldener Ring hing in seinem rechten Ohr. Seine Augen funkelten voller Hass, als er die Hand mit den widernatürlichen scharfen Krallen ein zweites Mal hob.
Anne schrie. Eric wich zurück und stolperte über seine Pedale. Colin traute seinen Augen nicht. Und der Mann .
Er packte Anne, noch bevor das Mädchen reagieren konnte.
»Nein!«, brüllte Colin. Endlich kam Leben in ihn. »Lass sie los!«
Doch der Unheimliche hielt sie bereits am Kragen. Annes Füße baumelten in der Luft. Die Tritte, die sie dem Fremden verpasste, schienen diesen nur weiter zu anzustacheln.
»Colin!«, schrie sie, voller Panik und Entsetzen.
Was passiert hier, keuchte der Farmerssohn...