1. Kapitel
Es waren rhetorische Fragen. Niemand scherte sich darum, ob sie sie beantwortete. Und Margarethe hatte nicht die Absicht - Schmerz hin, Schmerz her -, ihren Peinigern die Genugtuung zu geben. All die Tage hatte sie nicht ein einziges Mal um Gnade gefleht. Sie würde es auch nun nicht tun.
»Dann also nicht«, sagte der Vorgesetzte. Beinahe klang er enttäuscht. Dann nickte er seinen zwei Gehilfen zu.
Prompt beendeten sie ihre Aufgabe: Sie ließen Margarethe los und gaben ihr, just als ihr schon die Knie einzuknicken drohten, einen kräftigen Schubs. Hilflos und wehrlos taumelte die alte, in schmutzige Fetzen gewandete Frau ins Dunkel der modrigen Kerkerzelle. Zwei Schritte, drei, dann kapitulierten ihre Beine vor der Schwäche, die jede Faser ihres Seins übernommen hatte. Margarethe sackte nach unten weg und fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
Sie hörte die Männer noch lachen, als sie die schwere Zellentür schon geschlossen hatten.
Margarethe war allein.
Sie schloss die Augen vor der Welt und atmete tief durch. Der Schmerz war gewaltig, das schon - nach all den Schnitten und Stichen, Hieben und Schrauben der vergangenen Tage gab es kaum eine Stelle an ihrem Leib, die nicht höllisch wehtat -, doch er kümmerte sie nicht groß. Nicht mehr. Der Schmerz war ihr zur Normalität geworden, so bitter das auch klang. Er war allgegenwärtig und immerdar. Unvermeidlich. Und genau deswegen war er auch keinen weiteren Gedanken wert.
Stattdessen ... dachte sie an den Raum, in dem sie gelandet war. Den Ort ihrer letzten Nacht auf Erden. Sie spürte die kalten Steine unter sich, roch den Dreck in den Kerkerecken, hörte das leise Rascheln von Nagetierfüßen drüben im Stroh.
So ist es also gekommen, dachte sie, und beinahe musste sie lachen. Die Situation war einfach vollkommen absurd. Und so wird es also enden.
Bereute sie? Jeder einzelne Folterknecht hatte ihr diese Frage gestellt; jeder Pfaffe und jeder Ankläger, der zu ihr vorgelassen worden war. Sie hatte stets verneint und behauptet, es gebe nichts zu bereuen. Aber stimmte das auch? Stimmte es noch immer - nun, da ihr Schicksal besiegelt und ihr nahender Flammentod so unvermeidlich war wie der Schmerz und die Finsternis?
»Nein«, flüsterte sie ins Dunkel ihres Kerkers - so fest und so entschieden, als wollte sie die Nacht, den Stein und, ja, auch die Ratte dort hinten im Stroh davon überzeugen. »Ich bereue nichts. Ich würde es wieder tun, hört ihr? Immer und immer wieder.«
Mit jeder Silbe war ihr Ton schärfer geworden, ätzender, giftiger. Margarethe wusste und akzeptierte zwar, dass sie sterben würde, doch gefallen musste es ihr deswegen noch lange nicht. Der Centgraf, dem sie ihr Los verdankte, war genauso kleingeistig und verblendet, wie sie es ihm vorgeworfen hatte. Und obwohl er die inzwischen Monate zurückliegende Beleidigung als willkommenen Anlass genommen hatte, sich seiner Nachbarin Ramhold zu entledigen und sie als Hexe zu denunzieren, obwohl er sie foltern, verhören und verurteilen ließ, wusste Margarethe Ramhold, dass sie nichts an ihrem Leben ändern würde, gäbe man ihr die Chance dazu.
»Im Gegenteil«, flüsterte sie, und trotz der Schmerzen schlich sich ein leises Lächeln auf ihre Züge. »Ich würde den jämmerlichen Wurm heute noch lauter und überzeugter beleidigen als damals. Viel lauter.«
Was hatte sie schon zu verlieren? Nichts mehr, darauf lief es doch hinaus. Wer am Ende angelangt war, hatte keine Zukunft und keine Konsequenzen mehr zu fürchten. Am Ende von allem wurde Angst zu einem Wort ohne Bedeutung.
Margarethe öffnete die Augen wieder. Die Welt jenseits ihrer Lider war genauso schwarz geworden wie die in ihrem Kopf. Die ewige Nacht des Todes ... Sie war nah. Nur noch Stunden entfernt. Draußen auf dem Galgenplatz stapelten sie gewiss schon das Holz.
Nun musste sie lachen. Die Vorstellung, realistisch oder nicht, war einfach zu bizarr.
Und überhaupt: Der Tod war nichts, was ihr etwas anhaben konnte. Ihrem Leib, ja. Ihrem Leben. Aber nicht dem Teil von ihr, der wirklich zählte.
Die Bewegung war schnell und instinktiv, wenig mehr als der Hauch eines Gedankens. Ihr Arm zuckte nach links, ihre Finger packten die Ratte - und noch bevor das Tier wissen konnte, wie ihm geschah, knackte auch schon seine Wirbelsäule. Margarethe riss den kleinen, pelzigen Körper entzwei. Dann zog sie ihm die Gedärme heraus, bettete sie vor sich auf dem steinigen Zellenboden und badete sie in Blut und einer gesunden Portion ihrer eigenen Spucke.
Wieder schloss sie die Augen. Sie atmete ein, hielt den Atem an und konzentrierte sich. Suchte. Rief.
»Hörst du mich?«
Ein Wispern, sanft wie ihr ausweichender Atem.
»Siehst du mich?«
Ein Zucken, hart wie der Zug um ihren Mund.
»Liebst du mich?«
Bei der letzten Frage ließ sie die Faust auf das Bett aus Blut, Spucke und Innereien hinabfahren, fest und unerbittlich. Und sie begann. Worte, die kaum ein Sterblicher kannte, drangen über ihre Lippen. Laute, die nur mehr wenig mit menschlicher Sprache und menschlichem Denken zu tun hatten. Alte Laute, älter als die Zeit.
Und danach: »Bist du da, Geliebter? Bist du noch bei mir?«
»Ja.«
Die Stimme war tief wie die Ewigkeit und, oh, so herrlich vertraut. Margarethe brauchte die Augen nicht zu öffnen. Sie wusste auch so, dass er gekommen war. Dass er tatsächlich wieder an ihrer Seite war, selbst hier am Ende von allem.
»Ich bin hier, Margarethe. Wie ich es allzeit war. Und allzeit sein werde.«
Die Worte waren wie warmer Sommerregen auf ihrem Haupt und wie eine heilende Salbung auf ihren Wunden. Margarethe spürte sie eher, als sie zu hören, und das ließ sie noch bedeutsamer wirken, intimer und echter.
Die alte Frau lächelte wieder. Sie war dankbar, oh, so unendlich dankbar. Das Feuer, der Hass und die fehlende Zukunft konnten ihr nichts mehr anhaben. Nicht wenn er an ihrer Seite war. Nicht wenn er sie auffing.
Asmodi. Ihr dunkler Bettgeselle. Ihr starker Begleiter in Dunkelheit und Licht. Was sollte sie die Finsternis fürchten, wenn doch der Fürst eben dieser Finsternis gleich hinter ihr stand?
»Bleib bei mir«, flüsterte sie. Und nun war es tatsächlich ein Flehen, nun zum ersten Mal. »Sei da, wenn die Flammen kommen. Steh mir bei.«
Asmodi strich ihr über die Wange. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie wusste es nicht, und doch war ihr, als spüre sie seine Berührung so deutlich wie das Schlagen ihres Herzens.
»Ich werde da sein«, versprach er. »Jedoch nicht im Tod, Liebste. Nicht im Feuer. Das ist nicht meine Art. Ich werde dich aber jenseits der Flammen erwarten - mit offenen Armen und lächelndem Herzen. Hab also keine Furcht. Die Nacht kann uns nichts anhaben. Wir sind ewiglich, und du gehörst zu uns. Für immer.«
Dann war er fort, so plötzlich und unauffällig, wie er gekommen war. Margarethe Ramhold, die alte Hexe von Coburg, öffnete die Augen wieder und sah doch nichts als die Schwärze ihres engen Verlieses.
Asmodi. War er auch wirklich hier gewesen? Hatte sie sich seine Anwesenheit nicht bloß eingebildet, weil die Furcht doch größer war als die Vernunft?
Nein, dachte sie fest, und es war beinahe wie ein Schwur. Er war hier. Und er wird da sein, wenn ich die andere Seite erreiche. Er erwartet mich ... Mein Fürst empfängt mich morgen in der ewigen Nacht.
Mit diesem wärmenden Gedanken schlief sie ein, und nichts und niemand konnte ihr mehr schaden.
Wien, Gegenwart
Das Café Zamis war ein Lokal für Menschen und Dämonen. Somit war es auch und vor allem ein zum Haus gewordener Widerspruch aus Stein, Glas und Dachschindeln. Ein Oxymoron mit Mauern und Böden, das sich wie selbstverständlich ins Stadtbild der österreichischen Metropole hineingeschmuggelt hatte, obwohl es nach vorherrschender Meinung der meisten Dämonen eigentlich gar nicht existieren durfte.
Vielleicht war das der wahre Grund, aus dem es nun - immerhin schon Mitte März - noch immer geschlossen hatte. Und vielleicht erklärte sich auf diese Weise auch, weshalb ich gerade - wie schon oft in den vergangenen Tagen - so ratlos in seinem geräumigen Inneren stand.
Oder ... nicht.
»Okay«, murmelte ich. Ich saß an einem Ecktisch im ansonsten von allen guten und auch allen übrigen Geistern verlassenen Schankraum und hing nicht gerade erbaulichen Gedanken nach. »Das ist eine Herausforderung.«
»Ach ja?«
Die unerwartete Stimme in meinem Rücken ließ mich zusammenfahren. Ebenso prompt wie unsanft wurde ich aus meinen Grübeleien gerissen. Erschrocken, noch mehr aber überrascht drehte ich mich um. »Was ...«
Tatsächlich. Das vollbärtige Gesicht, das dort auf der Schwelle des Schankraums erschienen war, kannte ich sehr gut. Und in diesem Augenblick hatte ich nicht übel Lust, ihm eine Backpfeife zu verpassen, die sich gewaschen hatte.
»Musst du mich so...