Schweitzer Fachinformationen
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Wir haben keine Angst vor der Vergangenheit an sich. Aber wir haben Angst davor, dass die Vergangenheit uns einholt. Dass sie aus der Ecke hervorkriecht, in die wir sie gestellt haben, und uns still und heimlich folgt wie ein länger werdender Schatten auf einer leeren Straße, bis wir schließlich spüren, wie sie uns um die Beine streicht.
Was zwischen ihm und mir vor so vielen Jahren hinter den Mauern jenes ehrwürdigen College passierte, kann ich ebenso wenig beweisen wie das, was jetzt gerade geschieht. Aber es gibt ja viele Wahrheiten, die ohne handfeste Beweise auskommen. Behaupten kann man so einiges, aber wie soll man nachweisen, dass jemand der beste Freund war, den man je hatte? Wie will man die eigene Reue darüber messen, diesen Freund schwer enttäuscht zu haben? Was ist mit der Furcht, jener gnadenlosen, unendlichen Furcht, dass er einem nie vergibt - nie vergibt und nicht vergisst?
Bevor ich ihn kennenlernte, hatte es in meinem Leben nur ein einziges Ereignis gegeben, das ich mir nicht erklären konnte. Ich war noch ein Kind gewesen, und es hatte mich völlig unvorbereitet getroffen - weil es so gar keine Ähnlichkeit mit den Gruselgeschichten hatte, die wir uns erzählten, wenn wir im Schneidersitz hinter dem heruntergekommenen Naturwissenschaftsgebäude saßen und uns vor den Schulköchinnen mit den blaustichigen grauen Haaren versteckten, die die Lehranstalt auf der Suche nach den beim Mittagessen abgängigen Schülern wie Haie umkreisten. Was wir uns in unserem Gespenstergeschichtenclub erzählten - von dem Geist, der zwischen den indischen Bekleidungsgeschäften und dem großen Tesco-Supermarkt umging, oder der Kreatur, die sich auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei herumtrieb -, machte mir Angst, so prickelnd und scharf wie Brausepulver auf der Zunge. Mein Erlebnis dagegen war nebelhaft und trüb, am Rande von Vernunft und Realität. An Folgendes erinnere ich mich:
Ich setzte mich ruckartig in meiner ThunderCats-Bettwäsche auf und starrte die Silhouetten der Gegenstände an, die in der Finsternis ihre vertraute Form verloren hatten: Der Notenständer ragte neben dem angeschlagenen Klarinettenkoffer und einem kaum benutzten Fußball so schräg auf wie der Mast eines sinkenden Schiffes. Die Blicke der Actionfiguren auf der Kommode waren ausnahmslos auf mich gerichtet, das wusste ich, auch wenn ich sie nicht sah. Die Stille verriet mir, dass es bis zum Morgen noch lange hin war. Irgendetwas hatte mich geweckt. Kein Geräusch. Eher ein Gefühl.
Jemand war im Haus.
Ich war noch nie besonders mutig gewesen und kann nicht leugnen, dass ich in diesem Augenblick große Angst hatte. Doch gleichzeitig spürte ich, wie tief im Innern eine unwiderstehliche Neugier an mir zerrte. Ich fürchtete mich vor dem, was da in der Nacht lauerte, doch irgendwie war die Furcht davor, ihm nicht zu begegnen, noch größer. Und deshalb glitt ich vorsichtig aus dem Bett und verließ lautlos mein Zimmer.
Als sich meine Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schlich ich zur Tür am Ende des Treppenabsatzes. Sie stand einen Spaltbreit offen, und ich sah die Reflexion meiner schlafenden Mutter in der Spiegelfront des Kleiderschranks. Das Licht des Radioweckers färbte ihre Haut kränklich blass. Doch weder schwebte eine geisterhafte Gestalt neben ihr, noch hatte sich ein Wahnsinniger mit blitzender Klinge in der Hand über sie gebeugt. Nichts regte sich bis auf ihren Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug, den sie im Schlaf tat, hob und senkte.
Ich ging weiter ins Badezimmer, das durch das Mondlicht auf den Fliesen und einen leichten Bleichmittelgeruch seltsam klinisch wirkte. Bei der Vorstellung, eine Gestalt in der Badewanne vorzufinden, deren krallenhafte Hände sich um den bunt gestreiften Duschvorhang schlossen, wurde meine Zunge so trocken, dass sie am Gaumen klebte. Doch als ich mich vorwagte und in die Wanne blickte, sah ich nur den tropfenden Duschkopf, der wie ein Gehängter hin und her baumelte und mit blindem Blick in die Schwärze des Abflusses starrte. Ich krampfte die bloßen Zehen auf dem kalten Linoleum zusammen, ging rückwärts aus dem Raum und kehrte auf den Absatz zurück.
Dann stieg ich die Treppe hinunter, wobei ich das Geländer fest umklammerte (und die letzte Stufe wie immer übersprang, da ich aus unerfindlichen Gründen nicht darauftreten wollte). Im Wohnzimmer saß der alte Sessel lauernd in der Ecke, und der Teppich streckte seine fransigen Finger nach mir aus. Das Licht schaltete ich nicht ein - ich hatte zu viel Angst davor, was ich dann sehen könnte oder was womöglich mich zu sehen bekam. Im Dunklen tapste ich durch den Raum und warf dabei einen Blick hinter das Sofa und den Beistelltisch. Unser Haus war nur tagsüber ein ganz gewöhnliches Haus. Nachts kauerte es sich zusammen und flüsterte hinter meinem Rücken. Die Vorhänge vor dem Erkerfenster waren zugezogen. Ihr Anblick hatte etwas Unwirkliches, Schwindelerregendes, als würde sich jetzt etwas anderes dahinter verbergen als Reihenhäuser mit Waschbetonterrassen und überwucherte Vorgärten. Ich schlich mich seitlich an das Fenster heran, nahm die Vorhangkante zwischen die Fingerspitzen und zog sie vorsichtig zurück. Aus der Dunkelheit dahinter tauchte ein Gesicht auf. Es war so nah, dass ich die dunklen Ringe unter den Augen erkennen konnte. Mir stockte der Atem, sonst hätte ich geschrien - dabei war das Gesicht mein eigenes, gespenstisch gespiegelt in der Fensterscheibe. Dahinter sah ich die Straße, die still und verlassen dalag.
Mit klopfendem Herzen ging ich vorbei am Esstisch, auf dem sich die Bügelwäsche stapelte, vorbei an der vertrockneten Grünlilie mit den knisternden Blättern und in die lediglich von der flackernden Straßenlaterne erhellte Küche. Zu meiner Linken, neben dem fleckigen Wasserkocher und dem krümelverkrusteten Toaster, tropfte es aus dem Wasserhahn metallisch auf die schmutzrandigen Pfannen im Spülbecken. Gegenüber stand der Herd, flankiert von Schränken voller Teller und Schüsseln, angeschlagener Tassen, alter Krüge und leerer Marmeladengläser. Es roch wie immer nach feuchten Lappen und kaltem Bratfett, doch darunter lag noch eine andere Note - etwas Organisches wie frisch umgegrabene Erde. Direkt vor mir war die Tür mit der Milchglasscheibe, die in die kleine Vorratskammer führte.
Jemand war hinter der Scheibe.
Ich erstarrte. Gaffte das Glas und die Gestalt dahinter an. Ihre Silhouette war verschwommen - bis auf die kleinen, dunklen Ringe ihrer Fingerspitzen, die sie gegen die Scheibe drückte. Der Kopf pendelte hin und her, eine schlangengleiche Bewegung, die mich erschaudern ließ. Ich fragte mich, ob es - was es auch immer war - mich in der Finsternis sehen konnte. Ob es mich hörte oder roch.
Ich durfte auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit erregen. Daher blieb ich völlig reglos stehen und überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Wie war es dort hineingekommen? Die Tür, hinter der es stand, war der einzige Zugang zur Vorratskammer. Vielleicht, dachte ich mit einem weiteren Schaudern, war es schon immer da drin gewesen. Wir hatten einfach nur nichts davon gewusst.
Plötzlich klopfte es fest gegen die Tür.
Ich machte einen Satz nach hinten. Panik durchfuhr mich, meine Beine wollten losrennen. Ich wollte nach meiner Mutter rufen. Doch gleichzeitig überkam mich stärker als zuvor jenes makabre, waghalsige Bedürfnis, zu bleiben und es mit eigenen Augen zu sehen. Ich wartete einen Moment, bis sich mein Atem beruhigt hatte, zwang meine Füße, erneut auf die Tür zuzugehen, krümmte den Körper wie vor einem drohenden Zusammenstoß und holte tief Luft.
Ich packte den Türgriff. Drehte ihn. Öffnete die Tür.
Dahinter stand mein Vater, doch er war im falschen Alter. Nicht so alt wie zu dem Zeitpunkt, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes. Jetzt war er ein Junge wie ich, zehn oder elf Jahre alt. Seine Wangen waren weder gerötet noch mit spinnwebartigen Äderchen überzogen, sondern sommersprossig frisch. Mit seinem ordentlich geschnittenen rotblonden Haar sah er aus wie einem Buch von Enid Blyton entsprungen. Genau wie auf den Schwarz-Weiß-Fotos, die ich einmal in einer löchrigen Einkaufstasche gefunden hatte. Zu meiner Panik gesellten sich nun weitere, widersprüchliche Gefühle: Wut über alles, was geschehen war, und Erleichterung, dass er, anders als gedacht, doch nicht für immer weg war. Nun hatte ich die Gelegenheit, noch einmal mit ihm zu reden. Allerdings kam es mir merkwürdig vor, »Dad« zu einem anderen Kind zu sagen, und ich wusste nicht, wie ich ihn ansprechen sollte. Mit einem Mal kam ich mir in meinem zu kleinen Schlafanzug ziemlich dämlich vor und hatte Angst, in Tränen auszubrechen. Aber das schien er gar nicht zu bemerken. Er blickte über meinen Kopf hinweg in die Finsternis im Innern des Hauses.
Und dann lagen plötzlich die Hände meiner Mutter auf meinen Schultern. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie Dad über meinen Kopf hinweg in einem geduldigen, höflichen Ton, als würde sie mit einem sehr alten Menschen oder einem Hausierer sprechen.
Sie starrten sich an. Dann öffnete mein Dad den Mund so weit, dass ich schon befürchtete, er würde sich gleich den Kiefer ausrenken. Als ob er wollte, dass Mum seine Zähne untersuchte. Er streckte die Hand aus, und hätte mich Mum nicht grob zurückgerissen, hätte er mich berührt. Erst jetzt begriff ich, dass sie die Person, die vor uns stand, nicht erkannt hatte.
Ich zappelte und versuchte, ihr ins Gesicht zu blicken, doch sie hielt mich noch fester umklammert. Weißt du nicht, wer das ist?, rief ich. Sieh dir seine Augen...
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