Schweitzer Fachinformationen
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von Thomas Borer
Vor der Jahrtausendwende steht die Schweiz vor ihrer grössten aussenpolitischen Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und es ist ebendieses Verhalten der Eidgenossenschaft vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, das Gegenstand der Auseinandersetzung wird. Vor allem die jüdischen Stimmen aus einer vergangenen Zeit, die wir Schweizer für abgeschlossen hielten, stellen Fragen und Forderungen, die nach einer Ergänzung, ja einer Änderung unseres Geschichtsbildes rufen. Die Forderungen der jüdischen Opfer, von denen wir annahmen, dass sie in den Jahren nach dem Krieg bereits erfüllt worden seien, richten sich zunächst an die Banken unseres Landes. Es geht um nachrichtenlose Vermögen, die von Verfolgten des Dritten Reiches als Auslandsgelder in der Schweiz deponiert worden waren und nicht mehr abgeholt wurden, weil die Depositäre Krieg und Konzentrationslager nicht überlebt hatten. Die Diskussion dreht sich um die Fragen, wie viele derartige Gelder noch bei den Banken liegen, was ihr Schicksal war und, falls noch vorhanden, inskünftig sein soll - und warum diese Fragen nicht alle schon längst abschliessend geklärt sind. In einer zweiten Bewegung rücken dann andere Vermögenswerte in den Blick Versicherungspolicen, Schmuck, Diamanten, Gemälde. Die Fantasien werden aber am stärksten vom Gold beflügelt. Zum einen geht es dabei um das Gold, das die Deutsche Reichsbank gegen Schweizer Franken oder Warenlieferungen an unsere Nationalbank verkauft hatte. Dabei handelt es sich zu einem grossen Teil um Gold, das die Nationalsozialisten den Zentralbanken der eroberten Länder abgenommen hatten, also sogenanntes Raubgold. Moralisch viel heikler ist jedoch das «Totengold», das von den Nationalsozialisten im Rahmen ihres schrecklichen Genozids erbeutet worden war; Zahnplomben und Eheringe, die in den Vernichtungslagern systematisch gesammelt wurden. In einem dritten Schritt kommt «Naziraubgut» hinzu, das heisst die Vermögenswerte, die von Funktionären des Dritten Reiches während des Krieges in die Schweiz transferiert worden waren, sei es als geheimer Kriegsschatz für eine mögliche Wiederaufrüstung Deutschlands, sei es zur persönlichen Bereicherung. In weiteren Schüben erfolgt eine Reaktivierung zusätzlicher Themen, etwa der gesamte Aussenhandel der Schweiz jener Jahre, unser Finanzplatz, unsere Neutralitätspolitik und vor allem auch unsere Flüchtlingspolitik. Letztlich steht unsere ganze Geschichte vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg international zur Debatte.
Der scheinbar anachronistische Ruf nach Gerechtigkeit stört das Bild, das etliche Schweizer sich von unserem Land im Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten. Er stellt unser Geschichtsverständnis infrage und erweckt in uns den Eindruck, auf der Anklagebank zu sitzen. Er ruft heftige Abwehrreflexe hervor, umso mehr als dieser Ruf nach Gerechtigkeit mitunter in aggressivster Form, gleichsam als undifferenzierter Angriff auf unser ganzes Land und Volk erfolgt und dabei oft Anschuldigungen mit aus dem Zusammenhang gerissenen Halbwahrheiten scheinbar «bewiesen» werden. Die Debatte um historische Sachverhalte ist keine akademische Diskussion. Vielmehr werden ausgehend von tatsächlichen oder behaupteten Fakten Forderungen nach konkreten Handlungen erhoben, und gegenüber Privaten, Unternehmen und dem Staat wird Macht ausgeübt, um vor allem finanzielle Kompensationen in Milliardenhöhe zu erhalten.
Wir müssen feststellen, dass die Schweiz überhaupt nicht auf diese Auseinandersetzung vorbereitet ist. Dies mag wenig verwunderlich sein für ein Land, das seit vielen Generationen von den grossen geschichtlichen Strömungen nicht oder nur am Rande und verspätet erfasst wurde. Es stellt sich aber heraus, dass wir hier keinen weiteren Fall einer eidgenössischen Verspätung haben, sondern dass die Schweiz erst am Beginn einer wichtigen Entwicklung steht. Auf jeden Fall lässt sich in der Vergangenheit kein Zeitpunkt finden, zu dem die Geschichte der Schweiz derart im Mittelpunkt der Innen- und Aussenpolitik stand, wie dies seit 1996 der Fall ist.
Zur Bewältigung der Krise wird - leider verspätet - vom Bundesrat die Task Force «Schweiz - Zweiter Weltkrieg» geschaffen, zu deren Leiter ich ernannt werde. Ohne Infrastruktur und Vorbereitung müssen einige wenige Diplomaten in eine Auseinandersetzung eingreifen, die durch viele Besonderheiten geprägt ist. Normalerweise sind aktuelle und zukünftige Herausforderungen Gegenstand der Aussenpolitik; hier sind es historische Fakten und Wahrnehmungen. Üblicherweise ist Aktualität der entscheidende Faktor für Medien; hier sind es längst vergangene Sachverhalte. Zudem erfährt die Schweiz zum ersten Mal umfassend, wie internationale Medien als «Transmissionsriemen» zur Druckausübung ausgenutzt werden können. Ferner sind unsere Ansprechpartner nicht nur Regierungen, vor allem jene der USA und Israels, sondern auch NGOs, einzelne Parlamentarier und Lo?kal?politiker sowie Rechtsanwälte. Diese Akteure folgen keinen diplomatischen Regeln, sondern sind stattdessen oft aggressiv, polemisch und unberechenbar. Sie bedienen sich unkonventioneller Methoden, wie Sanktionsdro?hungen oder Sammelklagen. Schliesslich besteht ein grosser verwaltungsinterner und innenpolitischer Koordinationsbedarf. Der Bundesrat kann seine Strategie nicht eigenständig bestimmen. Er ist gezwungen, sich mit Parlament, Nationalbank, privaten Banken, Versicherungen und Wirtschaft sowie Vertretern gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der jüdischen Gemeinschaft, eng auszutauschen. Kurzum, wir haben es mit einer neuen Form einer Gesamtkrise zu tun.
Bekanntlich hat die Eidgenossenschaft grösste Mühe, komplexe Krisen vorherzusehen und zu bewältigen. Im vorliegenden Fall treten diese Schwächen frappant und augenscheinlich zutage. Daher ist diese Darlegung interessant für alle, die sich für Aussenpolitik oder Krisenmanagement interessieren. Wie fast jede Krise wäre die hier beschriebene Auseinandersetzung durch einige, wenig kostspielige Massnahmen, die rechtzeitig hätten ergriffen werden müssen, zu verhindern gewesen. Stattdessen verlässt sich die Re?gierung zu lange darauf, dass die weltgewandten und selbstsicheren Ban?kiers ihr Problem adäquat lösen werden. Nachdem der Bundesrat die Führung übernommen hat, begehen er und andere Akteure unnötige, aber umso schwerere Fehler. Dadurch wird die Krise verlängert und hinterlässt insbesondere in unserem bilateralen Verhältnis zu den USA und Israel tiefe Spuren. Innenpolitisch verunmöglicht sie die Jahrhundertidee einer Solidaritätsstiftung und befördert den Aufstieg der SVP weiter.
Es ist die Geschichte einer schweren Druckausübung auf die Schweiz. Dass diese auch über jüdische Organisationen erfolgt, ist eher zweitrangig. Im Vordergrund steht der Umstand, dass der gewaltige Druck aus den USA kommt. Wie man damit erfolgreich umgehen soll, haben wir leider nicht gelernt. Zwar ist nach der Krise bekanntlich vor der Krise; man sollte aus schmerzlichen Erfahrungen Lehren ziehen. Aber in diesem Fall tun dies Bundesrat und Banken in unzureichendem Masse - zum Schaden der Schweiz. Daher sind wir dazu verurteilt, in späteren Krisen Ähnliches zu erleben. Dieses Buch soll eine Anleitung sein, wie Derartiges abläuft, und Hinweise geben, wie man damit in Zukunft umgehen sollte.
Das vorliegende Thema wurde schon von Autoren aus dem In- und Ausland behandelt. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die über diese Auseinandersetzung geschrieben haben, hatte ich das Privileg, 30 Monate lang mitten im Geschehen gestanden zu haben. Da uns in der Task Force von Anfang an die Bedeutung unserer Tätigkeit klar war, haben wir nicht nur Wichtiges dokumentiert, sondern über praktisch jedes Gespräch, jeden Telefonanruf, jede zufällige oder geplante Begegnung, jeden Gedankenaustausch, jeden Meinungsunterschied, viele Umstände, die normalerweise keine Spuren in den Archiven hinterlassen, eine schriftliche Notiz verfasst. Dazu motiviert wurden wir insbesondere durch den Umstand, dass wir schon gleich nach Beginn meiner Tätigkeit im Oktober 1996 feststellen mussten, dass einige Gesprächspartner mitunter dazu neigten, vertrauliche Gespräche bei Bedarf öffentlich verzerrt oder gar falsch wiederzugeben. Daher hatte ich bei fast allen Gesprächen immer einen «Zeugen» dabei. So ist die Tätigkeit der Task Force wohl besser dokumentiert als das meiste staatliche Handeln. Ich muss mich nicht wie andere Autoren auf allgemein zugängliche Quellen oder subjektive Interviews stützen. Vielmehr kann ich das Denken und Handeln der damaligen Akteure mit unzähligen Gesprächsnotizen, Berichten, Telexen, Konzepten, Gedankenspielen untermauern, die meist von einem Kollegen oder mir erstellt wurden und die anderen Autoren noch nicht zugänglich sind. Auf andere Quellen, die bereits öffentlich sind, wie insbesondere Medienberichte, Debatten in Parlamenten, Veröffentlichungen von Historikerkommissionen, gehe ich nur ein, um meine Darlegungen zu ergänzen oder zu illustrieren.
Die Mehrheit der Aufzeichnungen der Task Force liegt im Bundesarchiv und wartet auf ihre Bearbeitung und Veröffentlichung. Aus Rücksicht auf die Schutzfrist von 30 Jahren, die für Bundesakten gilt, veröffentliche ich meine...
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