Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Corsier-sur-Vevey, Mai 1854
Fanny-Louise Cailler konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass Papa ihr keinen Gutenachtkuss mehr gab. »Schlaf gut, meine Große, und träum von der Zukunft«, hatte er stets gesagt und seine Lippen lächelnd auf ihre Stirn gelegt. Auch seine warme, dunkle Stimme fehlte ihr; so sehr sogar, dass sie sich oft umdrehte, weil sie glaubte, er habe ihren Namen gerufen. Fanny-Louise - bei niemandem hatte es so liebevoll und stolz geklungen wie bei Papa. Zwei Jahre war es nun schon her, seit er gestorben war, hier, in seinem Haus in der Rue des Moulins. Ihren fünfzehnten und sechzehnten Geburtstag hatte Fanny bereits ohne seine Umarmung und sein Lachen feiern müssen. Das tat weh. Nicht so sehr jedoch wie der heutige Tag, der soeben angebrochen war - der Jahrestag seines Todes. Der Tag, an dem Papa von ihnen gegangen war und Fanny, ihre Maman und die beiden älteren Brüder Auguste und François-Alexandre alleine zurückgelassen hatte.
In der Nacht, die dem Jahrestag seines Todes vorausging, konnte Fanny nicht schlafen. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen den Brustkorb, und ihre Augen wollten sich einfach nicht schließen. Tränen nässten ihre Wangen und das Kopfkissen, das Luftholen fiel ihr schwer. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atem ihrer Mutter im Bett nebenan, um sicherzugehen, dass sie nicht aufwachte, denn Maman hatte von allen den leichtesten Schlaf. Die coucheurs, die Fabrikarbeiter, die ebenfalls in ihrem Haus übernachteten, schliefen in der Nebenkammer, die nur durch eine Tür vom Schlafzimmer der Familie getrennt war. Doch gewöhnlich interessierten sie sich nicht sonderlich für die Angelegenheiten ihrer Hausherren; zu groß war ihre tägliche Erschöpfung.
Leise kroch Fanny unter ihrer Bettdecke hervor, den Blick stets zu Maman gewandt. Deren Gesichtszüge wirkten friedlich und entspannt, wenn sie schlief. Die Kerben, die sonst ihre Stirn und die Partie zwischen den Augen zerfurchten, waren jetzt nur schattenhafte Adern auf ihrem Antlitz.
Von Auguste und François-Alexandre, den alle nur bei seinem zweiten Namen riefen, hatte Fanny keine Überraschung zu befürchten. Ihre Brüder schnarchten mit halb offenem Mund in ihren Betten, die gleich neben dem von Maman standen. Auch sie waren nach der Arbeit in den Fabriken so müde, dass sie kaum noch Zeit fanden, ihre Freunde zu treffen.
Das Geschäft mit der Schokolade lief hervorragend, und Fannys Brüder leiteten zusammen mit Maman mehrere Fabrikstandorte in Corsier und Vevey, die alle am Canal de la Monneresse lagen, genau wie ihr Zuhause. Fanny hätte gerne mitgeholfen, das Erbe ihres Vaters in die Zukunft zu führen, doch ihre Mutter behauptete, sie sei mit ihren sechzehn Jahren noch zu jung dafür.
Vorsichtig allen knarzenden Dielenbrettern ausweichend, tappte sie zur Tür der Schlafkammer. Die dicken Wollsocken, die sie zu ihrem Nachthemd trug, dämpften ihre Schritte. Obwohl es schon Mai war, konnten die Nächte hierzulande nach wie vor empfindlich kühl werden. Deshalb nahm Fanny noch ein wollenes Tuch von einem Haken neben der Tür und schlang es eng um ihren Körper. Da es schon beinahe Vollmond war, reichte das Licht im Haus aus, um bis zum Wohnzimmer zu gelangen, wo Maman die Kerzen in einem Schrank lagerte. Leise fischte Fanny eine Kerze aus der Schublade des Wohnzimmerschranks und schlich, vom Flackern des Kerzenlichts geleitet, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Im nördlichen Bereich des Wohnhauses lag die Küche - so war stets gewährleistet, dass sie etwas Kühle speichern konnte. Fannys Ziel jedoch war nicht die Kochstube oder die Latrine in der Ecke daneben, sondern das alte Schokoladenatelier ihres Vaters, das im hinteren Teil des Hauses mit Sicht auf den Canal de la Monneresse lag.
Vor der Tür zu den alten Fabrikräumlichkeiten blieb sie stehen, hob die Kerze und betrachtete das Gemälde, das ihre Großeltern väterlicherseits zeigte. Das flackernde Licht ließ die Gesichter ihrer Vorfahren lebendig wirken. Opa hatte den gleichen Namen getragen wie Papa. Von ihm hatten er und auch Fanny die markante, gerade Nase. Ob Opa wohl stolz auf seinen Sohn gewesen war, der sich nach der Ausbildung zum Kolonialwarenhändler auf eine abenteuerliche Reise nach Turin, der Wiege der modernen Schokolade, begeben und dort das Handwerk des Chocolatiers erlernt hatte? Dieser Entscheid hatte nämlich alles verändert, nicht nur das Leben seiner Familie, sondern auch das vieler Schweizer Bürger.
Mit einem leisen Seufzen senkte Fanny die Kerze, betrat den alten Fabrikraum und zog die Tür hinter sich zu. Kurz schloss sie die Augen und atmete den Duft nach Staub, Schmierfetten und gerösteten Kakaobohnen ein, der noch immer in der Luft lag, obwohl dieser Ort längst stillgelegt und durch neuere Produktionsstätten ersetzt worden war. Oder bildete sie sich das bloß ein, weil sie es sich wünschte und es sie an die sonnendurchfluteten Tage ihrer Kindheit erinnerte? An Papas raue Hand, an der sie mit weit aufgerissenen Augen staunend durch diesen Raum flaniert war? In manchen schlaflosen Nächten war Fannys Erinnerung so lebendig, dass sie sogar glaubte, den süßlichen Duft von Papas Tabakpfeife zu riechen.
Sie war unheimlich stolz auf das, was ihr Vater erreicht hatte. Wenn sie mit ihm hierhergekommen war, hatte er ihr stets von den Erlebnissen aus seiner Vergangenheit berichtet. Beeindruckt hatte sie sich jede Kleinigkeit gemerkt und ihn dennoch immer wieder gebeten, die Geschichten ein weiteres Mal zu erzählen.
François-Louis Cailler hatte zuerst ein Lebensmittelgeschäft geführt, bevor er 1819 eine eigene Schokoladenfabrik gegründet hatte. 1832 dann, sechs Jahre vor Fannys Geburt, hatte er dieses Gebäude hier gekauft. Damals war es noch eine alte Gerberei gewesen, ausgestattet mit einer Lattenschneiderei und einem Schlagbaum. Diese Geräte hatte Papa so umgebaut, dass er damit - und mithilfe des Wassers aus dem Canal de la Monneresse - Schokolade herstellen konnte. Hier im Industrieviertel En Copet waren sie bei weitem nicht die Einzigen, die mit Wasserkraft neue Waren produzierten. Zu ihren Nachbarn zählten Öl- und Getreidemühlen, Zigarren- und Kerzenfabriken, Gerbereien, Sägereibetriebe und Marmorfabriken. Auch gegenüber, im Les Bosquets, blühte der Fortschritt in Form zahlreicher Manufakturen. Papa hatte dort einige Jahre vor seinem Tod ebenfalls einen weiteren Fabrikstandort erworben.
Die Abhängigkeit vom Kanal barg jedoch auch ihre Tücken. Im Winter 1825/26 war das Wasser in La Monneresse zugefroren, sodass die Maschinen aller Produktionsstätten stillstanden. Es war das finsterste Kapitel in Papas Leben gewesen - diese Geschichte hatte er Fanny nur ein einziges Mal erzählt. Dabei waren seine Augen dunkel geworden, und seine Stimme hatte gezittert. 1826 war die Schokoladenfabrik sogar in Konkurs gegangen, und Papa hatte nicht mehr unter seinem Namen arbeiten dürfen. In jener Zeit hatte Fannys tapfere Mutter Louise die Zügel der Schokoladenfabrik in die Hand genommen, bis es Papa zwei Jahre später - nach Aufhebung des Konkurses - wieder erlaubt gewesen war, normal zu arbeiten. Fannys Maman wechselte jedoch gleichermaßen das Thema, wenn ihre Tochter etwas über die damalige Zeit erfahren wollte. Eine Frau an der Spitze eines Unternehmens? Wie musste sich das wohl angefühlt haben?
Viel mehr als Papas Berichte über die Vergangenheit der Fabrik faszinierte Fanny allerdings das »Braune Gold«, wie er den Kakao nannte. Christoph Kolumbus hatte es angeblich als erster Europäer bei einer seiner Amerikareisen entdeckt. Gemäß seiner Beschreibung hielt er die Kakaobohne, die von den Südamerikanern als Zahlungsmittel verwendet wurde, für »eine Art Mandel«. In Europa war der Kakao lange Zeit nur als heißes Getränk konsumiert worden. Besonders beim Adel war das bittere Gebräu, das durch Zugabe von Zucker und Gewürzen wie Zimt und Anis schmackhafter gemacht wurde, sehr beliebt gewesen. Die Blockschokolade, wie Fannys Papa sie hergestellt hatte, war erst deutlich später erfunden worden. Außerhalb der Schweiz nannten die Leute sie auch »Dampfschokolade«, weil sie mithilfe von Dampfmaschinen hergestellt wurde. Nur in der Schweiz, so hatte Papa gesagt, stellte man Schokolade mit Wasserkraft her.
Fanny erinnerte sich so gern an die gemeinsamen Momente mit ihm hier in seiner kleinen Fabrik in der Rue des Moulins. Wehmütig strich sie mit den Fingern über die verstaubten Maschinen und Arbeitstische, die man für die Schokoladenproduktion brauchte. Papa hatte ihr alles genau erklärt, und sie hatte den Vorgang gefühlt Hunderte Male beobachtet. Wenn man einige wichtige Details beachtete, war es gar nicht so kompliziert.
Die Dampfschiffe, die an der Place du Marché unten am Genfer See anlegten, der bei ihnen Lac Leman genannt wurde, brachten den für die Schokoladenherstellung benötigten Zucker und die vergorenen, getrockneten Bohnen, den sogenannten »Rohkakao«, aus Übersee. Zuerst musste man die Bohnen rösten, damit sie ihre Bitterkeit verloren. Wenn das geschah, erfüllten die Röstaromen jedes Mal das gesamte Haus und krochen von der Manufaktur die Treppen hinauf bis in die hintersten Ecken der Schlafkammer. Die Bohnen wurden so lange geröstet, bis sie anfingen zu knacken und sich leicht aus ihrer Schale lösen ließen. Erst wenn sie komplett von den Hülsen gereinigt waren, wurden sie in die Schokoladenmaschine gefüllt.
Fanny blieb vor dem halbrunden eisernen Kessel mit der an der Wand befestigten Keule stehen. Unter dem Kübel hatte Papa mit seinen zwei Mitarbeitern früher immer ein kräftiges Kohlefeuer entfacht. Abwechselnd rührten sie so lange mit dem Schlegel, bis die Masse flüssig und...
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