Kapitel 14
Erkenntnis und Liebe
Viele Christen setzen die Erkenntnis an die Stelle der Liebe. Sie wissen viel, sie lieben wenig. Sie suchen den Verstand zu nähren statt das Herz und bedenken nicht, dass alle Erkenntnis, die außerhalb der Liebe gewonnen wird, lahm, kalt und tot ist: eine klingende Schelle, ein Gewicht an den Füssen. Wahre Erkenntnis kommt aus der Liebe. Liebt die Seelen, arbeitet an ihrem Heil, und ihr werdet in einer Woche mehr lernen als an der Universität in Monaten; viel mehr noch: ihr werdet eine solche praktische Erfahrung gewinnen, um Seelen zu Gott zu führen, wie die ganze Theologie der Welt sie euch nicht zu geben imstande ist.
Die Erkenntnis steht so tief unter der Liebe wie das Geschöpf unter dem Schöpfer. Die Erkenntnis besteht darin, dass man die geschaffenen Dinge erkennt; die Liebe, dass man den Schöpfer selbst erkennt. Die Wissenschaft bringt uns mit der materiellen Welt, die Liebe mit der geistlichen zusammen. Wissen ohne die Liebe führt uns also zum Tode, während uns in der Liebe, die uns mit dem Schöpfer verbindet, ein vom Irdischen unabhängiges Leben mitgeteilt ist, das über den Tod triumphiert. Gleichwie Gott vor der Schöpfung da war, muss die Liebe dem Wissen vorausgehen. Liebt Gott, lasst euch durch die Taufe des Heiligen Geistes mit Seiner Liebe erfüllen, und ihr werdet einen viel klareren Blick, ein viel gerechteres Urteil, eine viel feinere Unterscheidungsgabe bekommen als alle Theoretiker der Welt.
Gewiss wird die Liebe euch treiben zu lernen, aber ihr werdet diejenigen Dinge auswählen, die zu wissen am notwendigsten sind, und die anderen für die Ewigkeit aufsparen. Der liebende Sohn fragt nach den Wünschen seines himmlischen Vaters, um ihm wohlzugefallen. Da er in Gemeinschaft mit Ihm lebt, lernt er schnell Seinen Willen erkennen, und statt die Zeit damit zu verlieren, unnütze Dinge zu studieren, wendet er alle seine Kräfte und Fähigkeiten an, diejenigen zu erwerben, die am meisten zum Ruhm seines Vaters und zum Nutzen Seines Hauses dienen.
Der Mangel an dieser Liebe ist schuld, dass sich Tausende von Christen mit unwichtigen und sogar nichtigen Fragen befassen und die Massen um sich her zugrunde gehen lassen. Während sie über die Pflanzenwelt von Palästina streiten, sich mit abstrakten und allerlei religiösen und wissenschaftlichen Fragen abgeben, vernachlässigen sie die unsterblichen Seelen um sie her.
Im Mittelalter haben Mönche monatelang die Zeit mit der Frage verloren, welchen Geschlechts die Engel sein könnten, und wieviel Zeit wird heutzutage in unnützen Erörterungen über "Geschlechtsregister" usw. verschwendet! Es werden einmal viele Leute in der Hölle sein, die Hebräisch, Griechisch und Lateinisch verstanden haben und eine vortreffliche Predigt über die Echtheit der Schrift halten konnten. Und umgekehrt wird es im Himmel viele geben, die weder lesen noch schreiben konnten.
Es ist gut, wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen, aber diese müssen nützlich und aus Liebe erworben sein. Die nutzlosen Kenntnisse sind meistens aus Hochmut oder aus Ungehorsam erworben worden; so war es beim Sündenfall Adams und Evas. Für den, der selbst gerettet ist, ist die wichtigste Erkenntnis, die er in dieser Welt der Sünde zu erwerben hat, ohne jeden Zweifel diejenige zu wissen, wie er die Seelen zum Heil bringen kann. Das ist praktisches Wissen.
Der Teufel ist sehr geschickt, die Aufmerksamkeit der Menschen auf Kleinigkeiten oder Nebensachen zu lenken. Es kümmert ihn wenig, mit welchen Fragen sie sich beschäftigen, wenn sie nur dadurch verhindert werden, sich mit der Frage ihres oder anderer Heil zu befassen.
Die abstrakten religiösen Erörterungen sind für ihn ein ausgezeichnetes Mittel, viele Christen zu zerstreuen und ihnen zu schmeicheln, ebenso wie die weltlichen Fragen ihm dazu dienen, die Weltleute zu zerstreuen und ihnen zu schmeicheln.
Man kann Götzendiener und Theologe zugleich sein; es gibt einen Götzendienst der Gedanken, der Theorie und der Wissenschaft. In der Tat besteht das Wesen des Götzendienstes - wie einmal ein Gottesmann sagte - darin, die dazwischenliegenden Dinge anzubeten. Alle Form, alle Lehrsätze, alle Organisation und alle äußerlichen Dinge sind nur ein Mittel, um einen Zweck zu erreichen. Der Formalismus und der Götzendienst reichen sich in dem Sinne die Hand, dass beide einer dazwischenliegenden Sache einen Wert beilegen, abgesehen von dem Zweck, den zu erreichen sie eigentlich nur ein Mittel sein sollten.
Der Heide richtet seine Anbetung an die geschaffenen Dinge, statt dass er sein Herz und seine Gedanken durch diese Dinge zum Schöpfer weisen ließe. Er betet die Sonne an oder ein Tier oder ein Stück Holz. Sein Blick geht nicht über den dazwischenliegenden Gegenstand hinaus, während er doch über diesen hinweggehen und auf dem Schöpfer ruhen sollte.
Der Formalist seinerseits, statt dass er in den Lehrsätzen, den Formen, den Zeremonien, der Religionswissenschaft usw. lediglich Mittel zum Zweck erkennen würde, schreibt diesen Dingen die höchste Wichtigkeit zu. Er klammert sich an die Überlieferung der Väter, an die herkömmlichen Gebräuche und alten Gewohnheiten und bildet sich ein, es sei gotteslästerlich, sich davon zu entfernen. Wie der Heide bleibt er beim Zwischengegenstand stehen, statt darüber hinweg bis zum Schöpfer selbst vorzudringen. In diesem Sinne ist er auch ein Götzendiener.
Es ist allerdings wahr, dass die Form notwendig ist; man kann sie nicht entbehren. Als Gott eine Seele schuf, schuf er für sie gleichzeitig einen Körper. Aber die Form hat einen Wert nur insofern, als sie dem Leben als Hülle dient. "Ein lebendiger Hund ist deshalb mehr wert als ein toter Löwe."
Niemand versteht das besser als die Leiter der Heilsarmee, und wenn je der Tag kommen sollte, wo diese Organisation ihr Leben verlieren würde - nun! dann möge man sie begraben, wie der General sagt. Ein Leichnam muss nicht auf der Erde gelassen werden, sein Platz ist unter ihr.
Es ist zu beachten, dass Jesus Christus, der allen Lebensprinzipien Ausdruck verlieh, keinerlei religiöse Organisation aufstellte. Vielmehr überließ er es seinen wahren Jüngern aller Zeiten, im Licht seines Geistes jene Form und Organisation zu schaffen, die den Bedürfnissen ihres Jahrhunderts am besten entsprechen würde.
Es ist eines der Gesetze des Lebens - sowohl des physischen als auch des geistlichen -, dass es sich keine Form schaffen kann, die ihm nicht entspricht. In der Natur bringt das Leben eine unendliche Vielfalt von Formen hervor. So unterschiedlich sie auch sind, alle sind ihrem Zweck vollkommen angepasst. Diese Mannigfaltigkeit der Form entsteht durch die Verschiedenheit der Lebensumstände, in denen die Geschöpfe existieren und sich bewegen müssen.
Alles, was tot ist, muss ins Grab sinken und dem Lebendigen Platz machen.
Die Wissenschaft ist nur ein Mittel, um zum Ziel zu gelangen. Doch viele Menschen machen daraus den Zweck selbst: Sie studieren, um zu wissen - nicht um zu gehorchen. Das aber ist nichts anderes als Hochmut.
Ein Omnibus ist ein Mittel, um jemanden von einem Ort zum anderen zu bringen. Niemand käme auf die Idee, darin seine Wohnung aufzuschlagen. Genau das aber tun jene, die studieren, ohne ihr Herz Gott hinzugeben und ohne seinen Willen zu tun.
Die Erkenntnis ist ein Mittel, um uns zu Gott zu führen, damit wir ihn lieben und ihm dienen. Für den Salutisten ist die ganze Erde nur ein Omnibus. Darum hat er hier keine bleibende Heimat. Deshalb ist ein einfacher Arbeiter, ein Petrus, ein Galiläer, dessen Herz überfließt von Liebe zu Gott und zu den Seelen, unendlich viel geeigneter, das Werk Gottes zu tun, als ein Schriftgelehrter, der alle Ehrentitel trägt und für den die Summe aller Religion im Wissen besteht.
Es ist selbstverständlich, dass die gelehrten "Saulusse" im Reich Gottes außerordentlich nützlich sein können. Doch wie vieles müssen sie zuvor verlernen, wie zerbrochen und ohnmächtig müssen sie erst werden, bis all ihre Wissenschaft durch den reinigenden Tod gegangen ist und aus dem Saulus ein Paulus geworden ist.
Kapitel 15
Zweifel und Entmutigung
Jede Entmutigung kommt vom Teufel - Gott entmutigt niemand.
Das sind die beiden Seiten einer Wahrheit, die der Soldat des Himmelreiches gut tut festzuhalten; denn je heftiger der Kampf ist, den er gegen das Reich des Teufels führt, desto mehr wird er dessen teuflische Anfälle auszuhalten haben und desto mehr wird er zum Zweifeln und zur Entmutigung versucht werden.
Eine Dame (früher eine "weltliche Christin") sagte eines Tages: "Ich habe nie den Teufel erkannt und seine Angriffe erfahren wie jetzt, seit ich in der Heilsarmee bin." - Das ist natürlich. Um die Kugeln und die Säbel der Chinesen in Tonkin zu erfahren, musste man sich in den Reihen der französischen Armee befinden. Um vom Teufel als Feind betrachtet zu werden, muss man ein Freund Gottes sein.
Der Böse befehdet nur diejenigen, die ihn befehden. Die Mörder führen ihre Streiche des Nachts, und um edle Seelen zu töten, sucht der Böse sie vorerst in die Dunkelheit des Zweifels und der Entmutigung zu hüllen.
Ebenso handelt der Teufel in den Verfolgungen. Sein Angriffsplan ist folgender: Zuerst streut er über diejenigen, die ihm widerstehen, Lügen aus. Dann benutzt er diese Lügen, um die Menschen glauben zu machen, sie täten Gott einen Dienst, wenn sie seine Gegner verfolgten und sogar töten würden. Durch die Lüge bedeckt er gleichsam den Schauplatz mit Dunkelheit; dann schickt er seine Diener aus, die im Schatten dieser Finsternis blindlings losschlagen. Wir erinnern uns alle an jene Entfesselung der Leidenschaften in der Schweiz, als der Böse, nachdem er...