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Inmitten von Rosen
Es war kurz vor Mitternacht, die einbeinige Frau hatte schwere Verbrennungen, und die Mumbaier Polizei war auf dem Weg, um Abdul und seinen Vater abzuholen. In ihrer Slumhütte beim internationalen Flughafen trafen Abduls Eltern, ungewohnt sparsam mit Worten, eine Entscheidung. Der Vater, ein kranker Mann, sollte in der müllüberladenen Hütte mit dem Blechdach ausharren, in der die elfköpfige Familie wohnte. Er sollte sich widerstandslos abführen lassen. Abdul dagegen, der Verdiener der Familie, sollte abhauen.
Abdul selbst war wie üblich nicht nach seiner Meinung zu diesem Plan gefragt worden. Er hatte ohnehin längst Hirnstarre vor lauter Panik. Er war sechzehn, vielleicht auch neunzehn - seine Eltern waren hoffnungslos desinteressiert an derlei Daten. Allah in seiner unergründlichen Weisheit hatte Abdul klein und schreckhaft angelegt. Als Feigling, wie er selbst sich nannte. Er hatte keine Ahnung, wie man der Polizei entwischt. Ahnung hatte er vor allem von einem: Müll. Er hatte fast sämtliche wachen Stunden in fast sämtlichen Jahren, an die er sich erinnern konnte, damit verbracht, von reicheren Leuten weggeworfene Sachen aufzukaufen und an Recyclingfirmen weiterzuverkaufen.
Abdul begriff sehr wohl, dass er unbedingt verschwinden musste, aber er hatte keine Vorstellung davon, wie das ging. Er rannte los, war aber bald wieder da. Ihm fiel nur ein Versteck ein, und das war zwischen seinem Müll.
Er riss die Tür auf und sah hinaus. Die Hütte seiner Familie stand in einer Reihe mit anderen mehr schlecht als recht zusammengenagelten Behausungen, und gleich nebenan war der windschiefe Verschlag, in dem er seinen Müll lagerte. Wenn er es unbemerkt da hinein schaffen könnte, wären die Nachbarn um das Vergnügen gebracht, ihn an die Polizei zu verpfeifen.
Der Mond gefiel ihm dagegen gar nicht: ein blödsinnig heller Vollmond, der die ganze staubige offene Fläche vor seinem Zuhause erleuchtete. Jenseits davon standen zwei Dutzend Hütten anderer Familien, und Abdul fürchtete, dass er nicht der Einzige war, der im Schutz einer Brettertür nach draußen spähte. Es gab Leute in diesem Slum, die seiner Familie alles Schlechte wünschten, einzig und allein aufgrund der alten Ressentiments zwischen Hindus und Muslimen. Andere hatten einen moderneren Grund für ihre Missgunst: Sozialneid. Abdul war im Müllgeschäft tätig, für das viele Inder nur Verachtung empfanden, und er hatte seine große Familie damit weit über das schiere Existenzminimum hinaus vorangebracht.
Immerhin lag der Platz ruhig da - verdächtig ruhig. Er zog sich wie eine Art Strand bis zu einem riesigen Klärteich, der den Slum nach Osten begrenzte, und abends ging es dort eigentlich hoch her: Leute prügelten sich, kochten, flirteten, badeten, versorgten ihre Ziegen, spielten Kricket, standen Schlange an der öffentlichen Wasserpumpe oder vor einem kleinen Bordell oder schliefen nach dem mörderischen Fusel aus der Bude zwei Türen neben Abdul ihren Rausch aus. Was immer sich in den überfüllten Hütten und auf den engen Slumwegen an Druck aufstaute, konnte sich nur hier auf dem Platz, dem Maidan, Luft verschaffen. Aber seit dem Streit und seitdem die Frau gebrannt hatte, die bei vielen nur Einbein hieß, hatten alle Leute sich in ihre Hütten zurückgezogen.
Jetzt schien zwischen den streunenden Schweinen, dem Wasserbüffel und den üblichen Betrunkenen, die bäuchlings und breitbeinig herumlagen, nur ein Wesen wachsam zu sein: ein kleiner Junge aus Nepal, der keine Angst vor Gespenstern hatte. Er saß am Klärteich, die Arme um die Knie geschlungen, eingehüllt in glitzernden blauen Dunst - einer Spiegelung des Neonschilds von einem der Luxushotels auf der anderen Seite des Wassers. Dass der junge Nepali beobachten könnte, wo er sich versteckte, fand Abdul nicht schlimm. Adarsh war kein Spitzel. Er blieb nur einfach gern lange draußen, um seiner Mutter und ihren nächtlichen Wutanfällen aus dem Weg zu gehen.
Eine bessere Gelegenheit würde er nicht bekommen. Abdul flitzte zu seinem Müllverschlag und zog die Tür hinter sich zu.
Es war pechschwarz, und es wimmelte von Ratten, trotzdem war Abdul erleichtert. Das hier war sein Lager - zehn Quadratmeter, bis an das löcherige Dach vollgestapelt mit den Dingen dieser Welt, mit denen Abdul etwas anzufangen wusste. Leere Wasser- und Whiskey-Flaschen, schimmelige Zeitungen, benutzte Tampon-Einführhilfen, zusammengeknüllte Alufolie, vom Monsun skelettierte Regenschirme, gerissene Schnürsenkel, vergilbte Wattestäbchen, verhedderte Tonbandkassetten, zerfetzte Plastikpackungen, in denen einst Barbiepuppen-Imitate gesteckt hatten. Irgendwo da im Dunkeln lagen auch die dazugehörigen Beebees oder Barblies, verkrüppelt von Experimenten, wie sie mit Spielzeug überfrachtete Kinder mit Dingen anstellten, die nicht mehr zu ihren Lieblingen gehörten. Abdul war im Laufe der Jahre auch zum Experten für die Vermeidung jeglicher Ablenkung geworden: Solche Puppen kamen immer mit dem Busen nach unten auf seinen Schrottstapel.
Geh jedem Ärger aus dem Weg. Das war Abdul Hakim Husains oberste Handlungsmaxime, an diesem Prinzip hielt er so verbissen fest, dass man es ihm regelrecht ansehen konnte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Wangen waren eingesunken, sein drahtiger Körper von der Arbeit gekrümmt - er war der Typ, der sich auf den Slumwegen durch das Menschengewimmel fädelte, ohne auch nur so viel Raum zu beanspruchen, wie ihm eigentlich zustand. Fast alles an ihm war eingezogen, außer den abstehenden Ohren und den Haaren, die sich mädchenhaft nach oben kringelten, wenn er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Ein bescheidenes Auftreten, mit dem man nicht auffiel, war nützlich in Annawadi, in diesem Sumpfloch von einem Slum, in dem er lebte. Hier in den aufstrebenden westlichen Außenbezirken der indischen Finanzmetropole drängten sich dreitausend Leute in 335 Hütten - oder obendrauf. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Zuzüglern aus ganz Indien, zumeist Hindus aus allen möglichen Kasten und Unterkasten. Abduls Nachbarn kamen aus so vielen und so verschiedenen Glaubensrichtungen und Kulturen, dass er als einer von nur drei Dutzend Muslims in Annawadi nicht mal annähernd durchfand. Für ihn war dieser Slum gepflastert mit Tretminen aus neuen und uralten Querelen, und er war fest entschlossen, in keine einzige zu tappen. Denn Annawadi war eben auch der ideale Ort für den Handel mit reicher Leute Müll.
Abdul und alle anderen lebten illegal auf einem Stück Land, das der indischen Luftfahrtbehörde gehörte. Zwischen dem Slum und der Zufahrt zum internationalen Terminal des Flughafens von Mumbai lag eine von Kokospalmen gesäumte Durchgangsstraße. Fünf piekfeine Hotels zu Nutz und Frommen der fliegenden Kundschaft zogen einen Halbkreis um Annawadi: vier ornamentüberladene Marmormegalithe und ein schnittiger blauer Glaskasten, das Hyatt. Von deren obersten Etagen aus muteten Annawadi und die anderen illegal besiedelten Flächen an wie ein paar Dörfer, die jemand vom Himmel herab in die Hohlräume der eleganten Modernität gestreut hatte.
»Um uns rum lauter Rosen«, wie Mirchi, Abduls jüngerer Bruder, es einmal beschrieben hatte, »und wir als Scheiße mittendrin.«
Seit der Jahrtausendwende boomte die indische Wirtschaft rasanter als jede andere außer der chinesischen, und in der Umgebung des Flughafens waren rosarote Paläste mit Eigentumswohnungen und gläserne Bürotürme hochgezogen worden. Ein Konzern nannte sich schlicht »More«. Immer mehr Kräne für immer mehr Gebäude, von denen das allerhöchste immer mehr Flugzeugen beim Landemanöver im Weg war: Hoch oben über der Oberstadt war ein smogvernebeltes, erfolgsbesessenes Hindernisrennen im Gange und ließ in kleinen Scheinen ein paar Chancen auf die Unterstadt der Slums hinabrieseln.
Jeden Morgen schwärmten Tausende Müllsammler aus und grasten das Flughafengelände nach verkäuflichem Überfluss ab, nach ein paar Pfund von den achttausend Tonnen Abfall, die Mumbai tagtäglich unter sich ließ. Wie Aasfresser schnappten sie nach zerknautschten Zigarettenpackungen, die aus Autos mit verdunkelten Scheiben geworfen wurden. Wie Straßenkehrer durchkämmten sie Kloaken und durchwühlten Müllcontainer nach leeren Wasser- und Bierflaschen. Wie Plünderer trotteten sie jeden...
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