Schweitzer Fachinformationen
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Neun Tage nach Vaters Beerdigung flog ich wieder nach Deutschland. Mutter und Boris kamen nach.
»Ich will nirgendwohin«, hatte Mutter ursprünglich verkündet. »Dein Vater ist noch nicht im Himmel. Die alten Menschen sagen, in den ersten vierzig Tagen bleibt die Seele zu Hause.«
»Wie kannst du einen solchen Schund glauben, Mama«, rief ich. »Du bist eine Ärztin, eine gebildete Frau. Papa wird nie mehr zu Hause sein. Vielleicht begreifst du es in Deutschland besser.«
Es war mittags und das Thermometer auf unserer Terrasse zeigte zweiundvierzig Grad. Trotz der Hitze trug Mutter einen schwarzen Rock und eine langärmelige schwarze Bluse, die sie bis zum Kinn zuknöpfte. Dennoch fror sie ständig.
»Was soll ich in deinem kalten Deutschland«, beharrte sie, willigte jedoch irgendwann ein. Vermutlich, weil sie spürte, dass ich sie brauchte. Und ich brauchte sie dringender als sie mich. Denn sie hatte ja Vater, der angeblich noch nicht im Himmel war. Sie hatte auch Boris mit seiner feinfühligen, heiteren Art.
Ich liebte es, in Boris' Nähe zu sein. Er fiel nie besonders auf, man spürte ihn aber, wie eine gut platzierte Lichtquelle, die den Raum in ein dezentes, wärmendes Licht taucht. Ein bisschen davon wollte ich mitnehmen in mein kaltes Deutschland, wo ich das Alleinsein mit meinem Kummer so sehr fürchtete. Mit meinem Mann schien ich innerlich nicht zu rechnen. Meine Mutter wiederum schien das zu spüren. Sie kaufte eine Winterjacke für Boris, eine zweite schwarze Bluse für sich, und die beiden folgten mir nach Deutschland.
Wir lebten in Bremen - Sergej, unsere kleine Tochter und ich. Wir hatten eine Wohnung gemietet in einer, wie sich später herausstellte, sehr kleinbürgerlichen Gegend. Sergej und ich hatten bisher im Osten Berlins gelebt. Von der sozialen Zusammensetzung westdeutscher Stadtteile wussten wir nichts. Wir ahnten auch nicht, dass Bremen eine Stadt war, in der es nur wenige Wohnungen gab. Die meisten Bremer lebten in Häusern, in sogenannten Doppelhaushälften, oder in engen, mehrstöckigen, aneinandergeklebten Reihenhäusern. Diese Art von Häusern mochte ich nicht. Ihre Räume waren mir zu schlauchig, ihre Wendeltreppen zu steil. Damals gefielen mir die klaren, großzügigen und wohlig beheizten Räume einer Neubauwohnung - die bulgarische Vorstellung vom schönen Wohnen.
In den sozialistischen Großstädten meiner Heimat waren Neubauwohnungen sehr begehrt. Häuser gab es ausschließlich in den Dörfern. Diese Häuser waren freistehend, meistens recht groß, dafür aber unverputzt. Auf der rissigen Erde ihrer Gärten pflanzten meine Landsleute Tomaten und Paprikaschoten, Minze und Petersilie. Zwischen den Gemüsebeeten scharrten Hühner. Manchmal gesellten sich Puten dazu, wenn sie nicht gerade mit ihren tiefsitzenden Hintern den Staub der einzigen Dorfstraße aufwirbelten.
In den bulgarischen Großstädten gab es, zu sozialistischen Zeiten und auch heute, hauptsächlich Wohnungen: dunkle, feuchte und miefige alte - oder behagliche, helle und zentral beheizte neue.
Nach einer solchen Neubauwohnung hielten mein Mann und ich in Bremen Ausschau. Hier allerdings lagen solche Wohnungen meistens in Gegenden, die uns Angst einflößten. Dort gab es winzige, übelriechende Lebensmittelgeschäfte, die gelblichen Schafskäse und fliegenumschwirrtes Hammelfleisch verkauften. Nebenan konnte man russische Romane und Brautkleider erwerben. Scharen aggressiver Jugendlicher lungerten auf der Straße. Den wenigen etwas älteren Deutschen, die man auf der Straße sah, fehlten etliche Zähne, und ihrem Körpergeruch nach zu urteilen, auch die Gewohnheit zu duschen. Sie waren unrasiert und bereits mittags betrunken.
Die Neubauwohnung, die wir schließlich mieteten, lag in einer Gegend, die hauptsächlich von Deutschen bevölkert wurde. Die Männer auf der Straße waren glattrasiert und nie betrunken. Ihre Zähne - einwandfrei. Die Frauen in unserem adretten Mehrfamilienhaus liebten Ordnung, Lockenwickler und wohlriechende Seifenlaugen. So wischten sie zum Beispiel Morgen für Morgen in aller Herrgottsfrühe das Treppenhaus. Mit Begeisterung und einer Lauge, die nach Zitronen roch. Dabei trugen sie geblümte Organza-Kopftücher, unter denen sich Lockenwickler abzeichneten und die ihren Köpfen ein hügeliges Relief bescherten. Der frische Geruch der Seifenlauge stimmte mich irgendwie optimistisch. Gleich nach dem Aufstehen machte ich die Tür einen Spalt auf, steckte meine Nase hinaus, atmete tief durch und hüllte mich in das Gefühl, die ganze Welt sei frischgeputzt und irgendwie in Ordnung. Ein Gefühl, was mir sonst äußerst selten vergönnt war.
Nach dem Treppenhaus nahmen sich meine Nachbarinnen den Bürgersteig vor. Den wiederum saugten sie. Als ich das zum ersten Mal sah, rannte ich zum Telefon, um meiner Mutter zu berichten, die deutschen Bürgersteige seien genauso staub- und keimfrei wie die deutschen Wohnzimmer. Erst später begriff ich, etwas enttäuscht, dass die Nachbarinnen nicht den Staub, sondern das Herbstlaub saugten, dessen Feuer und modrigen Geruch ich liebte. Am Nachmittag, bevor die Müllabfuhr kam, wuchteten die Frauen - jetzt mit adretten Fönfrisuren - ihre Mülltonnen auf die Straße: die braunen mit dem Bio-Müll, die grauen mit dem gemischten.
Auf dem Bürgersteig angelangt, bildeten die blankgeputzten Mülltonnen immer eine gerade Reihe, in der niemals zwei Exemplare der gleichen Farbe nebeneinanderstanden: eine graue Mülltonne, dann eine braune, dann wieder eine graue, dann wieder eine braune und so weiter.
Da ich meine Mülltonnen erst beim Anblick des Müllwagens hinausschleppte, das Treppenhaus erst gegen Mittag wischte, aufgrund meiner eigenen Locken nie Lockenwickler trug und unentwegt versuchte, ein bisschen Laub vom gefräßigen Maul des Laubsaugers zu retten, wurde ich im Haus mit Misstrauen beäugt. Dies äußerte sich in einem sparsam gemurmelten »Moin« oder »Mahlzeit«, das - wenn ich Glück hatte - mit einem säuerlich-schmallippigen Lächeln angereichert war. Etwas später gesellten sich anonyme Zettel hinzu, die an unserer Tür klebten und Befehle erteilten:
»Das Treppenhaus morgens reinigen!«
»Die Mülltonnen rechtzeitig herausholen!«
»Den Bürgersteig sorgfältig entlauben!«
Vier Wochen später flehte ich meinen Mann an, wieder auszuziehen. Er riet mir, die Nachbarinnen nicht zu beachten und mich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren.
Für wesentlich hielt er seinen Job.
Ich - die Beziehung zu unserer Tochter Sophie.
Die Tage mit Sophie verliefen gleichmäßig. Wir schliefen bis in den späten Vormittag, frühstückten und begaben uns anschließend auf einen der umliegenden Spielplätze. Die Mütter, die ich dort traf, befremdeten mich zutiefst. Die Inbrunst, mit der sie über Frühkarotten sprachen, war mir genauso unbegreiflich wie ihre Art, sich zurechtzumachen, beziehungsweise sich kein bisschen zurechtzumachen. Das Aussehen dieser Mütter ließ keinesfalls den Verdacht aufkommen, sie würden Wert darauf legen, dass man ihr Geschlecht erkannte, geschweige denn wohlwollend zur Kenntnis nahm: kurze Haare, nackte, wimpernlose Augen, blutlose, kaum vorhandene Lippen, unförmige Jeans, flache Mokassins, deren Größe den Eindruck erweckte, die Dame sei morgens aus Versehen in das Schuhwerk ihres Gatten geschlüpft. Der Verzicht auf alles, was auch nur im Entferntesten als weiblich durchgehen könnte, schien mir ein fester Bestandteil der mütterlichen Daseinsform hierzulande zu sein. Ich hingegen erstrahlte auf dem Spielplatz in einer für Bulgarien damals typischen Aufmachung - sehr kurzer Rock, sehr knappes Oberteil, sehr hohe Absätze, alarmroter Lippenstift, lange, ebenfalls alarmrote Fingernägel.
Man könnte nicht ohne gewisse Berechtigung auch »Balkan-Nutten-Look« dazu sagen, bloß würde dies die Sache nicht ganz treffen. In dieser Aufmachung gingen in Bulgarien keinesfalls nur die postkommunistischen, mir durchaus sympathischen Nutten mit akademischer Laufbahn und ausgeprägtem Sinn für Verantwortung auf die Straße. Etliche dieser Frauen hatten so etwas wie Pädagogik oder Kernphysik studiert, sahen sich dennoch genötigt, auf den Strich zu gehen, aus durchaus verständlichen Gründen: Ihre Familien brauchten etwas zu essen und das monatliche Lehrergehalt in Bulgarien betrug kurz nach der Wende exakt 37 D-Mark.
Dieses aufreizende Outfit trugen in Bulgarien nicht nur diese hochqualifizierten, familienorientierten Nutten, sondern fast alle junge Frauen - die Verheirateten, die Mütter und auch solche, die den Mann fürs Leben suchten. In den seltensten Fällen war es allerdings so, dass diese dermaßen aufreizend gekleideten Frauen auf sexuelle Abenteuer aus waren. Im Gegenteil. Die meisten von ihnen waren recht verklemmt, etliche sogar noch Jungfrauen, die versuchten, einem schwierigen inneren Thema wie der Sexualität durch ein äußeres Spektakel zu begegnen.
Auf den Bremer Spielplätzen knallte also mein Balkan-Nutten-Look auf die deutsche, damals sehr extreme äußere Abkehr vom Weiblichen, die, wie ich später erfuhr, ein Produkt der Frauenbewegung war. Eine besondere Wertschätzung des Weiblichen sollte manifestiert werden, ausgerechnet indem sich die Frau wie ihr Feindbild Mann kleidete und auch benahm. Diese Spielplatzmütter standen breitbeinig da, sprachen mit tiefer Stimme und burschikoser Entschiedenheit, ihre Hände steckten lässig in den Hosentaschen. Dieses männliche Getue provozierte mich gleichermaßen wie mein Balkan-Outfit die besagten Mütter. Auf den Bremer Spielplätzen schloss ich deshalb keine einzige Bekanntschaft,...
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