Kapitel 2
An Schlaf war nicht zu denken. Schon seit Stunden lag ich in meinem etwas zu kleinen Bett und wälzte mich von der einen auf die andere Seite. Die Bettdecke befand sich zusammengeknautscht am Ende des Gestells. Bei der Hitze brauchte man sich nicht zuzudecken.
Ich hatte nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen, nichts mehr gegessen, nur den traurigen Rest Saft ausgetrunken und dann erst die Wand mir gegenüber, später die Zimmerdecke angestarrt. Sorgfältig hatte ich beobachtet, wie das orangegoldene Sommerlicht langsam verblich und sich zurückzog, um mich in der Dunkelheit allein zu lassen. Allein mit meinen Gedanken.
In mir hatte sich eine erschöpfende Mischung aus Wut und Enttäuschung breitgemacht. Während sich ein Teil von mir beständig darüber aufregte, wie sehr sich meine Mutter damals - und auch noch irgendwie heute - in mein Leben einmischte, konnte ein anderer Teil aber nicht anders, als zu strahlen.
Das war der Teil, der immer wieder diesen einen magischen Satz vor sich hin flüsterte. Maël war heiß und innig in dich verliebt. Ich hatte mir seine Gefühle nicht eingebildet. Er hatte damals nicht einfach mit einem Schulterzucken das Interesse verloren, vielmehr . Na ja, vielmehr hielt er mich wohl bis heute für eine gemeine Herzensbrecherin.
Ich konnte es nicht fassen, dass jetzt nach all dieser Zeit mein Leben diesen seltsamen Haken schlug, weg von Michael und Annabell, wieder zurück zu dieser längst vergangenen Zeit .
Ich setzte mich auf und schaltete das Licht der Nachttischlampe an. Wohl zum hundertsten Mal fand meine Hand das zerknitterte Foto auf dem kleinen Beistelltisch neben meinem Bett. Vorsichtig strich ich mit dem Daumen darüber. Selten in meinem Leben hatte ich mir so sehr gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Wäre ich doch in der Lage, einfach in das Foto hineinschlüpfen und von diesem Augenblick an alles anders machen .
Aber ich konnte es nicht. Niemand konnte einfach zurückgehen. Zumindest nicht zurück in der Zeit. Ein Gedanke tauchte plötzlich in meinem Kopf auf. Er wollte mich dazu bringen, etwas wirklich und wahrhaftig Verrücktes zu tun.
Was brauchte man, wenn man abhauen wollte? Ich hätte nie gedacht, dass ich mir jemals diese Frage stellen würde. Als Michael damals beschlossen hatte, zu Annabell zu ziehen, war das für ihn Nötigste aus unserer Wohnung verschwunden: Zahnbürste, Kleidung, Laptop.
Daran konnte ich mich jetzt wenigstens orientieren, als ich im fahlen Dämmerlicht der frühen Morgenstunden zusätzliche Unterhosen in das Seitenfach eines Rucksacks stopfte. Klamotten, Waschzeug, Handy und Tablet, Geld, Ausweis, eine von Mamas Trinkflaschen aus recyceltem Stahl . Schon bald war der Rucksack bis zum Rand vollgestopft und ich zwar nicht der Überzeugung, jetzt bestens für ein Abenteuer vorbereitet zu sein, aber zumindest war es ein Startpunkt.
Ein kleiner Teil von mir war ohnehin nicht davon überzeugt, dass ich das wirklich durchziehen würde. Dafür war ich doch schon längst nicht mehr der Typ. Kurzschlusshandlungen, verrückte Einfälle, konnte man das noch mal neu lernen?
Zeit, es herauszufinden.
Diesen Satz wiederholte ich immer wieder in meinem Kopf, während ich mit geschultertem Rucksack leise die Treppe ins Erdgeschoss hinunterschlich. Zum Glück befand sich mein Auto bereits in Stuttgart. Sonst hätte ich entweder das meiner Mutter borgen oder mit dem Transporter abhauen müssen.
Wenn sich in Filmen Leute aus dem Staub machen, hinterlassen sie meistens einen Zettel auf dem Küchentisch. Entweder das, oder sie gehen ohne ein Wort zu sagen, um den dramatischen Effekt zu erhöhen. Ich konnte beiden Optionen etwas abgewinnen. Allerdings war mir absolut klar, dass bei einem wortlosen Abgang in kürzester Zeit die Hölle über mich hereinbrechen würde.
Meine Mutter würde es fertigbringen, innerhalb von achtundvierzig Stunden das FBI auf mein Verschwinden anzusetzen, und im Monat darauf käme die Geschichte bei Aktenzeichen XY. Mein Vater würde seine Konferenz in San Diego abbrechen - je nachdem, wann sein Vortrag vorbei war - und sich beschweren, dass er eine Ausrede für seinen frühen Abgang erfinden musste.
Für einen Geologen mit dem Schwerpunkt »Vorhersage von Naturkatastrophen« gab es irgendwann kaum noch Ereignisse, die man getrost als schwerwiegend deklarieren konnte. Vielleicht hatte er Mama geheiratet, um täglich daran erinnert zu werden, dass unser Alltag sehr wohl voll unvorhergesehener Gefahren war. Ja, das Verhältnis zu meinen Eltern, genauso wie das Verhältnis zwischen meinen Eltern, war nicht immer das einfachste gewesen.
Passte deshalb mein Abschiedsbrief auf ein winzig kleines Post-it? Ich blinzelte und blickte hinunter auf den kleinen pinken Zettel, den ich mittlerweile auf dem Küchentisch platziert hatte.
Nehme mir Urlaub, brauche Zeit für mich.
Mach dir keine Sorgen, ich melde mich!
Danke für alles,
hab dich lieb, L.
Nehme mir Urlaub. Ich wusste selbst nicht mal genau, warum ich diesen Satz vorangestellt hatte. War das überhaupt ein Urlaub? Oder ein Selbstfindungstrip? Ein Abenteuer? Eine Grand Tour ins Ungewisse? Eine »ich bin dann mal meine Jugendliebe ausfindig machen und weiß selbst nicht mal so genau, warum«-Reise? Wahrscheinlich war es das. Aber das passte nicht mehr aufs Post-it.
Auf jeden Fall machte sich ein seltsam erleichtertes Gefühl in mir breit, als ich das Wohnzimmer und die Küche verließ und nach dem Rucksack im Flur griff.
»Luisa?«
Das Herz rutschte mir in die Hose. Ich drehte mich um. Die Stimme meiner Mutter kam aus dem Obergeschoss. Dann hörte ich ein vorsichtiges Klopfen.
»Luisa?«
Anscheinend hatte Mama in der Nacht genauso wenig geschlafen wie ich und suchte jetzt das Gespräch.
»Sisa-Schatz, darf ich reinkommen? Können wir nicht noch mal darüber reden?«
Mein Herz pochte so laut, ich war überzeugt, dass sie doch hören musste, dass ich direkt unter ihr im Flur stand.
»Hör mal, ich weiß, dass du sauer bist. Ich verstehe, dass du sauer bist.«
Ich hätte gehen sollen. Ich wusste, wenn ich verschwinden wollte, dann musste ich es jetzt tun, aber ich konnte es nicht. Ich stand einfach nur da wie versteinert, denn dass meine Mutter einen Fehler zugab, kam selten vor. Das traf mich völlig unvorbereitet. Meine Finger um den Griff des Rucksacks lockerten sich.
»Aber auch wenn du wütend auf mich bist, solltest du jetzt wirklich keine Dummheiten machen, ja? Versprichst du mir, dass du keine Dummheiten machst?«
Ein bitteres Gefühl breitete sich in mir aus und schnürte mir die Kehle zu. Nichts hatte sich geändert. Gar nichts. Da stand meine Mutter vor meinem leeren Zimmer, vollkommen überzeugt davon, genau zu wissen, wie ich mich fühlte, was das Beste für mich war und was genau ich jetzt tun sollte.
Ich konnte das nicht mehr. Ich wollte das nicht mehr. Meine Finger schlossen sich wieder fest um den Riemen des Rucksacks. Es war Zeit, zu gehen.
Manchmal stellte ich mir mein Leben wie das Laufen über eine Hängebrücke vor. Man bewegte sich über diese wacklige, unsichere Brücke und geriet dabei immer wieder gehörig ins Schwanken. Nervosität stieg in einem auf, also lief man schneller, um endlich auf die andere Seite zu kommen, aber gleichzeitig schwang die Brücke dadurch nur noch mehr hin und her. Man rannte also, während es unter einem nur so schlingerte und bockte, angetrieben von der irren Hoffnung, dadurch früher auf die sichere Seite zu gelangen.
In meinem Leben schlingerte und bockte es zurzeit ganz gewaltig. Also rannte ich, so schnell wie möglich, so weit wie möglich. Na ja, eigentlich fuhr ich so weit wie möglich, und der Meinung der Fahrer hinter mir zufolge, nicht mal ansatzweise schnell genug. Genervt rollte ich mit den Augen und reckte den Hals, um das nächste Schild nicht zu verpassen.
Der Autobahnring rund um Paris war - milde ausgedrückt - die reinste Hölle. Dass ich ausgerechnet hier beschlossen hatte, mich in metaphorischen Gedanken rund um das Leben an sich zu verlieren, rührte auf keinen Fall daher, dass man hier so gut zur Ruhe kam. Nein, es lag eher daran, dass ich mittlerweile hungrig, durstig und latent übermüdet in meinem blauen Mini Cooper saß.
Klar, ich hatte immer wieder kleine Pausen eingelegt, aber die sieben Stunden von Stuttgart bis hierher hatten mich ausgelaugt. Mit meinen Eltern war ich nicht an einem Stück in die Bretagne gefahren. Wir hatten die Nacht auf halber Strecke in irgendeinem kleinen Hotel verbracht. Genau dasselbe wollte ich nun auch tun, sobald ich irgendwie aus dieser Verkehrshölle entkommen war.
Gerade, als ich die richtige Ausfahrt nach Rennes entdeckt hatte, leuchtete mal wieder das Display meines Handys auf, das auf dem Beifahrersitz lag. Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus. Mein Unterbewusstsein verknüpfte Anrufe immer mit negativen Neuigkeiten, denn wenn jemand keine Textnachricht schrieb, musste es dringend sein. Und wenn es dringend war, war es meistens nichts Gutes.
Seit einigen Stunden gingen jede Menge Anrufe auf meinem Smartphone von Leuten ein, die mir dringend etwas zu sagen hatten. Michael war darunter, meine Mutter und jemand mit einer mir unbekannten Nummer, aber ich hatte beschlossen, sie alle zu ignorieren. Zumindest so lange, bis ich so weit von Stuttgart und München entfernt war, dass eine spontane Kehrtwende keine Option mehr war. Ich pustete eine Haarsträhne aus meiner Stirn und drückte aufs Gaspedal.
Eine halbe Stunde später parkte ich auf einer großen grauen Betonfläche...