Schweitzer Fachinformationen
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Der Eichelhäher
Am Wochenende vor seiner abschließenden Schicht auf der Werft fuhr er mit der Kawasaki aufs Land hinaus und besuchte ein letztes Mal seine Eltern. Es war ein schöner Tag in einem allmählich winterlichen Herbst, und es war Hochsommer dort, wo er schon in wenigen Tagen sein würde. Obwohl ihn seit einiger Zeit ein gleichbleibend lästiger Schmerz in der Seite plagte, ließ er sich von seinem Stiefvater zu Kaffee und Kuchen im Wintergarten überreden. Dort berichtete er den Eltern von den Arbeiten im Bremer Trockendock und den letzten Vorbereitungen zu seiner Motorradrundreise durch Feuerland.
Mit dem Geld, das der Job ihm einbrachte, und der Summe, die seine Eltern beigesteuert hatten, war nach zwei Jahren genug für die Reise nach Südchile angespart. Länger noch hatten sich seine Mutter und sein Stiefvater nach einem Sommerhaus in der Provence umgesehen, und endlich, erzählten sie, waren sie fündig geworden, durch eine Freundin, die unweit von Aix eine ältere Maklerin kannte. In einem Weiler am Fuß der Sainte-Victoire vertrat sie ein Schweizer Rentnerpaar, das sein Ferienhaus zum Kauf anbot. Wie sich herausstellte, hatten sein Stiefvater und der Rentner fast zwanzig Jahre lang im selben Konzern gearbeitet. Vielleicht kannte man sich sogar.
Das Beisammensitzen vor der türkisgrünen Wand der alten Bäume, unter denen seine Schwester und er aufgewachsen waren, brachte somit die angenehme Wehmut eines Abschieds für länger mit sich. Wenn der Schmerz nichts Schlimmeres bedeutete und er also in zwei Tagen nach Buenos Aires und von da weiter nach Punta Arenas flog, würden seine Eltern bereits in der Provence sein, um das Sommerhaus in Augenschein zu nehmen. Noch nie waren sie so weit entfernt voneinander gewesen.
Bevor er sich verabschieden würde, ging er durchs Haus, auch in den oberen Stock. Im Bad der Eltern nahm er sich zwei Schmerztabletten aus dem Spiegelschrank und schluckte sie mit einer Handvoll Leitungswasser hinunter. Einem Impuls folgend, blieb er vor der Tür zum früheren Zimmer seiner Schwester stehen und trat schließlich ein. Die Möbel waren noch Wiebkes, doch ihre Mutter hatte sie umfunktioniert. Wiebkes Zimmer war jetzt ein Lesezimmer voller Bücher, Kataloge und Magazine. Auf einem Stapel sah er eine Shakespeare-Ausgabe, schlug sie auf, wo ein Lesezeichen steckte, und las, als wäre es an ihn gerichtet, was Titus Andronicus zu seinem Enkel sagt: »Ruhig, zarter Spross; du bist gemacht aus Tränen.« Aus Tränen gemacht zu sein - er versuchte sich das vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Und er hatte den Satz schon vergessen, als er merkte, dass er durch die Verbindungstür gegangen sein musste, weil er auf einmal in seinem eigenen alten Zimmer stand.
Es war seltsam verändert, obwohl auf den ersten Blick nichts umgestellt worden war oder fehlte. Einzig das Fenster und die Tür zu der kleinen Loggia standen weit offen, und weil es trotz des linden Oktobers ungemütlich kühl in dem Raum war, nahm er an, dass sie schon seit Längerem nicht mehr geschlossen worden waren.
Wiebke war vor vier Jahren ausgezogen, er selber vor fast drei. Obwohl also viel Zeit vergangen war, empfand er diese Nachlässigkeit gegenüber seinen Sachen als Vernachlässigung seiner selbst, ein Gefühl, das ihm vertraut und fest mit seinem Kinderzimmer verbunden war - ein Gefühl, dachte Jan-Erik, als er Fenster und Tür schloss, das mich am Abend vor meiner Abreise nicht verwundern sollte. Er sah auf seine Hände, drehte sie. Dann blickte er im Zimmer umher, sah auf dem Regal seine alten Schiffsmodelle stehen, Schiffe, die alle entweder gesunken oder abgewrackt worden waren, und betastete unterdessen die schmerzende Region. In der Stille hörte er ein leises Geräusch, das er zunächst nicht weiter beachtete. Als es aber nicht aufhörte, suchte er die Ecken ab und fand schließlich zwischen Wand und Schlafcouch einen Vogel sitzen, der ihn aus dem Schatten heraus mit einem furchtsamen Auge anblickte. Es war kein kleiner Vogel, eine junge Krähe, meinte er, weil keine Gefiederfärbung an dem Tier zu erkennen war. Schnell ging er zur Treppe und rief nach seinen Eltern.
Seine Mutter kniete sich auf den Teppichboden und langte hinter die Couch. Als sie aufstand, saß auf ihrer Hand ein Eichelhäher. Sein Gefieder schimmerte. Jan-Erik sah hellblaue, hellbraune und weiße Federn und auch ein paar in einem dunklen Kupfergrün. Der Vogel wandte den Kopf nach allen Seiten und schackerte einige Male heiser und durchdringend.
»Darf ich vorstellen: Picasso!«, rief Jan-Eriks Mutter begeistert und sah ihn mit großen glänzenden Augen an.
Und sein Stiefvater, der in der Tür stand, gab ein Glucksen von sich: »Grokgrok, grok.« Er kam herein, legte Jan-Erik eine Hand auf den Arm und sagte leise: »Du bist doch nicht sauer, weil Gudrun ihn ab und zu in deinem Zimmer herummarschieren lässt? Hier ist er zum ersten Mal reingekommen, und wie's aussieht, zieht es ihn immer wieder hierher zurück.«
Im Hinuntergehen erzählte sein Stiefvater, der Häher sei stubenrein, außerdem völlig zahm und sogar bis zu einem gewissen Grad verständig, weshalb Gudrun und er davon überzeugt seien, dass es sich um ein dressiertes Tier handele, dessen Besitzer irgendwo in der Nachbarschaft wohnten.
Sie setzten sich wieder in den Wintergarten. Der Vogel hüpfte auf Jan-Eriks Mutter herum, als wäre sie ein lebloses Ding. Schließlich spannte er die Flügel auf, schlug ein paarmal, als würde er mit einem Tuch wedeln, und flatterte auf einen zusammengeklappten Sonnenstuhl. Der junge Eichelhäher hatte nichts Graziles an sich. Seine Bewegungen waren hektisch. Aber alles, worauf er herumstakste, um in sichtbarer Panik Ausschau zu halten, schien er schon im nächsten Moment zu seinem Terrain erklärt zu haben.
Jan-Erik fragte mehr, um zu einem Ende zu kommen, als aus wirklichem Interesse, was aus dem Vogel werden sollte, wenn sie nach Südfrankreich fuhren, und er registrierte, dass seine Mutter die Frage zu überhören schien und nicht antwortete, so wie sie überhaupt nichts mehr gesagt hatte, seit der Vogel da war.
Auch sein Stiefvater zuckte mit den Achseln. Irgendwann meinte er: »Er kommt, wenn wir da sind. Und wenn wir nicht da sind, wird er's schon merken. Oder, Picasso?« Und wieder ließ er das schnarrende Glucksen hören, sein »Grok, grokgrok!«.
Durch den Garten, zwischen den Eichen- und Kastanienlaubhaufen hindurch, begleiteten sie ihn zu ihrem neuen Carport. Das Holz für eine Pergola lag auf Blöcken im moosigen Gras. Seine Mutter ging zwischen Jan-Erik und seinem Stiefvater, und der Häher saß auf ihrer Schulter und ließ den Fremden nicht aus den Augen.
An der Kawasaki verabschiedeten sie sich, und wieder einmal bestaunte sein Stiefvater die schwere Maschine, ehe er fragte, wann sie verladen werde, um nach Tierra del Fuego verschifft zu werden. Er lächelte bei den drei klangvollen spanischen Wörtern.
»Gar nicht«, sagte Jan-Erik. Noch einmal erzählte er, dass er sich in Punta Arenas eine Kawasaki leihen würde, allerdings eine Enduro. Mit ihr würde er die Magellanstraße entlang nach Norden bis Punta Delgada fahren, von dort übersetzen auf die Hauptinsel und dann sieben oder acht Tage lang nach Süden bis Puerto Williams am Beagle-Kanal fahren. Er setzte den Helm auf. Im selben Moment gab seine Mutter einen Ton von sich, der wie ein freudiges Quieken klang.
»Da, siehst du!«, rief sie ihrem Mann zu. »Jetzt hat er es wieder gemacht!«
Und langsam, mit einem vorsichtigen Finger, zeigte sie auf den Häherschnabel. Ein kleines funkelndes Ding steckte darin, einer ihrer Ohrstecker, den sie dem Vogel behutsam, mit einem Lächeln auf den geschminkten Lippen, wieder wegnahm, bevor ihn Jan-Erik mit dem Starten der Maschine erschrecken konnte.
Weil die letzte Trockendockschicht schon früh am kommenden Morgen begann, fuhr er ohne Umweg zur Autobahn und kam eine gute Stunde später in der Bremer Pension an, in der sein Trupp untergebracht war. Er meldete sich bei seinem Vorarbeiter Blocher, der im Fernsehraum beim Abendbrot saß, sie tauschten ein paar Floskeln und Scherze, dann ging er auf sein Zimmer.
Obwohl er hungrig war und Blocher ihn bestimmt in Ruhe gelassen hätte, war ihm nicht nach Essen zumute. Die Tabletten betäubten den Schmerz bloß. Er saß tief in der Seite unterm rechten Rippenbogen, schien zugleich aber zu wandern. Besonders wenn er sich bückte, tat ihm der ganze Oberbauch weh, dann wieder griff der Schmerz von hinten an und stach ihn im Hochkommen so heftig in der Nierengegend, dass er aufstöhnte. Auf dem Bett liegend tastete er seinen Rumpf ab. Die Bauchdecke war hart und raubte ihm bei jedem Druck für kurze Zeit den Atem. Einige Erleichterung fand er, wenn er sich auf die linke Seite legte und die Beine anzog. Aber er merkte auch da, dass das Bohren und Wühlen nicht verschwand. Es ruhte bloß, besetzte sein Empfinden und wuchs. Auf der Seite liegend ließ sich der Schmerz in Schach halten. Über grüblerischen Gedanken an den Morgen, der ihm bevorstand, sank er irgendwann aus dem Bewusstsein und schlief ein.
Er wachte auf, als es an der Tür klopfte. Vor dem Fenster war es dunkle Nacht. Sein Wecker zeigte kurz vor zehn.
Er rief »Herein!«, um nicht aufstehen zu müssen, aber schon das Rufen verursachte einen so dumpfen und gleichsam in ihm aufbrüllenden Schmerz, dass er sich ruckartig zusammenkrümmte. Unter der Bettdecke schossen ihm Tränen in die Augen.
»Anruf für dich«, sagte der Mann von der Tür aus, Jan-Erik sah nur seinen Umriss. »Unten am Flurtelefon.«
Es war einer der Facharbeiter, mit denen...
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