2
Der große Aufbruch
Samstag, 12. September 1942
Der Karottensalat und der Beaujolais waren schon aufgetragen worden. Als nächster Gang waren Quenelles angekündigt, und ein Käseteller würde das Menü beschließen - alles tadellos. Gestern war ein »Tag ohne« gewesen, an dem kein Alkohol ausgeschenkt wurde, doch die heutigen Gäste hatten Glück und entkamen den sonst üblichen Rationierungsmaßnahmen. Es herrschte ein feierliches Ambiente in dem Restaurant an der Place des Terreaux, die sich auf der Halbinsel im Herzen Lyons befand. Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, würden sich hier die Profifahrer der französischen Straßenmeisterschaften versammeln. Erstmals seit Kriegsbeginn würden rund 60 Radrennfahrer aus der besetzten und der nicht besetzten Zone gemeinsam an den Start gehen. Angesichts der Unwägbarkeiten der Wettbewerbe und der Reisezwänge, die dazu führten, dass die Fahrer beider Landesteile sich seit Monaten nur auf Distanz miteinander messen konnten, war es die Gelegenheit zu ermitteln, wer der beste Franzose war. In der Bar de l'Amour an der Place des Terreaux würden sich die Fahrer bis 8:30 Uhr einschreiben, ihre Startnummer abholen und sich im Anschluss daran nach Tassin-la-Demi-Lune, westlich von Lyon, begeben müssen, wo das Rennen um zehn Uhr beginnen sollte.
Doch an diesem sonnigen Spätsommersamstag stand erst einmal etwas völlig anderes auf dem Programm. Auf Einladung des früheren SFIO1-Abgeordneten Paul Rives aus dem Departement Allier, der sich als bedingungsloser Unterstützer Marschall Pétains hervortat, kamen rund 20 Journalisten in den Genuss, das Restaurant, sein Menü, den Circuit de France und dessen Verlauf kennenzulernen. Anwesend waren auch César Banino und Jean Leulliot, die fast schon vertraut miteinander wirkten.
Das Arbeitsessen mit der Presse war mit großer Sorgfalt vorbereitet worden. Im Saal verteilten sich mehrere kleine, runde Tische, Tüllvorhänge schirmten die Gäste vor den Blicken der Passanten auf dem Platz ab. Nach der Vorspeise schob Paul Rives seinen Stuhl zurück, richtete im Aufstehen mechanisch sein Jackett, strich sich über den Schnurrbart und rückte die Brille zurecht. Dann ergriff er das Wort.
»Liebe Freunde, liebe Kollegen .«
Der Tonfall des Chefs und Mitbegründers der Lyoner Tageszeitung L'Effort war dem Anlass angemessen. Seine Zeitung war eine der wenigen gewesen, die den Circuit de France von Beginn an unterstützt hatten. Selbstverständlich kollaborierte Rives auch mit La France Socialiste. Rives kollaborierte grundsätzlich mit allem und jedem.
»Der Herr Verbandspräsident wird mir gewiss nicht widersprechen, wenn ich sage, dass die Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Sportlern dazu beiträgt, die Qualitäten zu stärken, die es unserem Land erlauben werden, in der Zukunft - wie bereits in der Vergangenheit - eine herausgehobene Rolle im künftigen Europa zu spielen.«
So fuhr er einige Minuten fort. Gelegentlich blieb sein Blick an der gelben Wand am hinteren Ende des Saals hängen, wo - etwas schief - ein Gemälde mit einer Jagdszene hing. Er machte dann den Eindruck, als habe er sich in seinem endlosen Redefluss verloren. Um ihn herum bedächtiges Kopfnicken, geduldiges Warten. Die Gäste waren hungrig.
Anschließend war es an Jean Leulliot, die Wartezeit mit einem weiteren Vortrag zu verkürzen.
»Wir sind in Paris bisweilen arg missverstanden worden, besonders von einigen Kollegen«, begann der Renndirektor in leicht gereiztem Ton, bevor er mit der offiziellen Präsentation fortfuhr. Er hatte bereits alles den Sportlichen Leitern der Mannschaften, dem Verband, dem Sportkommissar, Major Kezer und sogar einigen befreundeten Kollegen erklärt, nachdem Machurey und Lefranc einige Tage zuvor von ihrer Inspektionsreise zurückgekehrt waren. Sie hatten ihren Auftrag erledigt. Leulliot hatte ihre Aufzeichnungen durchgesehen, sich die Orte gemerkt, Rückfragen gestellt und sich gesagt, dass alles bereit war. Es gab keinen Grund zum Zweifeln mehr. Dieses Treffen anlässlich der Französischen Meisterschaften, zu dem seine Kollegen aus der nicht besetzten Zone ebenso angereist waren wie ein paar Schreiberlinge aus Paris, kam genau richtig, um die letzten Fragen auszuräumen.
»Wir verfolgen mit der Organisation des Wettbewerbs keine kommerziellen Ziele«, führte er weiter aus.
Die Auflistung, die dann folgte, ließ jegliche etwaige Begeisterung umgehend erkalten.
Gaston Bénac, der ständige Korrespondent von Paris-Soir in Lyon, und Georges Briquet, die Stimme des staatlichen Rundfunks, hielten die Köpfe gesenkt und kritzelten wie alle anderen die Informationen in ihre Notizblöcke: keine Werbekarawane, keine Presseautos, maximal zehn Fahrzeuge mit Holzvergaser für die Mannschaftsbetreuer, vier Lastwagen beziehungsweise Kleintransporter, ein Pressebus und bescheidene Unterkünfte für alle Beteiligten. Reifen, Rennräder und Ersatzteile - alles würde abgezählt sein. Und noch immer nahm die Litanei an Einschränkungen kein Ende.
»Es wird keine Verschwendung geben!«
Leulliots Blick, mit dem er seine Kollegen taxierte, war autoritär. Martialisch.
Die Aufzählung hatte bei der Zuhörerschaft für lange Gesichter und mitleidige Mienen gesorgt, doch nun kam der Hauptverantwortliche des Circuit de France auf die Finanzen zu sprechen.
»Es werden Prämien in Höhe von insgesamt 350.000 Francs ausgezahlt werden: 50.000 Francs an die erstplatzierte Mannschaft, 30.000 an die zweitplatzierte. Selbst die letzte Equipe wird noch ein Preisgeld erhalten. Die Männer können sich sicher sein, dass sie nicht auf ihren Kosten sitzenbleiben. Wir möchten nicht .«
Der Ton war milder geworden, die Aufmerksamkeit ließ nach. Die Mannschaftsleitungen zur Teilnahme am Circuit zu überreden, hatte sich als relativ leicht erwiesen. Was die Radrennfahrer betraf, waren andere Argumente nötig gewesen: Nicht alle waren überzeugt. Die Höhe der Preisgelder war da noch das einfachste Mittel, sie umzustimmen.
»Viel mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, ich danke Ihnen für Ihr Kommen .«
Der Rest des Satzes ging im steigenden Geräuschpegel unter. Zwei Bedienungen hatten den Saal betreten, auf den Händen Platten mit reichlich Quenelles balancierend. Zwar wurden zwei oder drei Gläser gehoben, um einen Trinkspruch auszubringen, doch es war an der Zeit, sich wieder dem Essen zu widmen.
Weitab der Place des Terreaux plagten Émile Idée und seine Kollegen ganz andere Sorgen. Es war schwierig gewesen, so kurzfristig eine Bleibe zu finden. Wer am Freitagabend mit Verbandspräsident Banino und einer Delegation von Kommissären aus Paris angereist war, hatte sich bisweilen mit einem Zimmer mehr als 30 Kilometer von Lyon entfernt zufriedengeben müssen.
Émile, den die Presse zu einem der großen Meisterschaftsfavoriten hochstilisiert hatte, konnten die anspruchsvolle Streckenführung und die Distanz von 269 Kilometern nur recht sein. Der Fahrer aus der Picardie hatte bereits den Großen Preis der Nationen, Paris-Reims und den Großen Preis der Provence gewonnen, ließ auf der Straße die Konkurrenz weit hinter sich und zeigte auf der Bahn noch stärkere Leistungen. Er war gerade 22 Jahre alt geworden und erst seit einem Jahr, nachdem er dem Radsportverein VC Levallois beigetreten war, im Besitz einer Profilizenz. Sein Sommer war ganz auf dieses Rennen ausgerichtet, nur seinem Sportlichen Leiter Ludovic Feuillet hatte er anvertraut, dass er sich danach würde ausruhen wollen.
»Ich hole diesen Titel, und dann ist es gut«, hatte Idée verlauten lassen. »Und mit diesem Circuit de France lassen Sie mich bitte in Ruhe, ja?« Er dachte bereits an die Hallensaison, die im Oktober beginnen würde und üppige Prämien versprach.
»Wir reden noch einmal darüber«, war Feuillet ausgewichen, hatte jedoch unverzüglich Leulliot ins Bild gesetzt.
Am Sonntagmorgen in Tassin-la-Demi-Lune stand Émile Idée mit 55 anderen Teilnehmern am Start. Er dachte ausschließlich an die Ziellinie auf der schmalen Bahn des Velodroms im Parc de la Tête-d'Or in Lyon, die er dann am späten Nachmittag auch als Erster überquerte. Émile Idée, der französische Meister, war unbesiegbar! Der Kapitän der Alcyon-Equipe hatte dem Fahrerfeld alles abverlangt und lag nun mit ausgestreckten Armen auf dem Rasen, unfähig, wieder zu Atem und zur Besinnung zu kommen. Ihm schwindelte, berauscht vom Sieg und wahrscheinlich auch vom Inhalt der kleinen Flasche mit Weinbrand, den er auf den letzten Kilometern getrunken hatte, um die Schmerzen zu betäuben. Jeder der Fahrer trug eine solche in der Rückentasche, für den Fall des Falles.
Schließlich fing er sich wieder und streifte das prächtige...