Schweitzer Fachinformationen
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Es war so weit. Annähernd 100 Personen hatten sich eingefunden und standen im weiten Halbkreis um ein Rednerpult, das auf einer geschotterten Fläche direkt vor dem Bagger aufgebaut war. Daneben die Fahnen und zwei große Lautsprecher, im Hintergrund sogar eine Blasmusikkapelle - jene von Hintermoorbach. In der Sonne glitzerten neun blitzblanke Spaten, die bereits in der gelockerten Erde steckten. Weil der Herr Wirtschaftsminister, wie es hieß, leicht verspätet mit dem Hubschrauber aus Berlin eingeschwebt war, konnten die Musiker erst gegen 11.20 Uhr mit einer schmissigen Weise die Feierstunde eröffnen. Ismail nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser. Schweiß perlte von seiner Stirn. In dem alten Gebäude wurde es unter den Strahlen der Frühlingssonne langsam unerträglich heiß. Die beiden heimlichen Beobachter riskierten nur aus zwei Metern Distanz einen vorsichtigen Blick aus dem geschlossenen Fenster. Niemand durfte sie sehen. Schon gar nicht die Beamten in einem blau-weißen Streifenwagen, der sich abseits der Menschenmenge postiert hatte. Und der Bundeswirtschaftsminister, ein schwergewichtiger Herr, der allein mit seinem Äußeren die Bedeutung seines Amtes unterstrich, war gewiss in Begleitung einiger unauffälliger Personenschützer. Nachdem für die Musiker Beifall geklatscht worden war, begrüßte der Bürgermeister artig der Reihe nach die Gäste, sodass schon die Abfolge der Namen Aufschluss über die Wichtigkeit der jeweiligen Person gab. Vorneweg natürlich der »sehr geschätzte Herr Bundeswirtschaftsminister, der es sich nicht hat nehmen lassen, einen Abstecher zu uns nach Hintermoorbach zu machen«, dröhnte die Stimme aus dem Lautsprecher. Ismail beugte sich flüsternd zu Jeremias: »Möchte gern wissen, weshalb ein Bundeswirtschaftsminister in dieses kleine Nest kommt.«
Die Begrüßung zog sich quälend lang hin und gab Aufschluss darüber, dass die gesamte Dorf-, Kreis- und Landesprominenz anwesend war: vom Landrat bis zu Land- und Bundestagsabgeordneten, diverse hochkarätige Amtsleiter, Vertreter der Landwirtschaft, des Handwerks und der Industrie sowie Vertreter von Planungsbüros. Besonders hob der Bürgermeister drei namentlich genannte Landwirte hervor: »Sie haben mit Ihrer Bereitschaft, Ihr Land zur Verfügung zu stellen, Weitsicht und innovativen Geist bewiesen«, lobte er und ergänzte: »Aus dem bäuerlichen Hintermoorbach wird eine prosperierende Gemeinde mit Hunderten Arbeitsplätzen und einer zukunftsorientierten Industrie.« Beifall brandete auf. Ismail und Jeremias schüttelten betroffen und fassungslos die Köpfe. Sie hatten schon oft darüber diskutiert und sich darüber lustig gemacht, wie Provinzpolitiker davon träumten, Großkonzerne anzulocken. Nachdem die Medien begrüßt waren, darunter ein lokales Fernsehteam, durfte endlich der sichtlich ungeduldige Minister ans Mikrofon.
»Jetzt kommt die Selbstbeweihräucherung«, stöhnte Ismail, der aus beruflicher Erfahrung wusste, dass ein Minister nicht aus Berlin anreiste, um nur mal kurz auf der Schwäbischen Alb Grüß Gott zu sagen. Hier konnte sich ein prominenter Bundespolitiker noch vor Protestlern und Chaoten in Sicherheit wiegen. Hier, auf dem Land, war ein Stück dessen bewahrt, was man aus früheren Zeiten kannte: Begeisterung über den Besuch eines Ministers, ja, vielleicht sogar ein bisschen Ehrfurcht vor dem »hohen Gast«. Hier, wo ihm Ehrerbietung entgegenschlug, kam bodenständiges Auftreten besonders gut an. »Als Politiker musst du schönreden können und schlagfertig sein«, flüsterte Ismail, während der Minister von einem »Bewilligungsbescheid« und einer »Anschubfinanzierung für den ländlichen Raum« sprach, mit dem die Bundesregierung bei der Ansiedlung innovativer Unternehmen »tatkräftig unter die Arme greifen« wolle. Der Beifall, vermutlich von Claqueuren aus den Reihen der Parteifreunde des Ministers befeuert, brandete zögernd auf.
Jeremias, der noch nie einer solchen Zeremonie beigewohnt hatte, lauschte gespannt, ohne die gelegentlichen Bemerkungen seines älteren Freundes zu kommentieren. Ohnehin stieg die Anspannung von Minute zu Minute. Wann der entscheidende Moment sein würde, auf den sie warteten, war vorauszusehen: Erst wenn alle geredet und ihre Zuhörer ausgiebig gelangweilt hatten, würden die vorbereiteten Spaten zum Einsatz kommen. Weil jedoch anzunehmen war, dass diese Prozedur von den Klängen der Blasmusik begleitet sein würde, hatte Ismail entschieden, sofort zuzuschlagen, wenn erkennbar der letzte Redner seine Lobeshymne vollendet hatte. Das war nach der neunten Rede, gehalten von einem Vertreter eines externen Ingenieurbüros, der Fall. Noch während für ihn Beifall geklatscht wurde, rückte Ismail die beiden Lautsprecher am Fenstersims zurecht und flüsterte seinem Freund zu: »Jetzt du, aber schnell.«
Blitzartig erhob sich Jeremias und ergriff das Mikrofon. »Meine Damen und Herren«, begann er mit fester Stimme, die von der Elektronik verstärkt wurde und weit über den Vorplatz des alten Hauses schallte. Alle Blicke waren schlagartig auf ihn gerichtet, und es schien sich eine Art Schockstarre zu verbreiten. »Im Namen der Schöpfung sage ich Ihnen: Sie zerstören ein Stück Natur, um dem Profit Vorschub zu leisten. Als ob unser wunderbarer Planet von jedwedem Ignoranten rücksichtslos ausgebeutet werden dürfte.«
Schon kam Bewegung in die Menge. Jeremias spürte, dass er nicht viel Zeit haben würde. Zwei Uniformierte aus dem Streifenwagen schienen die Situation als Erste erkannt zu haben. Sie kamen im Laufschritt auf das Haus zu. Derweil waren der Landrat und der Bürgermeister sichtlich entsetzt und von dem Zwischenfall peinlich berührt. Der beleibte Wirtschaftsminister, der von drei unauffälligen, schwarz gekleideten Personenschützern umringt wurde, drehte sich panisch nach allen Seiten um, als befürchte er einen Terroranschlag.
»Was Sie hier tun«, wurde Jeremias' Stimme schriller, »das ist ein Verbrechen an der Schöpfung. Sie zerstören gutes Ackerland und den Lebensraum vieler Mitgeschöpfe.« Ismail schob den Lautstärkeregler des Verstärkers nach oben, weil ihnen inzwischen Pfiffe und Unmutsäußerungen entgegenschlugen. Der Landrat war ans Rednerpult getreten, um sich über sein Mikrofon und die angeschlossenen Lautsprecher Gehör zu verschaffen und seinen Unmut über die Störung zum Ausdruck zu bringen. Doch er hatte gegen die wesentlich stärkere Elektronik, die am Obergeschossfenster stand, nicht die geringste Chance. Jemand gab dem Dirigenten der Blaskapelle aufgeregte Handzeichen, die ihm wohl signalisieren sollten, seine Kameraden zum Musizieren aufzufordern. Aber der Mann war derart konsterniert, dass er sich nur hilflos umblickte. Inzwischen hatte das lokale Fernsehteam die Kamera auf das Fenster des Obergeschosses ausgerichtet und den Störer herangezoomt.
»Dieser Planet«, fuhr Jeremias fort, »ist nicht nur das Herrschaftsgebiet von Menschen, sondern wir müssen ihn mit Millionen von Mitgeschöpfen teilen, vor deren Leben wir Ehrfurcht haben sollten. Aber Menschen wie Sie« - er deutete mit einer Handbewegung auf die wild durcheinanderhastenden und empört rufenden Zuhörer - »Sie alle haben sich noch nie Gedanken darüber gemacht, was Leben bedeutet. Etwas, das Sie niemals erklären und verstehen können. Leben ist in allem. In jeder Pflanze und in jedem noch so winzigen Lebewesen. Und wir alle - denken Sie hier und heute daran - sind ein Teil dieser Natur, die sich nicht beliebig zerstören lässt. Leben hat Ehrfrucht verdient. Denken Sie daran: 20 Zentimeter dieses wertvollen Ackerbodens, den Sie jetzt zerstören, braucht für seine Entstehung 4.000 Jahre!«
Inzwischen dröhnten aus dem Untergeschoss heftige Schläge gegen eine Holztür, die krachend zerbarst. Gleich würde eine Horde aufgebrachter Männer die Treppe herauftrampeln und die Stecker aus der mobilen Verstärkeranlage reißen. »Ich sage Ihnen hier und heute«, rief Jeremias voller Emotionen in das Mikrofon: »Sie glauben, die Krone der Schöpfung zu sein. Aber es kommt der Tag, wo diese Krone Sie gnadenlos erschlägt.«
Ismail wusste nicht so recht, was sein Freund mit dieser finalen Bemerkung meinte. Jeremias grinste zufrieden und legte das Mikrofon beiseite, um sofort das Fenster zu schließen. Er wollte es auf keine Konfrontation anlegen. Als zwei uniformierte Polizeibeamte an der Zimmertür hinter ihm erschienen, gefolgt von mehreren Anzugträgern, lächelte er ihnen freundlich zu und vergrub die Hände in seiner Freizeitjacke. Ismail sah schweigend den sichtlich aufgebrachten Männern entgegen, die angesichts des widerstandslosen Verhaltens der beiden Störenfriede nicht so recht wussten, was zu tun war.
»Wir fordern Sie auf, diesen Schwachsinn zu unterlassen«, bemühte sich einer der Uniformierten, amtlich zu wirken.
»Wir sind fertig«, entgegnete Ismail und deutete auf Jeremias. »Er hat seine Botschaft rübergebracht.« Und fügte süffisant an: »Sie können den Spatenstich für eine weitere Zerstörung eines Stücks Ackerlandes vollziehen. Herzlichen Glückwunsch.«
Ganz so einfach allerdings durften die beiden Männer nicht abziehen. Einer der Polizeibeamten beharrte darauf, ihre Personalien zu notieren. Jeremias, der bis dahin selbstbewusst aufgetreten war, schien plötzlich verunsichert zu sein. Ismail hingegen nickte ihm aufmunternd zu. »Kein Problem. Wir haben nichts zu verbergen.« Er fingerte seine Ausweiskarte aus dem Geldbeutel und hielt sie dem Beamten hin. Jeremias tat es ihm nach und verfolgte, wie der Polizist Namen, Adressen und Ausweisnummern auf ein Notizblatt kritzelte. Nachdem die Dokumente zurückgegeben waren, hakte der Uniformierte nach: »Sind Sie Freunde?«
Ismail antwortete...
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