Schweitzer Fachinformationen
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Nie hatte er mit jemandem darüber reden können. 28 Jahre lang. Das Leben, das er lebte, war nicht seines. Alles, was er erzählte, war eine schöne Geschichte, die er sich detailgenau ausgedacht hatte. Sie war stimmig und logisch und dank zuverlässiger Helfer jederzeit nachvollziehbar. Hieb- und stichfest, vor jeder Behörde, und, wenn es sein musste, auch vor der Justiz.
Johannes Mehlfurt galt in dem kleinen Dorf am Rande der Schwäbischen Alb als gut situierter Familienvater, war irgendwann Mitte der 90er-Jahre mit Frau und Sohn in ein kleines schmuckes Eigenheim gezogen und tat alles, um dem Image eines vollbeschäftigten Freiberuflers zu entsprechen, der oftmals tagelang unterwegs war, um als Servicetechniker Kunden der Elektronikbranche aufzusuchen und zu betreuen. An seinem Dienstwagen, einem schwarzen Audi ohne Firmenaufschrift, war ein HDH-Kennzeichen des Kreises Heidenheim angebracht. Doch bei Bedarf konnte er es mit wenigen Handgriffen austauschen. Für solche Fälle hatte er die dazugehörenden Fahrzeugpapiere in einer feuersicheren Box versteckt.
Denn es kam durchaus vor, dass er in Regionen unterwegs war, in denen er mit seinem Heidenheimer Kennzeichen nicht gleich als Fremder auffallen wollte.
Sobald Mehlfurt auf Geschäftsreise ging, war er nicht mehr der Mehlfurt, den seine Nachbarn und Freunde als den sportlichen Endfünfziger kannten, der joggte, radelte und sich bei den Dorffesten in geselliger Runde wohlfühlte.
Wenn er dies alles hinter sich ließ, schien es ihm so, als würde er mit Beginn einer Dienstreise dieses bürgerliche Leben abstreifen und in eine andere Dimension eintauchen - in eine Scheinwelt, aus der es längst kein Entrinnen mehr gab. Er fühlte sich wie ein Schauspieler, der seit Jahr und Tag in die Hauptrolle einer mittelmäßigen Fernsehserie gezwängt wurde. Manchmal überkamen ihn sogar Zweifel, welches seiner beiden Leben nun die Realität war.
Anfangs hatte er dies alles wie ein großes Abenteuer genossen - als ein spannendes Spiel, in dem er die Rolle des Helden übernehmen durfte. Schließlich war er damals erst 28 Jahre alt gewesen, ein Draufgängertyp und bereit, die Welt einzureißen, wenn man ihm nur genügend dafür bezahlte. Die Begegnung, die er damals in Göppingen hatte, war deshalb geradezu schicksalhaft gewesen, ja sogar eine wichtige Weichenstellung für seine persönliche Zukunft. Er hatte in dieser Stadt unter dem Hohenstaufen bei der Telekom gearbeitet und ganz in der Nähe der sogenannten >Cooke Barracks<, dem Kasernengebiet der 1. US-Infanteriedivision, größere Verkabelungsarbeiten vorgenommen. Es waren die Jahre, als das digitale Zeitalter erst aufzuziehen begann. Noch hatte der Kalte Krieg die Weltmächte im Klammergriff. 1986, als US-Präsident Ronald Reagan in Reykjavik mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Michail Gorbatschow zusammengekommen war und die Welt einen Nachmittag lang auf einen >historischen Durchbruch< gewartet hatte, von dem bis heute keiner weiß, ob er damals tatsächlich in greifbare Nähe gerückt war. Zumindest ist nie etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen.
An diesem Ereignis konnte Mehlfurt nach all den Jahren seine ganz persönliche historische Wende festmachen. Oktober 1986. Vor 28 Jahren. So lange war das nun her.
Wann immer er sich in diese Tage zurückversetzte, überkamen ihn all die Gefühle wieder und manches von dem, was er dann in Gedanken durchlebte, bescherte ihm bisweilen eine Gänsehaut. Er hatte sich so wichtig und bedeutsam gefühlt. Damals. Als Geheimnisträger. Im Auftrag einer Weltmacht unterwegs, ein kleines Rädchen zwar nur - aber immerhin. Und dies in einer Zeit, als niemand daran glaubte, dass die Teilung Deutschlands jemals ohne einen dritten Weltkrieg beendet werden würde.
Jetzt, mit zunehmendem Alter und nahezu eine Menschheitsgeneration nach der großen weltpolitischen Wende, beschlichen ihn zunehmend Zweifel, ob er länger ein Teil dieses Systems und seiner alles umfassenden Machtstrategie sein wollte.
Die Männer, die ihn 1986 bei der deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche angesprochen hatten - allesamt gutsituierte US-Bürger - waren gewiss längst im Ruhestand, irgendwo im sonnigen Florida, falls sie überhaupt noch lebten.
Er selbst konnte sich nie beklagen. Die Honorare flossen, versteckt über ein fiktives Berliner Software-Unternehmen, reichlich und pünktlich, sehr üppig auch zusätzliche Zuwendungen in bar und seine Ehefrau hatte nie über seine unregelmäßigen Arbeitszeiten und manchmal wochenlangen Dienstreisen gemurrt. Aus dem Sohn Ralf war ein ehrgeiziger Student und seit Kurzem ein erfolgreicher Elektronik-Spezialist in Frankfurt geworden. Allerdings hatte sich Ralf frühzeitig vom Elternhaus abgenabelt. Viel zu früh, wie Mehlfurt es empfand. Vielleicht hatten sie sich auch viel zu wenig um ihn gekümmert.
Mit zunehmendem Alter beschlich Mehlfurt das Gefühl, seinen Job nicht bis zum Eintritt ins Rentenalter durchhalten zu können. Er wollte nicht mit einem Doppelleben in den Ruhestand gehen. Natürlich wusste er, dass es ihm unter Androhung allerschwerster Sanktionen verboten war, jemals Außenstehenden etwas über seine Arbeit zu erzählen. Nicht mal seine Frau hatte er einweihen dürfen. Inzwischen wunderte er sich, dass sie ihm stets all die erfundenen Geschichten über seinen Arbeitsalltag abgenommen hatte. Nie war sie mit bohrenden Fragen in ihn gedrungen. Manchmal kam ihm diese Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit schon verdächtig vor.
Aber vermutlich hatte ihn sein Job allzu sehr geprägt, der ihn hinter allem und jedem eine Gefahr lauern sah. Misstrauen war schließlich oberstes Gebot. Er ertappte sich immer öfter dabei, während eines Gesprächs mit seiner Frau völlig abwesend zu sein. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr eines Tages trotz des strengen Verbots die Wahrheit sagen würde? Eines Tages, wenn sie irgendwo in einem fernen Land ein neues Leben anfingen. Für ihn wäre es schon das dritte. Und die Weichen dafür hatte er bereits gestellt.
Aber würde Silke dann mit ihm gehen? Wäre sie bereit, ihren mit viel Herzblut paradiesisch angelegten Garten zu verlassen, den beschaulichen Ort, die Schwäbische Alb? Sie hatten sich vor 28 Jahren in Göppingen kennengelernt, kurz nachdem er in diesen Job eingestiegen war. Silke hatte im deutsch-amerikanischen Verbindungsbüro der >Cooke Barracks< als Sekretärin des örtlichen US-Generals gearbeitet, wo er einige Male tätig gewesen war - damals noch im Auftrag der Telekom. Seltsamerweise, so dachte er jetzt, hatten sie den Beginn ihrer Freundschaft, streng genommen, seinem Doppelleben zu verdanken. Ohne diesen Job hätte er das Mädchen vermutlich nie kennengelernt.
Doch nun drängten sich ihm bohrende Fragen auf: Konnte er es mit seinem Gewissen vereinbaren, all die Dinge, die seither geschehen waren und die er mitverantwortet hatte, eines Tages mit ins Grab zu nehmen? Hatte er nicht einst geglaubt, einen winzigen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten? War er nicht geradezu in einen Taumel verfallen, als im November 1989 plötzlich die Welt eine andere zu werden schien?
Zugegeben, so mahnte ihn sein Gewissen, auch er hatte in diesen Wochen und Monaten Sorge gehabt, den Job zu verlieren oder - noch schlimmer - von der falschen Seite entlarvt zu werden. Dann jedoch war alles ganz anders gekommen: Als die Grenzen offen waren und sowohl politisch als auch gesellschaftlich eine völlig unübersichtliche Lage entstand, mussten erst recht aus allen Bereichen des Lebens Informationen und Erkenntnisse gewonnen werden. Immerhin hatte die DDR ganze Heerscharen von Spitzeln, Spionen und informellen Mitarbeitern - wie die Denunzianten genannt wurden - mit in die staatliche Ehe gebracht. Und nach wie vor stand bei den Weltmächten, zumindest dort, wo noch immer Betonköpfe an den Schalthebeln saßen, die Frage im Raum: Kann man dem anderen trauen?
Als Mehlfurt an diesem Sommermorgen über die einsame und karge Hochfläche fuhr, waren seine Gedanken so weit weg, dass er beinahe den Traktor übersehen hätte, der bei Lonsee mit einem Güllefass aus einem Feldweg eingebogen war. Ein paar Kilometer weiter fädelte er sich in Urspring in die Bundesstraße 10 ein, um in Richtung Stuttgart abzubiegen. Die Nordkante der Schwäbischen Alb war noch in sanfte Morgennebel gehüllt. Wie jetzt, so hatte er seit Monaten bei seinen einsamen Fahrten über die Zukunft nachgegrübelt. Und mehr und mehr schoben sich dabei auch Ängste in den Vordergrund, was geschehen würde, wenn eines Tages etwas schieflief. Bisher hatte er oft genug mehr Glück als Verstand gehabt. Einige Male war er sogar nur dank wohlwollender Netzwerke und vielfältiger Kontakte seiner Auftraggeber aus der Schusslinie genommen worden.
Natürlich konnte er jederzeit in brenzlige Situationen geraten, die nicht auf geheimen und dezenten Wegen aus der Welt zu schaffen wären. Vor allem musste er auf der Hut vor diplomatischen Verwicklungen sein, bei denen sich erfahrungsgemäß zuerst die >hohen Herrschaften< in Sicherheit brachten und notfalls ein Bauernopfer auf der Strecke blieb. Das konnte sehr schnell er selbst sein.
Während sich der schwarze Audi Q5 im morgendlichen Berufsverkehr langsam der berühmten Geislinger Steige näherte, versuchte Mehlfurt, sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren, an den ihn die Stimme aus dem Navigationsgerät erinnerte. Noch vor der Gefällstrecke wies sie ihn nach rechts in ein großes Waldgebiet, abseits von Bundesstraße und Eisenbahnstrecke. Seit über zehn Jahren bereits wurden ihm die sogenannten Service-Termine nicht mehr direkt...
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