Schweitzer Fachinformationen
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Mit dem Geigenkasten unter dem Arm stieg Lilly die Stufen zu ihrer Wohnung in der Berliner Straße hinauf. Das Haus war recht alt und befand sich direkt neben einem ehemaligen Theater, das schon seit einigen Jahren leer stand und auf einen neuen Besitzer oder Mieter wartete.
Die Stufen knarrten unter Lillys Füßen, das typische Odeur des Hauses umfing sie. Im Treppenhaus nisteten zahlreiche Gerüche, in jeder Etage ein anderer. Unten war es Katze, in der Mitte Rotkohl, und ganz oben würde es nach Muff und klammer Wäsche riechen - und das, obwohl keine der Parteien ihre Wäsche im Flur aufhängte. Hin und wieder verschoben sich die Geruchsgrenzen, sie wurden aber immer wieder aufgefrischt, indem jemand ein Sonntagsessen kochte, die Katze rausließ oder sonst etwas tat, das den Geruch seiner Etage erhielt.
Lillys Etage war die, die nach klammer Wäsche roch, vier Treppen musste sie hinter sich bringen, bis sie den Muff hinter ihrer Wohnungstür aussperren konnte.
Nur langsam kam wieder Leben in ihre von der Kälte betäubten Wangen. Auch ihre Hände waren trotz der Handschuhe gefühllos. Lilly konnte es kaum erwarten, sich einen Kaffee zu machen und dann mit Ellen zu telefonieren.
Auf halbem Weg kam ihr Sunny Berger entgegen, die zwanzigjährige Studentin mit den zahlreichen Tattoos, die manchmal in ihrem Laden aushalf und die ein sehr gutes Händchen für Antiquitäten hatte. Manche Kunden sahen sie zwar etwas verwundert an, wenn sie die Bilder auf ihrer Haut entdeckten, aber meist konnte Sunny sie mit ihrem Charme ganz rasch für sich einnehmen.
Bei Lilly war das jedenfalls sofort geschehen, nicht mal eine Woche nachdem die Studentin hier eingezogen war, hatte sie sich mit ihr angefreundet.
»Hey Sunny, wie geht's?«, fragte Lilly, und wieder ging ihr die Idee durch den Kopf, sich einen kleinen Urlaub zu gönnen. Wenn sie jemanden bitten konnte, für sie einzuspringen, dann die Studentin.
»Gut, und dir?«, antwortete die junge Frau und zog fröhlich den Ärmel ihres Pullovers hoch. »Schau mal, das ist mein Neues.«
Das Tattoo zeigte ein Pin-up-Girl, das auf einer schwarzen Billardkugel mit der Nummer Acht ritt. Lilly wusste, dass sie sich selbst nie dazu durchringen würde, ihren Körper mit Bildern verzieren zu lassen. Doch in diesem Fall konnte sie nur Bewunderung für die saubere Arbeit und das Motiv äußern.
»Das ist sehr gut. Wo hast du das machen lassen?«
»In einem Laden in der Torstraße«, antwortete Sunny, wobei ein beinahe verliebtes Lächeln auf ihr Gesicht trat. »Ich glaub, da geh ich wieder hin, der Tätowierer war echt nett.«
»Was fürs Leben?«, fragte Lilly, denn im Gegensatz zu ihren Tattoos waren Sunnys Beziehungen alles andere als dauerhaft.
»Für das nächste Tattoo bestimmt. Aber sonst .« Bedauernd hob sie ihre linke Hand und tippte mit der rechten auf ihren Ringfinger, wo der feine Schriftzug »Love« tätowiert war.
»Ah, verheiratet«, stellte Lilly fest, worauf sie nickte.
»Ja, leider. Wäre schon was, sich einen Tätowierer zu angeln. Dann würde er mir die Tattoos kostenlos machen.«
»Und innerhalb eines Jahres hättest du dann keine freie Stelle mehr am Körper.«
»Stimmt auch wieder. Das würde ja langweilig werden. Aber trotzdem, Dennis ist sehr nett .«
»Freunde dich doch an mit ihm, dann gibt er dir vielleicht einen kleinen Nachlass.«
»Mal sehen. Wie sieht's denn aus, brauchst du demnächst wieder etwas Hilfe im Laden?«, fragte Sunny, nachdem sie ihren Ärmel wieder heruntergekrempelt hatte.
Lilly lächelte in sich hinein. Sunny fragte das immer, wenn sie ein neues Tattoo hatte machen lassen. Die Körperzeichnungen rissen regelmäßig ein Loch in ihre Haushaltskasse, was sie aber nicht davon abhielt, sich immer wieder ein neues Bild zu gönnen.
Lilly wollte schon verneinen, als ihr die Sache mit dem Urlaub, der Flucht aus dem regnerischen Berlin in den Sinn kam.
»Wäre gut möglich«, antwortete sie also, denn wenn sie sich Sunny nicht warmhielt, hatte sie vielleicht niemanden, der im Ernstfall zur Verfügung stand. »Vielleicht in einer oder zwei Wochen. Könntest du da?«
»Na sicher doch!«, antwortete die junge Frau. »Ich halte mir die Zeit frei, musst mir nur sagen, wie lange du mich brauchst. Ich krieg ja bald Semesterferien.«
Drei Monate frei. Lilly dachte zurück an ihre Studienzeit. Auch wenn sie, ähnlich wie Sunny, immer auf der Suche nach einem Job gewesen war, der etwas Geld in die Kasse spülte, waren die Semesterferien immer die besten Zeiten ihres Studentendaseins gewesen.
»Und die will ich dir nicht ganz verderben, aber vielleicht kannst du dich auf drei oder vier Wochen einrichten.«
»Oh, willst du verreisen?«
»Vielleicht.« Ein Lächeln huschte über Lillys Gesicht, dann strich sie abwesend über den Geigenkasten unter ihrem Arm.
»Und dabei Geige spielen lernen?«
»Nein, die habe ich heute bekommen und .« Wenn sich ihre Freundin dafür interessierte, würde Lilly damit nach England reisen. Aber das wollte sie Sunny nicht erzählen. Noch nicht. »Mal sehen.«
»Okay, dann sag einfach Bescheid, wann du mich brauchst. Für deinen Laden lasse ich alles stehen und liegen.«
»Danke, ich melde mich in den nächsten Tagen.«
»Ist gut!« Damit huschte Sunny an ihr vorbei und verschwand in der Katzenetage. Lilly stapfte weiter nach oben, bis der Wäschegeruch sie umhüllte.
»Ah, Tach, Frau Kaiser!«, rief Martin Gepard, der im Begriff war, seine Wohnungstür zuzuschließen. Er war einen Monat nach Lilly hier eingezogen und arbeitete in einem Supermarkt ganz in der Nähe. Obwohl sie beide ungefähr im gleichen Alter waren und voneinander wussten, dass der jeweils andere ohne Partner war, hatte sich kein weiterer Kontakt zwischen ihnen ergeben.
Auch jetzt grüßte Lilly nur und verschwand dann in ihrer Wohnung, die der Hausflurmuff nicht erreichen konnte. Innerhalb ihrer vier Wände roch es nach Vanille, frischer Wäsche, Holz und Büchern.
In die Versuchung, antike Stücke aus ihrem Laden hier aufzustellen, war sie nie gekommen. Früher, in ihrem anderen Leben, hatte sie sehr viele antike Möbel gehabt, doch seit ihr Mann fort war, mochte Lilly es privat eher modern. Die Möbel waren neu, nichts besonders Wertvolles, sondern Stücke aus dem allgegenwärtigen schwedischen Möbelhaus. Das Einzige, was sie aus ihrem früheren Zuhause mitgenommen hatte, war ein Gemälde, das eine Frau zeigte, die am Fenster stand und auf einen etwas undeutlichen Garten hinausblickte.
Besonders in der ersten Zeit ihres neuen Lebens hatte Lilly sich darin wiedererkannt. Die Frau hatte ebenfalls rotes Haar und wirkte ein wenig ratlos. Was sich in dem undeutlichen Garten befand, war nicht zu erkennen, doch die Frau blickte nicht mit Freude darauf. Stattdessen schien sie sich zu fragen, was sie tun sollte und ob es sich lohnte, fortzugehen, den Garten hinter sich zu lassen.
Auch Lilly stellte sich diese Frage häufig. Die Wohnung war tadellos und ein Wegkommen allein wegen des Ladens nicht möglich. Für ein paar Tage und Wochen, ja, denn dafür hatte sie ja Sunny, aber aus Berlin fortzugehen, konnte sie sich nicht vorstellen. Wohin auch? Freunde hatte sie noch nie viele gehabt, und deren Zahl hatte sich seit dem Tod ihres Mannes noch verringert. Eigentlich war ihr nur Ellen geblieben. Doch darüber war Lilly nicht traurig, ganz im Gegenteil, denn nur von ihr konnte sie behaupten, dass sie immer für sie da war.
Lilly trug den Geigenkasten direkt zum Schreibtisch und legte ihn vorsichtig dort ab. Der Schein der Schreibtischlampe, die sie anknipste, verlieh dem alten Leder und den angelaufenen Beschlägen einen geheimnisvollen Schimmer.
»Was meinst du?«, fragte sie das Porträt eines Mannes, der ihr aus einem schmucklosen Bilderrahmen entgegenlächelte. »Soll ich mich mal wieder in ein Abenteuer stürzen?«
Ihr Mann war stets der Meinung gewesen, dass sie alle Chancen, die sich ihr boten, nutzen sollte. Und auch jetzt schien er ihr aufmunternd zuzulächeln. Lilly konnte kaum glauben, dass seit seinem Tod schon drei Jahre vergangen waren. Noch immer ertappte sie sich manchmal dabei, wie sie darauf wartete, dass er in den Laden kam, ihr je nach Jahreszeit heißen Kaffee oder Eis vorbeibrachte und dann ihre Neuzugänge bewunderte.
Peter hatte nicht viel Ahnung von Antiquitäten gehabt, aber einen treffsicheren Geschmack. Die Geige hätte ihm ganz sicher gefallen.
Liebevoll strich sie über das Porträt, doch als sie spürte, dass Tränen in ihre Augen schossen, wandte sie sich dem Telefon zu.
Das Gespräch mit Ellen würde sie auf andere Gedanken bringen. Während sie die Nummer wählte, erschien vor ihrem geistigen Auge das Bild einer lebensfrohen blonden Frau Ende dreißig mit strahlend blauen Augen, einer kurzen Nase und einem etwas zu energischen Kinn. Obwohl sie beide im selben Alter waren, hatte Ellen immer reifer und weniger kindlich gewirkt als Lilly selbst. Auch jetzt war das noch so. Ellen, die Starke, Selbstbewusste gegenüber Lilly, der Kindlichen, Zweifelnden. Wahrscheinlich zementierte gerade dieser Gegensatz ihre Freundschaft so sehr.
»Hallo Ellen, hier ist Lilly«, sagte sie, nachdem sich eine rauchig klingende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte.
»Lilly, du meine Güte!«, rief ihre Freundin aus. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesprochen!«
»Viel zu lange«, entgegnete Lilly, während sie nachrechnete. Mittlerweile war wieder ein Vierteljahr vergangen, seit sie zum letzten Mal telefoniert hatten. Natürlich...
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