Schweitzer Fachinformationen
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Liv
»Fester!«, hallte meine Stimme durch das Ankleidezimmer.
Astrid kam meiner Aufforderung nach und zog die Korsettschnüre noch ein bisschen mehr an. Der mit Fischbein verstärkte, cremefarbene Stoff legte sich eng um meine Taille, wie die Umarmung eines Liebhabers, der geschworen hatte, mich nie mehr loszulassen.
Astrid schnaufte hinter mir. Im Gegensatz zu Svenja, meinem vorherigen Dienstmädchen, hatte sie nicht besonders viel Kraft in den Armen. Leider hatte Svenja vor zwei Wochen das Haus verlassen, um zu heiraten.
Ich betrachtete mich in dem hohen Spiegel, der schon so manche Generation Frauen dieser Familie bei der Morgentoilette beobachtet hatte. Das Glas war an den Rändern etwas angelaufen, und die kleinen Putten, die an den Ecken des Rahmens kauerten, waren an einigen Stellen verblichen.
Da ich recht zierlich war, stellte es keine so große Anstrengung dar, das gerade moderne Taillenmaß zu bekommen. Doch um wie eine Sanduhr auszusehen, würde ich nicht nur mein Hinterteil polstern müssen, auch für die Bluse hatte ich gefütterte Einlagen, um die unliebsamen Dellen zwischen Schultern und Brust auszugleichen und die Taubenbrust zu formen, die das derzeitige Ideal der Weiblichkeit darstellte.
Ein weiterer Ruck an den Schnüren presste mir die Luft aus der Lunge. Offenbar hatte Astrid doch noch irgendwelche Kraftreserven.
»Es reicht!«, rief ich schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Ich griff nach hinten und versuchte, die Schnüre wieder ein wenig zu lockern. Wenigstens um die Brust herum, dass ich besser atmen konnte.
»Verzeihen Sie, gnädige Frau.« Astrid wich zurück und senkte den Kopf. Im Spiegel sah ich, dass sie rot wurde.
»Schon gut«, sagte ich und griff nach den Bändern. Ich führte sie um meine Taille herum, band eine Schleife und ließ die überhängenden Fäden unter dem Rand des Korsetts verschwinden. »Bring mir die Polster und den Unterrock.«
Astrid nickte und huschte zur Kommode.
Eine halbe Stunde später fühlte ich mich präsentabel. Mein braunes Haar hatte ich zu einem eleganten Knoten geschlungen und mit silbernen Nadeln festgesteckt. Auf meinem Gesicht lagen eine Schicht Puder, etwas Röte auf den Wangen und etwas Grau auf meinen Lidern, das ich mit einem angebrannten Hölzchen auftrug. Über meiner Unterwäsche trug ich eine reich mit Spitze verzierte weiße Bluse und einen dunkelgrauen Rock, der die Farbe meiner Augen zur Geltung brachte. Komplettiert wurde mein Aufzug durch braune Schuhe mit kleinem Absatz und einer Brosche am Kragen. Der blaue Stein funkelte in einem Strahl Morgensonne.
Es war das einzige Erbstück meiner Mutter. Sie selbst hatte die Brosche von ihrer Großmutter bekommen. Liebevoll zog ich mit dem Finger die Konturen der geschwungenen Fassung nach, die an einen Blütenkelch erinnerte. Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, Erinnerungen an die Zeit, in der meine Mutter das Zentrum meines Lebens war. Bis dieser eine Sommertag alles in die Brüche gehen ließ .
»Benötigen Sie noch etwas, gnädige Frau?«, riss mich Astrid aus meinen Gedanken. Ich hatte sie beinahe vergessen.
»Nein. Du kannst gehen«, sagte ich und drängte die Erinnerungen zurück. »Ich komme allein zurecht.«
Als sie fort war, wandte ich mich um. Durch die weißen Gardinen war das satte Grün des Parks zu erahnen. Ein wunderschöner Tag. Pfingsten. Normalerweise war das die Zeit, in der man sich zusammenfand, die Kirche besuchte und anschließend spazieren ging. Doch Sten hatte mir nicht den Auftrag gegeben, für diesen Tag etwas vorzubereiten.
Da ich nicht wusste, ob mein Mann bereits auf den Beinen war, beeilte ich mich, denn er hasste es, beim Frühstück auf mich zu warten.
Ich schritt über die weichen, prachtvoll gemusterten Teppiche des Flurs zur Treppe, die in einem eleganten Schwung in die untere Etage führte. Unser Haus war recht groß, neben dieser Treppe gab es im hinteren Teil noch einmal eine für die Dienstboten. Diese war steiler und weniger prächtig, während man auf den Stufen, die ich nun betrat, nur so dahinzufliegen schien.
An der Treppe blieb ich einen Moment lang stehen. Der schwere Kristalllüster, der wie eine große Traube von der Decke hing, glitzerte noch im Schein der Lampen, obwohl durch die hohen Fenster bereits Sonnenlicht hereinströmte. Die Portraits zwischen den Landschaftsbildern an den mit beige-goldener Tapete versehenen Wänden blickten mich wie immer kühl und ein wenig entrückt an.
Stens Eltern waren schon vor einigen Jahren von uns gegangen. Olivia, seine Mutter, war eine zarte Person gewesen, die schwer unter Migräne gelitten hatte. Ich konnte mich kaum noch an sie erinnern. Sie starb mit nicht mal fünfzig Jahren. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Mein Schwiegervater Arnulf überlebte sie bloß um vier Jahre. Er war nur wenig älter gewesen als sie, ein rotgesichtiger Mann voller Vitalität. Auch seine Zeit wäre noch nicht gekommen gewesen.
Doch es hatte einen Unfall am Hafen gegeben. Ein Kran hatte plötzlich herumgeschwenkt und ihn getroffen. Obwohl ein Arzt schnell zur Stelle war, hatte er ihn nicht mehr retten können.
Die Portraits meiner Schwiegereltern waren vor zwei Jahren an dieser Wand angebracht worden. Sie waren die einzigen vertrauten Gesichter für mich. Bei den anderen handelte es sich um entfernte Ahnen, Frauen und Männer in altmodischen Kleidern und mit teilweise seltsam anmutenden Frisuren.
Doch wenn mich wie heute die Schwermut überkam, glaubte ich in allen Augenpaaren einen Vorwurf zu erkennen. Den, nicht für den Fortbestand dieser Familie zu sorgen.
Das Esszimmer war einer der schönsten Räume dieses Hauses. Das in einem warmen Braunton gehaltene Parkett wurde von den Dienstmädchen blitzblank gehalten. Die Wände waren nicht mit Tapeten geschmückt, sondern mit echten Wandmalereien, die Szenen aus dem ländlichen Leben zeigten. Sie mussten mittlerweile schon an die hundert Jahre alt sein.
Sten sprach immer mal wieder davon, den Raum umgestalten zu lassen. Zu modernisieren. Doch er war dermaßen beschäftigt, dass er nicht dazu kam. Ich war froh darüber, denn ich liebte die alte Villa in der Ronnebygatan. Wie durch ein Wunder hatte sie den großen Stadtbrand im Jahr 1790 unbeschadet überstanden. Mit ihrem weitläufigen Garten und den weißen Säulen kam sie meiner kindlichen Vorstellung eines Schlosses ziemlich nahe. Sogar Hugo Skantze, der Besitzer der Lampenfabrik, der ein paar Häuser weiter in der Nummer 5 wohnte, beneidete uns darum.
Hier unten war außer mir noch niemand. Ich hörte Astrid gedämpft mit dem Geschirr klappern. Von draußen tönte Vogelzwitschern durch die Fenster.
Ich trat an den langen Esstisch, der Platz für acht Personen bot. Auf Wunsch von Sten wurden unsere Gedecke an den Kopfenden ausgelegt, weit voneinander entfernt. Das Blumenbouquet dazwischen wurde jeden zweiten Tag erneuert. Momentan bestand es aus rosafarbenen Rosen, weißem Schleierkraut, weißen Margeriten und dunkelroten Ranunkeln. Besonders im Winter kosteten diese Arrangements ein Vermögen, und meist waren die Dienstmädchen und ich die Einzigen, die sie sahen. Selbst wenn Sten hier war, wirkte es nicht so, als würde er sie wahrnehmen.
Schritte ertönten, und wenig später kam Sten durch die Tür. Er trug einen sandfarbenen Anzug und ein Hemd mit Vatermörderkragen. Sein blondes Haar war ordentlich gescheitelt.
»Guten Morgen, Liv.«
»Guten Morgen«, erwiderte ich und trat zu ihm. Er küsste mich auf die Wange. »Hattest du eine gute Nacht?«
»Es ging so«, antwortete er knapp und begab sich an seine Seite des Tisches.
Seine Berührung hallte in mir nach. Ich roch sein Rasierwasser, und eine alte Sehnsucht kroch in mir hoch. Wenn er mich doch nur in seine Arme ziehen und wieder so leidenschaftlich küssen würde, wie er es damals getan hatte! Unsere Ehe war vielleicht arrangiert gewesen, dennoch hatten wir eine gewisse Leidenschaft füreinander entwickelt.
Doch damals hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass ich Kinder bekommen würde.
Jetzt, sieben Jahre nach unserer Hochzeit, schliefen wir in getrennten Betten. »Damit ich dich nicht störe, wenn ich spät zurückkehre«, war Stens Erklärung dafür gewesen.
Ich setzte mich auf meinen Platz und spürte dabei die Enge des Korsetts noch mehr als sonst. Früher hatte Sten mich dafür bewundert, dass meine Taille schmal wie die eines jungen Mädchens war. Es wäre ihm aufgefallen, dass ich mich besonders hübsch gemacht hatte.
Jetzt richtete er den Blick sofort auf die Abendzeitung, die gebügelt neben seinem Teller lag. Er war vergangene Nacht so spät heimgekommen, dass er sie nicht mehr hatte lesen können. Überhaupt sah ich ihn in letzter Zeit nur zum Frühstück.
Astrid trug das Essen auf. Angesichts des Geruchs der frischen Erdbeermarmelade lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ruth, unsere Köchin, hatte ein ganz spezielles Rezept dafür, das sie niemandem verriet - auch mir nicht. Doch warum sollte eine Fabrikantengattin wie ich auch Marmelade kochen?
Ich räusperte mich. »Musst du denn den ganzen Tag im Büro bleiben?«, wagte ich einen Vorstoß. Sten arbeitete weiß Gott genug, und dass er sich nicht einmal am Sonntag ein wenig Ruhe und Zerstreuung gönnen wollte, besorgte mich ein wenig.
»Ich habe doch gesagt, dass ich viel zu tun habe«, gab Sten zurück, während er die Kaffeetasse an den Mund führte. »Wir haben einen Großauftrag aus Deutschland bekommen. In diesen Zeiten ist das fast ein Wunder!«
»Aber selbst in Deutschland feiert man...
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