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Der Gottestod als Ärgernis: In einem tiefgründigen Essay geht Norbert Bolz der »Erfindung« des Christentums nach, das erst durch Paulus und dessen radikalem »Wort vom Kreuz« seine weltgeschichtliche Gestalt gefunden hat. Dieser paulinischen Erfindung verdankt die moderne Gesellschaft ihre Entstehung, das Christentum hat die Säkularisationsgeschichte selbst in Gang gesetzt - und damit die eigene Dekonstruktion. Norbert Bolz folgt der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaften und die Verweltlichung der christlichen Glaubensüberzeugungen, um schließlich die »Pervertierung des Christentums« zu konstatieren: Dessen Niedergang wird durch den Versuch besiegelt, sich an den Zeitgeist anzupassen, indem Dogma und Orthodoxie preisgegeben und auf naive Weise theologische Politik betrieben wird. Doch »wer das Christentum glaubt, verteidigen zu müssen, hat nie an Jesus Christus geglaubt«. Folgerichtig verteidigt Bolz das Christentum nicht gegen die Lebenspraxis der Christenheit, sein theologisches Nachdenken über das Christentum rehabilitiert zuallererst dessen ursprüngliche Kraft, die jedes Wertesystem herausfordert - und umkehrt.
Bücher haben ihr eigenes Schicksal, lautet ein Satz der Spätantike. Gemeint war damit, dass ihre Wirkung vor allem von der Rezeptionsfähigkeit der Leser abhängt. Heute würde man eher an Marketing und Werbung denken. Aber natürlich hat auch der Autor die Chance, dem Erfolg seines Buches auf die Sprünge zu helfen. Schon der erste Satz kann entscheiden. Eine wesentliche Rolle spielen der prägnante Titel und Kapitelüberschriften wie diese: »Die Erfindung des Christentums«, »Die Säkularisierung des Christentums«, »Die Pervertierung des Christentums«. Sie stellen die Kurzform von Thesen dar, die hoch kontrovers sind. Allen drei Thesen wird natürlich heftig widersprochen werden. Dieses Buch bietet ihre Verteidigung.
Das Kapitel »Die Erfindung des Christentums« entwickelt die These, dass man den Geist des Christentums nicht aus dem »Leben Jesu« und den Evangelien heraus verstehen kann, sondern dass er die Leistung des Juden Saulus aus Tarsus war, der sich dann Paulus nannte. Dieser These werden nicht nur die Theologen widersprechen, sondern vor allem auch die Gläubigen, die mit dem guten Menschen Jesus sehr viel mehr anfangen können als mit dem »Wort vom Kreuz«.
Das Kapitel »Die Säkularisierung des Christentums« entwickelt die These, dass das, was die westliche Welt auch heute noch im Innersten zusammenhält, Verweltlichungen christlicher Glaubensüberzeugungen sind. Der letzte bedeutende deutsche Philosoph, Hans Blumenberg, hat dieser These scharf widersprochen, weil er durch sie die »Legitimität der Neuzeit« und ihre Kraft zur Selbstbehauptung und Selbstbegründung infrage gestellt sah. Der Begriff der Säkularisierung, den wir im Folgenden verwenden, ist dagegen unpolemisch und rein deskriptiv. Er liegt sehr nahe an Max Webers romantischem Begriff der Entzauberung der Welt, der im spröden Jargon der Soziologen heute funktionale Ausdifferenzierung heißt.
Das Kapitel »Die Pervertierung des Christentums« entwickelt schließlich die These, dass der Niedergang der christlichen Kirchen in der westlichen Welt seinen wesentlichen Grund darin hat, dass sie verzweifelt versuchen, sich an den Zeitgeist anzupassen, indem sie einerseits Dogma und Orthodoxie preisgeben und andererseits auf naivste Weise theologische Politik betreiben. An dieser These halten wir fest, obwohl der bedeutende Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman »Perversität« als einen der Grundbegriffe reaktionärer Rhetorik entlarvt hat. Denn in der Frage nach dem modernen Schicksal des Christentums behalten die »Reaktionäre« gegen die »Progressiven« recht. Den Zusammenhang zwischen jener Säkularisierung und dieser Pervertierung des Christentums hat der stolze Reaktionär Nicolás Gómez Dávila auf eine einfache Formel gebracht: »Es ist heute leichter, christliche Verhaltensweisen zu finden als christliche Seelen.« Das hat man bereits vor über 200 Jahren bemerkt, aber weniger zynisch akzentuiert. In seinen Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters unterscheidet schon Johann Gottlieb Fichte zwischen allgemein anerkannter Religion und lebensweltlicher Religiosität. Und die Charakterisierung seiner Gegenwart durch drei Merkmale klingt außerordentlich aktuell: Die christlichen Kirchen sind in der Krise, der Aberglaube ist durch die Aufklärung erledigt, doch zugleich sind die Bürger auch des freigeisterischen Geschwätzes müde. Gerade vor diesem Hintergrund aber hebt sich der religiöse Kernbestand des bürgerlichen Lebens ab: »Es lässt sich als unwidersprechlicher Grundsatz aufstellen; wo noch gute Sitten sind, und Tugenden, Verträglichkeit, Menschenliebe, Mitleid, Wohltätigkeit, häusliche Zucht und Ordnung, Treue und sich aufopfernde Anhänglichkeit der Gatten gegeneinander, und der Eltern und Kinder, - da ist noch Religion, ob man es nun wisse, oder nicht.«
Dass die moderne Gesellschaft ihre Entstehung vor allem auch der christlichen Religion verdankt, ja dass der Zivilisationsprozess insgesamt religiöse Wurzeln hat, ist im Anschluss an Max Weber vielfach diskutiert worden. Und tatsächlich drängt sich dem unbefangenen Beobachter der Zusammenhang von Mission, Kolonisation und Zivilisation immer wieder auf, wenn man von den Grenzbegriffen der Wirklichkeitserfahrung ausgeht, die der polnische Philosoph Leszek KoBakowski und Hans Blumenberg so eindrucksvoll herausgearbeitet haben: die »Gleichgültigkeit der Welt« und der »Absolutismus der Wirklichkeit«. Gemeint ist jeweils, dass der Mensch die Welt ursprünglich als fremd und feindselig erfährt - als etwas, das er auf Distanz halten und mit dem er unter größten Anstrengungen fertig werden muss. Das zwingt ihn zu zwei fundamentalen Leistungen, nämlich einmal zum Mythos, der Werte kreiert, mit denen sich die Welt verstehen lässt, und zum anderen zur Technik, die ihm zur Herrschaft über die Welt verhilft.
Diese beiden Ur-Leistungen des Menschen, der Mythos und die Technik, treten dann allmählich auseinander und schließlich zueinander in Gegensatz. Hier liegt der Ursprung dessen, was wir Aufklärung nennen. Ihre Ultrakurzgeschichte lautet: Es sind gerade die monotheistischen Religionen, die in ihrem Kampf gegen Magie und Animismus den ersten entscheidenden Schritt tun. Doch nach der Konsolidierung der Religion zum gesellschaftlichen System wird sie selbst Gegenstand der Aufklärung, welche das Wissen gegen den Glauben setzt. Ein Säkularisierungstheoretiker könnte sagen: Wissenschaft ersetzt die potestas spiritualis des christlichen Mittelalters. Da ist es nur konsequent, dass schließlich die Wissenschaft, die die Welt entzaubert und die Religion entthront hat, selbst entzaubert wird - das modische Stichwort dafür lautet: Dekonstruktion.
Und nun? Wird die offenbar unaufhebbare Ungewissheit in der Wissenschaft zu einer Renaissance des Glaubens führen? Behält der Kulturphilosoph Oswald Spengler mit seiner Prognose einer »zweiten Religiosität« recht? Wir können zunächst einmal nur festhalten, dass das Christentum als historische Offenbarungsreligion im Spannungsfeld von Wissenschaft, Philosophie und Politik, Atheismus und anderen Religionen steht. Als Zivilreligion ist sie nur noch eine Religion ohne Glauben. In den zahlreichen Formen einer Ersatzreligion, die das Heilige als freischwebenden Gefühlswert kultivieren, haben wir es mit zahlreichen anderen religiösen Erfahrungen ohne religiösen Glauben zu tun. Und in unseren obersten Kulturwerten, aber auch in der Esoterik einer Intellektuellentheologie tritt uns ein Christentum ohne Christenheit gegenüber.
Es gibt aber ein starkes Argument gegen die These, dass die christlichen Kirchen vor dem Untergang stehen. Es ist ein Argument aus der Geschichte, das der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton am prägnantesten formuliert hat. Das Christentum ist nämlich auch eine Geschichte der unerwarteten Wiedergeburten. Es hat den Untergang Roms, die Herausforderung durch den Islam, die Krise der Reformation, die Aufklärung und den Darwinismus überlebt - oder genauer, christlicher und wiederum mit Chesterton gesagt: Das Christentum ist fünf Mal gestorben, und fünf Mal hat es wieder seinen Weg aus dem Grab heraus gefunden. Nicht nur Christus, sondern auch das Christentum ist wiederauferstanden von den Toten. In diesem Sinne ist die These, die im Folgenden entwickelt werden soll, keine Untergangsthese. Sie lautet: Die Kultur der Moderne ist säkularisiertes und zugleich pervertiertes Christentum. Auch dazu gibt es eine prägnante Formulierung Chestertons: »Die moderne Welt ist voll von verrückt gewordenen christlichen Tugenden.« Die Säkularisierung des Christentums zeigt sich in den Rechten, Werten und Institutionen der modernen Welt, die Pervertierung des Christentums zeigt sich in den grotesken Anpassungsversuchen der Kirchen an den Zeitgeist und in den hysterischen Formen des Protests.
Das Kapitel »Der Probelauf der Moderne« entwickelt die These, dass die christliche Entgöttlichung der Welt als entscheidende Vorarbeit für die wissenschaftliche Entzauberung der Welt begriffen werden kann. Gerade diese Entzauberung der Welt durch Wissenschaft hat dann überhaupt erst die Unvermeidlichkeit der Religion evident gemacht. Das abschließende Kapitel »Die Aufklärung der Aufklärung« zeigt, welche Impulse gerade das Christentum der modernen Aufklärung beim Unternehmen ihrer Selbstaufklärung geben kann. Wie die Soziologie ist nämlich auch die Theologie unverzichtbar, wenn es darum geht, die Grenzen des wissenschaftlich-technischen Weltbildes zu markieren.
Das Kapitel »Spekulativer Karfreitag« ist ein Exkurs in die intellektuelle Esoterik des Karfreitagschristentums, also eines Christentums ohne Auferstehung. Es liegt in der Natur der Sache, dass es Nichtphilosophen (und das sind ja wohl fast alle Leser dieses Buches) gewisse Lektüreschwierigkeiten bereiten wird. Wer sich daran stößt, kann das Kapitel aber auch ignorieren, ohne den roten Faden der Gesamtargumentation zu verlieren.
Schließlich noch ein Wort zum Titel dieses Buches. Christentum ohne Christenheit soll nicht besagen, dass es darum geht, das Christentum gegen die Lebenspraxis der Christenheit zu verteidigen. Der evangelische Schriftsteller und Theologe Søren Kierkegaard hat sehr gut gesehen, dass das Christentum zu verteidigen heißt, es zu verraten. Denn eine Verteidigung unterstellt ja die Rettungsbedürftigkeit des Christentums. Werbung für das Christentum wäre ein zweiter Judaskuss. Es geht vielmehr darum, seine Kraft des Ärgernisses herauszuarbeiten. Denn, so Kierkegaards Einsicht, das »Ärgernis ist unglückliche Bewunderung«. Deshalb ist die Missgunst...
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