Schweitzer Fachinformationen
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Donnerstag, 6. Dezember, vor zwei Jahren
»Olive? Alles okay?«
Erschrocken riss Olive den Blick von dem lebenden Gerippe in dem Krankenhausbett los. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich war gerade ganz woanders.«
»Kann man wohl sagen.« Stella klang genervt, aber das tat sie oft. »Soll ich dir helfen?«
»Nein, ich schaff das schon. Danke, Stel.«
Stella ging zu ihrer nächsten Patientin, einer betagten Frau mit Demenz und Leberkrebs, und zog die Vorhänge um das Bett zu. Olive stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihr Herz schlug geradezu lächerlich schnell, doch wenigstens das würde man ihr nicht ansehen.
Das Skelett im Bett regte sich. Ein Stirnrunzeln huschte über das Gesicht der Kranken, ehe sie von Neuem in tiefen, medikamenteninduzierten Schlaf sank.
Eloise Warner.
Dem Krankenblatt am Fußende entnahm Olive, dass die Patientin zweiundvierzig war, Eierstockkrebs im Endstadium hatte und zur Palliativbehandlung hier war. Der einzige Grund, dass sie nicht im Hospiz nebenan lag, war der dortige Bettenmangel. Sie würde in der Onkologie bleiben, bis sich ein Platz für sie fand, obgleich man nichts für sie tun konnte, außer die Schmerzen zu lindern.
Eloise. So ein schöner Name. Sie war eine schöne Frau gewesen, bevor der Krebs ihr alles essenziell Menschliche genommen hatte: groß und schlank, mit lockigem rotblondem Haar und vollendetem herzförmigem Gesicht. Eloise Warner, eine hoch angesehene Strafverteidigerin, war mit einem Parlamentsabgeordneten aus der Gegend verheiratet. Die beiden hatten zwei Töchter, die genauso attraktiv aussahen wie ihre Eltern. Eloise hatte das perfekte Leben gehabt. Ein kurzes Leben, wie sich herausstellte.
Olive zitterte noch immer. Eloise Warner. Vollkommen hilflos. Jetzt ganz und gar auf fremde Hilfe angewiesen. Auf sie.
Was für eine seltsame Fügung des Schicksals.
»Olive, bist du fertig? Kannst du mal kurz mit anfassen?«
Olive trat zu Stella ans Nachbarbett. So behutsam sie konnten, zogen sie der alten Mrs Reynolds den nassen Schlüpfer aus und wechselten das feuchte Stecklaken. Die Patientin wimmerte erbärmlich, als die kalten Feuchttücher ihre Haut berührten.
»Ein Jammer.« Mit einem Kopfrucken deutete Stella auf Eloises hingestreckten Körper. »Aber ihr Mann ist echt scharf.« Sogar Stella besaß genug Anstand, die Stimme zu senken. »Dürfte demnächst wieder auf dem Markt sein.«
Olive machte ein Was soll DAS denn?-Gesicht. Stella, eine durchaus kompetente Krankenschwester, konnte entsetzlich plump sein. Stella zuckte die Achseln und schaute kurz auf die alte Frau vor ihnen hinunter, ehe sie Olive ansah und mit den Lippen das Wort Lala-Land formte.
»Kinder hat sie auch«, fuhr sie dann fort. »Niemand sollte Weihnachten sterben müssen. Schon gar nicht eine junge Mutter.«
Im Stationszimmer bekannte Olive während der kurzen Pause zwischen der Medikamentenausgabe und dem Austeilen des Mittagessens Farbe. »Ich war mit Michael Anderson im Einsatz«, erzählte sie Stella. »In Afghanistan.«
Sie hatte freie Sicht auf Eloises Bett direkt unter dem Fenster. Die Kranke hatte sich anscheinend seit über einer Stunde nicht gerührt.
Stella schien sehr interessiert. »Oh, na ja, dann bist du ja im Rennen. Und hast einen Vorsprung vor uns anderen.«
Stella war seit über zwanzig Jahren verheiratet. Und zwar glücklich, soweit Olive wusste.
»Ich bezweifele, dass er sich überhaupt noch an mich erinnert«, erwiderte sie.
Sie und Michael Anderson waren sich in Helmand nur selten über den Weg gelaufen, und alles, was sie damals über ihn gewusst hatte, hatte sie von anderen gehört.
»Wie war er denn so?«, wollte Stella wissen.
Olive überlegte kurz. »Ein guter Offizier. Angesehen. Hat sich nie gedrückt, war aber auch nie leichtfertig. Hatte einen guten Instinkt für das, was um ihn herum vorging.«
»Und war er seiner Frau treu?« Stellas Augen leuchteten.
»Soweit ich weiß schon. Es gab nicht viele Frauen auf dem Stützpunkt, und die wenigen, die da waren, waren nicht seine Kragenweite.«
»Ich denke, er kommt nachher noch vorbei. Falls du, du weißt schon, dir die Lippen nachziehen möchtest.«
»Du bist eine Schande für diesen Beruf.«
»Hey, ich denk doch nur an dich. Das mit Mark ist doch schon - wie lange her? - sechs Monate?«
»Neun«, korrigierte Olive.
Sie hatte sich eine simple Geschichte zurechtgelegt, als sie auf der Station angefangen hatte: Sie und ihr langjähriger Freund Mark hatten sich vor Kurzem getrennt. Es war eine schlimme Trennung gewesen, und wenn gemeinsame Unternehmungen nach dem Dienst im Moment gerade nicht so ihr Ding waren, also, das war der Grund. Sie war Fragen ausgewichen, hatte die Gesellschaft der anderen gemieden und ihre Kolleginnen auf Abstand gehalten. Das hatte größtenteils funktioniert. Die Leute hatten akzeptiert, dass Olive eher eine Einzelgängerin war, und genau das wollte sie. Vor allem wollte sie nicht, dass sich jemand allzu sehr für ihren Ex-Freund interessierte.
Mark war nämlich frei erfunden.
Gegen Ende des Nachmittags kam Eloises Familie zu Besuch, zuerst ihr beiden Töchter. Beide waren groß für ihr Alter - dank einer Internetrecherche während ihrer Pause wusste Olive, dass sie zehn und zwölf waren -, und beide hatten makellose Haut und lockiges Haar. Die Jüngere kam vielleicht ein bisschen mehr nach ihrer Mutter, die Ältere sah ihrem Vater ähnlich. Beide trugen die Schuluniform einer Privatschule hier in der Gegend.
»Ich hole euch mal noch ein paar Stühle.« Olive zwang sich, die beiden Mädchen anzulächeln. Die Besuche bei ihrer kranken Mutter würden Eloises Töchter in den nächsten Wochen viel abverlangen, vor allem, wenn sie länger hier auf Station blieb. Eloise gehörte ins Hospiz, wo sie ein eigenes Zimmer hätte und wo ihre Lieben unter sich sein und trauern könnten. Im Hospiz gab es einen Aufenthaltsraum für Angehörige, in dem sich Besucher heiße Getränke und einfache Mahlzeiten zubereiten, fernsehen oder eine Weile lesen und sich ausruhen konnten. Nur wenige Menschen wussten, wie anstrengend es sein konnte, einen Sterbenden zu betreuen, bis sie es selbst erlebten.
»Eure Mum hat heute Nachmittag meistens geschlafen«, berichtete sie den Mädchen, als sie zurückkam, und wappnete sich gleichzeitig für die Fragen, die Kinder so oft stellten. Wann darf Mummy nach Hause? Geht es ihr schon besser? Es kamen keine. Die beiden wussten, dass ihre Mutter im Sterben lag.
»Entschuldigung«, sagte eine Stimme, die Olive kannte. Sie drehte sich um und erblickte einen hochgewachsenen Mann in einem makellos sitzenden Anzug, der gerade ein Handy in die Jacketttasche schob. »Wie geht es ihr?«
Michael Anderson war etliche Jahre älter als damals, als Olive ihn zum letzten Mal gesehen hatte, doch wenn überhaupt, so war er noch attraktiver geworden. Längeres Haar stand ihm gut, und er machte das Beste daraus, kämmte es aus der Stirn nach hinten und ließ es sich um das eine Ohr locken. An den Schläfen hatte er ein paar graue Haare und in dem kurzen Bart ein paar rote. An die irgendwann früher einmal gebrochene Nase erinnerte Olive sich, nicht aber an die sanften grauen Augen.
Als Olive aus dem Weg trat, ergriff das jüngere Mädchen die Hand seiner Mutter. »Mum, ich bin's, Jess. Wir wollten dich besuchen. Bist du wach, Mum?«
Anderson sah Olive an, nicht seine Frau. »Wir kennen uns, nicht wahr?«
Mit Abstreiten war nichts zu gewinnen.
»Olive Charles.« Sie bedachte ihn mit einem leichten Lächeln. Genug, um Sympathie zu zeigen, nicht genug, um unsensibel zu wirken. »Afghanistan«, fuhr sie fort. »Camp Viking. Es tut mir sehr leid, dass Ihre Frau so krank ist.«
Während Anderson ihr weiter unverwandt in die Augen blickte, sah Olive Stella näher kommen. Und im Stationszimmer war plötzlich sehr viel mehr Betrieb.
»Danke«, sagte er. »Wann sind Sie aus der Army ausgetreten?«
»Dad, Mummy versucht, mit dir zu reden.«
Tatsächlich, Eloises Augen waren offen, und eine ausgezehrte, gelbe Hand streckte sich zu ihrem Mann hinauf. Anderson wandte sich seiner Frau zu, nahm ihre Hand und lächelte.
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen.« Olive ging zurück zum Stationszimmer und fing sich dabei einen schelmischen Blick von Stella ein.
Der Familienbesuch dauerte nicht ganz dreißig Minuten, und während dieser Zeit sah Olive mehr als einmal, wie Michael Andersons Blick zu ihr herüberhuschte.
»Oh, ich würde sagen, der erinnert sich sehr gut an dich«, sagte Stella ihr halblaut ins Ohr.
»Sie glauben, Anderson lügt, wenn er behauptet, er hätte seine Sekretärin nicht in dem Hotel anrufen lassen?«, fragte Lexy, als sie den Stadtrand erreichten.
Während Garry den größten Teil der Fahrt von Guisborough damit verbracht hatte, Wetterberichte zu hören und sich vergeblich das Hirn darüber zu zermartern, wo Olive sein könnte, hatte Lexy telefoniert. Sie hatte sich auf dem Revier gemeldet und das Hotel gebeten, eine Liste der früheren Bewohner von Zimmer Nummer sieben zu erstellen. Die Tatortermittler - die Kollegen von der Spurensicherung - würden am Nachmittag dort sein, berichtete sie Garry zwischen zwei Telefonaten. Ärgerlicherweise würden sowohl der Kellner, der das Paar im Restaurant bedient hatte, als auch die...
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