Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
2. Kapitel
Mittwoch, 20. September
Der Ballon hing in der Luft wie eine umgedrehte Christbaumkugel; seine pralle, bunt gestreifte Hülle spiegelte sich im See. Im Morgenlicht leuchtete das Wasser wie ein reifer Pfirsich, blassgolden an den Rändern, ein dunkles, sattes Rosa in der Mitte. Es war windstill. Kein Laut war zu hören, sogar die Bäume am Ufer hatten aufgehört zu rauschen. Keiner der Insassen des Ballons rührte sich oder sagte etwas. Die Welt schien den Atem anzuhalten.
Unter ihnen breitete sich die weite, von Heidekraut bedeckte Moorlandschaft des Northumberland National Park aus. Endlose Grasflächen wogten wie das Fell eines riesigen erwachenden Tieres, Bäche schimmerten wie silbrige Schlangen, und der Sonnenaufgang ließ die Hügelkuppen erglühen. Die urtümliche Landschaft war überwältigend und seit Jahrhunderten unverändert, es war, als wäre der Ballon eine Zeitmaschine, die sie zurückbrachte in jene Epoche, als im äußersten Norden Englands noch weniger Menschen gesiedelt hatten als jetzt. Sie sahen keine Straßen, keine Bahnschienen, keine Städte oder Dörfer.
Abgesehen von ihrer dreizehnköpfigen Gruppe schien die Welt völlig leer zu sein.
Der Korb des Ballons war, wie bei Vergnügungsfahrten üblich, groß und rechteckig und in vier Abteile unterteilt, damit die Passagiere sich nur innerhalb bestimmter Bereiche aufhalten konnten. Der Ballonführer hatte ein eigenes Abteil in der Mitte. In einer der vier Ecken standen zwei Frauen zwischen Mitte und Ende dreißig, die eine ganz in Schwarz, die andere grün gekleidet. Die beiden sahen sich nicht ähnlich genug, um Zwillinge zu sein, waren aber definitiv Schwestern. Die Frau in Schwarz ließ beim Ausatmen einen leisen Ton vernehmen, zu laut, um ein Seufzer zu sein, zu glücklich für ein Aufstöhnen.
»Gern geschehen.« Ihre Schwester lächelte.
Die Frauen teilten sich das Abteil mit einem Buchhalter aus Dunstable. Seine Frau und die beiden halbwüchsigen Kinder standen in der benachbarten Abtrennung. Auf der anderen Seite des Ballons befanden sich drei Männer auf Wanderurlaub, deren Anoraks in Rot, Gelb und Grün an eine Verkehrsampel denken ließen, sowie ein älteres schottisches Ehepaar und ein Journalist im Ruhestand.
Der Korb beschrieb langsame, bedächtige Spiralen, während sie über dem See dahintrieben. Dieses ständige Kreiseln war eine der größten Überraschungen gewesen, und auch, wie sich die Luft in großer Höhe anfühlte, schneidender und frischer als am Boden. Kühl, aber nicht so unangenehm kalt wie an einem frostigen Morgen. Diese Luft kribbelte auf der Haut und prickelte beim Einatmen.
Die Frau in Grün, Jessica, trat ein wenig näher zu ihrer Schwester, die blass geworden war und den Rand des Korbes umklammerte. Mit großen, staunenden Augen schaute sie unverwandt auf die Wasseroberfläche hinab. Urplötzlich überfiel Jessica ein verstörender Gedanke: Hatte ihre Schwester vielleicht vor runterzuspringen?
Kurze Zeit später würde sie denken, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie beide gesprungen wären. Ein oder zwei grauenhafte Sekunden und ein schmerzhafter Aufprall auf der Oberfläche wären nicht so schlimm gewesen. Vielleicht hätte das kühle, erstickende schwarze Wasser ihr Ende bedeutet, doch es hätte sie auch wieder nach oben und ans Ufer treiben können. Wären sie in diesem Moment gesprungen, hätten sie vielleicht beide überlebt.
»Ist das nicht toll?«, fragte sie, weil sie nämlich schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht hatte, dass sie manchmal durch gezielte Ablenkung voreilige Handlungen ihrer Schwester verhindern konnte. »Macht's dir Spaß? Ich fasse es nicht, dass wir das noch nie gemacht haben.«
Isabel lächelte, sagte jedoch nichts, weil eine Antwort überflüssig war. Sie war ganz offensichtlich hingerissen.
»Wunderschön, nicht wahr? Schau doch mal, die Farben.«
Immer noch keine Antwort, doch Jessica sah befriedigt, wie ihre Schwester den Kopf hob und strahlend auf die Bäume blickte, die bis dicht ans Ufer heranreichten. Wie Damen auf einem Ball rangelten sie um die besten Plätze; ihre wallenden Laubkleider reichten bis zum Boden und waren so miteinander verdrillt, dass es unmöglich war zu erkennen, wo eins aufhörte und ein anderes begann. Dahinter zogen sich, schimmernd wie Edelmetall, die Hügel endlos dahin.
»Jetzt sind wir über dem Harcourt Estate.« Seit dem Abflug war der Ballonführer der Einzige, der nicht im Flüsterton sprach. »Das ursprüngliche Herrenhaus befand sich auf dem Hügel direkt vor uns, es wurde aber Ende des 19. Jahrhunderts durch einen Brand zerstört.«
»Fliegen wir nicht zu tief?« Der ehemalige Journalist mit schütterem Haar und Bauch betrachtete stirnrunzelnd die schnell näherkommenden Bäume.
»Keine Sorge, Leute, ich mach das nicht zum ersten Mal.« Der weit über eins achtzig große Ballonführer kitzelte die Luft über dem Brenner mit einem kurzen Flammenstoß, und die, die ihm am nächsten standen, spürten den Schwall ofenheißer Luft auf dem Scheitel. »Hier fliege ich immer gern tief, in diesem Wald hat man nämlich fast die beste Chance, rote Eichhörnchen zu sehen. Und Fischadler, obwohl's dafür schon ein bisschen spät im Jahr ist.«
Es folgte hektisches Hantieren mit den Kameras, alle drängten sich zu der dem Wald zugewandten Korbseite. Keine der beiden Schwestern hatte eine Kamera dabei, daher waren sie die Ersten, die das verfallene obere Stockwerk des Hauses erblickten, das wie ein schlimm verfärbter Zahn aus dem Blätterdach auftauchte. Die schwarz gekleidete Schwester erschauderte.
»Dieses Haus stammt aus dem 16. Jahrhundert, es wurde zu Verteidigungszwecken erbaut«, sagte der Pilot, während der Ballon höher stieg, um den Baumwipfeln auszuweichen. »Damals hatte man von dort aus noch einen völlig freien Blick übers Land, fast achtzig Kilometer weit. Noch fünfzehn Minuten bis zur Landung, Leute.«
»Ist das einer? Ganz oben, da auf dem breiten Baum mit den gelben Blättern? Graubraunes Gefieder.« Einer der Wanderer zeigte nach hinten auf die Baumwipfel, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich von dem Haus ab.
»Könnte sein.« Der Ballonführer hob seinen Feldstecher und stand nun mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.
»Da unten ist jemand.«
»Wo? Im Wald?« Jessica folgte dem Blick ihrer Schwester, aber so gut wie Isabel hatte sie noch nie sehen können. Isabels Gehör war ebenfalls besser, und sie bemerkte auch Gerüche oder einen merkwürdigen Geschmack im Essen stets als Erste. Als wäre sie die sauberer und genauer Gearbeitete von beiden.
»Hinter dem Haus.«
Jessica stellte sich auf die Zehenspitzen. Über die Schulter ihrer Schwester hinweg konnte sie die großen, klaffenden Löcher im Dach und die baufälligen Mauern sehen.
»Ein Mädchen. Es rennt.«
Dicht genug, um winzige Mooskissen und geborstene Dachschindeln erkennen zu können, flog der Ballon über das Haus. Abgelenkt durch sein Bemühen, einen Fischadler auszumachen, hatte sie der Ballonpilot noch tiefer herabsinken lassen.
»Dort.«
Die dahinhuschende Gestalt - eine junge Frau, schlank und dunkelhaarig und in blauer Kleidung, die irgendwie fernöstlich wirkte - hatte die gegenüberliegende Gartenmauer erreicht.
»Was macht sie denn da?«
Hinter ihnen versuchten die anderen, Fotos von dem Fischadler zu machen, und der Journalist erteilte Ratschläge, wie man am besten Tiere in der Wildnis fotografierte. Nur die beiden Schwestern beobachteten die junge Frau unten am Boden. Rasch sah Jessica sich um, zögerte aber, ob sie die anderen darauf aufmerksam machen sollte oder nicht. Sie griff in ihre Jackentasche und fand ihr Handy.
Unten im Garten umrundete ein Mann langsam, aber zielstrebig eine Reihe Büsche. Von oben konnten die Schwestern lediglich erkennen, dass er klein und stämmig war. Er trug eine weite Lederjacke und einen dunklen Hut, ebenfalls aus Leder, einen Trilby mit schmaler Krempe. Ein weißes Hemd. Unter der Hutkrempe waren schwarze Locken zu sehen.
Neben ihm trottete ein großer Schäferhund.
»Oh!« Jessica drückte sich noch dichter an ihre Schwester. »Bella, halt still, lass mich kurz .«
Beim Anblick des Mannes duckte sich das Mädchen und verschränkte die Hände über dem Kopf.
»Was denn?«, fragte Isabel.
»Ich fasse es nicht! Das ist er.«
»Wer? Jess, kennst du den Mann?«
»Sean!« Jessica griff nach hinten, berührte den Ballonführer am Ärmel. »Das müssen Sie sehen.«
»Was ist los?« Er drehte sich zu ihnen um, und der Buchhalter folgte seinem Beispiel.
»Der hat ein Gewehr.« Der halbwüchsige Sohn des Buchhalters hatte das Paar am Boden erblickt und zeigte auf etwas in der linken Hand des Mannes, was anscheinend ein Gewehr oder eine Schrotflinte war. In der Rechten hielt er einen großen Stein.
»O mein Gott, tatsächlich«, stieß die Mutter des Teenagers hervor. »Was machen wir denn jetzt?«
Sie sprachen noch immer in schrillem Flüsterton.
Auch andere im Korb hatten das Interesse an dem Fischadler verloren, weitere Köpfe drehten sich zu ihnen herum. Das Mädchen unten auf dem Boden schaute auf, sah den Ballon und fing an zu schreien. Der Mann, der den Ballon und die Passagiere noch nicht bemerkt hatte, hob den Stein hoch über den Kopf. Das Mädchen drückte sich fest gegen den Erdboden. Der Mann ließ den Stein herabsausen.
Von dem Mädchen kam kein weiterer Schrei. Der unterdrückte Aufschrei, deutlich vernehmbar in der Morgenluft, stammte von jemandem im Ballonkorb. Es war das einzige...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.